Protokoll der Sitzung vom 25.01.2018

(Beifall bei der AfD)

Für die Landesregierung antwortet die Ministerin für Soziales, Gesundheit und Gleichstellung, Frau Dr. Reimann.

Frau Präsidentin! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Am 7. Oktober 2016 veröffentlichte die Fachzeitschrift Sozial.Geschichte Online die Ergebnisse einer Studie zu Arzneimittelstudien an Heimkindern in den 1950er- bis 1970er-Jahren. Das war eine Veröffentlichung im Rahmen einer pharmaziehistorischen Promotion. Der Titel lautet; „Ein unterdrücktes und verdrängtes Kapitel der Heimgeschichte“. Die Arbeit wurde von Frau Sylvia Wagner angefertigt. Daraus ging hervor, dass auch in Niedersachsen solche Arzneimittelstudien stattgefunden haben. Es sollen Impfstoffe und auch Psychopharmaka in Kinderheimen, einschließlich Säuglingsheimen, in Niedersachsen getestet worden sein.

Nachdem das niedersächsische Ministerium davon Kenntnis hatte, wurde mit der Autorin der Studie am 18. Oktober 2016 ein persönliches Gespräch geführt. Frau Wagner hat darin von Betroffenen berichtet, die angegeben hätten, dass sie häufig angehalten worden seien, Medikamente einzunehmen, ohne dass sie krank waren; zeitweise seien auch medizinische Untersuchungen wie Elektroenzephalografie - EEGs - oder auch Lumbalpunktionen durchgeführt worden. Folgende Ärzte aus Niedersachsen sollen an den Arzneimittelversuchen beteiligt gewesen sein: Herr Professor Dr. Joppich von der Universität Göttingen, mutmaßlich verantwortlich für Versuche mit Impfstoffen, und die Herren Professor Dr. Hans Heinze sen. von der Klinik Wunstorf und Dr. Hans Heinze jun., später Psychiatriereferent im MS Niedersachsen, mutmaßlich verantwortlich für Versuche mit Psychopharmaka.

Was haben wir getan? - Auf der Grundlage der Erkenntnisse aus dem Gespräch mit Frau Wagner und der veröffentlichten Studie, die ich gerade zitiert habe, entschied das MS, einen Forschungsauftrag zu weitergehenden Untersuchungen der Arzneimittelversuche an Heimkindern in Niedersachsen zu vergeben. Dafür stellte das Ministerium Haushaltsmittel in Höhe von 150 000 Euro zur Verfügung.

Der Forschungsauftrag „Medikamentenversuche an Kindern und Jugendlichen im Rahmen der Heimerziehung in Niedersachsen zwischen 1945 und 1976“ erging im August an das Institut für Geschichte der Medizin (IGM) der Robert Bosch Stiftung in Stuttgart.

Ziel des Forschungsprojektes ist es, Arzneimittel- und Impfstudien in Niedersachsen an Säuglingen, Kindern und Jugendlichen in der Heimunterbringung und in der Kinder- und Jugendpsychiatrie in der Nachkriegszeit wissenschaftlich zu untersuchen und aufarbeiten zu lassen. Die Studie wird auch die Zusammenarbeit der Ärztinnen und Ärzte mit der Pharmaindustrie beleuchten.

Ferner sind folgende Inhalte Gegenstand des Forschungsauftrags, die ich Ihnen gern vortragen möchte: Zum einen die Frage der Rolle des damaligen Sozialministeriums. Haben dort Erkenntnisse und Kenntnisse über die Arzneimittelstudien vorgelegen, und, wenn ja, hat das Sozialministerium damals in irgendeiner Form versucht, auf die Studien Einfluss zu nehmen?

In diesem Zusammenhang wird insbesondere geprüft, ob es damals durch handelnde Personen im Ministerium eine Mitverantwortung gab und welche Rolle dabei vor allem Herr Dr. Hans Heinze jun. hatte. Der war - wie ich gerade gesagt habe - Psychiatriereferent im Sozialministerium zwischen 1974 und 1989, nachdem er vorher in der Zeit von 1957 bis 1961 an der Universität Gießen und von 1961 bis 1974 in der Kinder- und Jugendpsychiatrieabteilung der Landesanstalt Wunstorf beschäftigt war.

Die Studie soll weiter die ethischen und medizinischen Standards sowie die rechtlichen Vorgaben für Arzneimittelstudien an Minderjährigen in dieser Zeit, also in den Jahren 1945 bis 1976, untersuchen sowie der Frage nachgehen, inwieweit gegen diese im Rahmen der Arzneimittelstudien verstoßen wurde.

Zum anderen soll das Ausmaß untersucht werden. Gab es weitere ähnliche Vorfälle auch in anderen Einrichtungen, und waren über die bekannten Personen hinaus weitere Ärztinnen und Ärzte bzw. Bedienstete des Landes daran beteiligt?

Die wissenschaftliche Aufarbeitung ist auch für die Betroffenen sehr wichtig, die als Kinder und Jugendliche Grausames erlebt und erlitten haben. Ihnen gegenüber sind wir verpflichtet, die damaligen Vorgänge transparent und vollständig aufzuklären. Das kann das Erlebte zwar nicht ungeschehen machen, aber zur Verarbeitung beitragen. Erste Ergebnisse in Form eines Zwischenberichts werden Mitte dieses Jahres vorliegen. Der Abschlussbericht ist Ende des Jahres 2018 vorzulegen.

(Beifall bei der SPD und bei der CDU)

Vielen Dank, Frau Dr. Reimann. - Zu einer ersten Zusatzfrage hat sich Frau Dr. Thela Wernstedt von der SPD-Fraktion gemeldet.

Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Ich frage die Landesregierung, warum das Institut der Robert Bosch Stiftung beauftragt worden ist, dieses Gutachten anzufertigen.

Frau Dr. Reimann!

Sehr geehrte Abgeordnete Wernstedt! Warum die Robert Bosch Stiftung? - Daran gab es ja Kritik. Deswegen möchte ich das ausführen. Erstens kam für die Auftragsvergabe nur ein Institut außerhalb Niedersachsens infrage. Die Robert Bosch Stiftung - das muss ich für alle diejenigen sagen, die sich mit diesem Institut noch nicht auseinandergesetzt haben - ist in Stuttgart angesiedelt.

Zweitens war das Sozialministerium zum einen Träger des Landeskrankenhauses Wunstorf und zum anderen oberste Dienstbehörde des genannten Mitarbeiters Heinze. Deshalb war es uns wichtig, dass das Institut nicht in Niedersachsen angesiedelt ist. Auf diese Weise kann eine vermeintliche Nähe gar nicht erst aufkommen.

Des Weiteren sind diese Impfstudien aller Wahrscheinlichkeit nach mit Universitätsklinika im Verbund durchgeführt worden, sodass wir auch vor diesem Hintergrund ein außeruniversitäres Forschungsinstitut für deutlich unbefangener und angezeigt hielten.

Der dritte Aspekt betrifft die Pharmaindustrie. Ich habe gesagt, dass auch das untersucht werden soll. Das Gleiche gilt für die mögliche Nähe zur Pharmaindustrie. Das IGM kann nach unseren Recherchen gewährleisten, keine Drittmittel aus diesem Bereich zu beziehen bzw. anzunehmen.

(Beifall bei der SPD und bei den GRÜNEN)

Vielen Dank. - Für die SPD-Fraktion hat sich der Kollege Oliver Lottke gemeldet.

Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Frau Ministerin, eine Frage: Wir haben bei diesem Fall ein gesteigertes öffentliches Interesse. Deswegen würde ich mich freuen, wenn Sie meine Frage beantworten könnten: Wie soll die Studie nach ihrer Fertigstellung der breiten Öffentlichkeit vorgelegt werden? Haben Sie dafür schon Ideen und Anregungen?

Danke schön.

(Beifall bei der SPD)

Vielen Dank. - Es antwortet Ministerin Dr. Reimann.

Ich habe ja gesagt: Wir erwarten die Ergebnisse der Studie Ende dieses Jahres. Wir denken daran, eine Tagung mit Experten, mit denen, die die Arbeit gemacht haben, und auch mit den Betroffenen durchzuführen. Auf jeden Fall werden wir die Ergebnisse transparent und öffentlich machen. Wir werden dann auch noch besprechen, wie man mit diesen Ergebnissen angemessen umgehen muss.

(Zustimmung bei der SPD)

Herzlichen Dank. - Für die AfD-Fraktion hat nun Herr Lilienthal das Wort.

Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Sehr geehrte Frau Ministerin, wie gedenkt die Landesregierung mit möglichen Opfern oder Geschädigten dieser Versuche umzugehen?

Frau Ministerin möchte antworten.

Ich möchte jetzt sagen, an wen sich die Betroffenen wenden können; denn bei vielen wird das ja wieder alte Wunden aufreißen. - Der Bund, die Länder und die Kirchen haben schon 2016 die Errichtung einer Stiftung Anerkennung und Hilfe beschlossen. Bei dieser Stiftung handelt es sich um ein Hilfesystem für Menschen, die als Kinder und Jugendliche in der Zeit von 1949 bis 1975 in der Bundesrepublik und in der Zeit von 1949 bis 1990 in der ehemaligen DDR in stationären Einrichtungen der Behindertenhilfe oder in der Psychiatrie Leid und Unrecht erfahren haben.

Hintergrund dieser Stiftung ist, dass viele Menschen, die als Kinder und Jugendliche in solchen Einrichtungen leben mussten, noch heute an den Folgen dieser ungerechtfertigten Zwangsmaßnahmen, Strafen und Demütigungen und auch unter finanziellen Einbußen leiden. Zu diesen Leid- und

Unrechtserfahrungen können auch Medikamentenversuche gehören.

Für die Betroffenen mit Wohnsitz in Niedersachsen befinden sich Anlauf- und Beratungsstellen beim Niedersächsischen Landesamt für Soziales, Jugend und Familie. Dieses Landesamt verfügt über drei Außenstellen, nämlich erstens hier in Hannover am Schiffgraben, zweitens in Braunschweig in der Schillstraße und drittens in Oldenburg am Pferdemarkt. Dort kann man sich Hilfe und Unterstützung holen.

Diese Stellen unterstützen bei der Aufarbeitung der Erlebnisse und auch bei der Anmeldung zur Stiftung. Unter bestimmten Voraussetzungen können betroffene Menschen von der Stiftung pauschale Geldbeträge erhalten. Sollte - auch solche Fälle gibt es - in einem gewissen Umfang gearbeitet worden sein, ohne dass dafür Sozialversicherungsbeiträge abgeführt worden sind, dann könnten sich auch Rentenersatzleistungen ergeben. Das möchte ich auch in diesem Kontext sagen.

Die Stiftung hat ihre Arbeit im Januar 2017 aufgenommen. Die Anmeldefrist endet nach drei Jahren. Zurzeit kann man sich aber bei diesen drei Stellen Hilfe und Unterstützung holen.

(Beifall bei der SPD und bei den GRÜNEN)

Herzlichen Dank. - Eine weitere Frage stellt jetzt Herr Stefan Wirtz für die AfD.

Sehr geehrte Frau Präsidentin! Verehrte Damen und Herren! Sehr geehrte Frau Ministerin, Sie haben hier ja schon die Namen der an diesen Kinderversuchen beteiligten Mediziner genannt. Wir möchten wissen, welche Pharmaunternehmen - das sollte anhand der eingesetzten Medikamente feststellbar sein - in diese Versuche involviert waren.

Die Ministerin antwortet.

Die Frage, welche Pharmaunternehmen betroffen oder involviert sind, wird Gegenstand der Untersuchungen sein. Wenn Sie in die Doktorarbeit hineinschauen, werden Sie feststellen, dass dort ein

paar Unternehmen genannt werden. Das waren im Bereich der Impfstoffe die Behringwerke. Auch hinsichtlich der Psychopharmaka werden in der Doktorarbeit Unternehmen genannt. Das zu vertiefen und im Detail zu klären, wird Gegenstand der Untersuchungen und der Studie sein.

(Beifall bei der SPD und bei der CDU)

Eine weitere Frage stellt jetzt für die AfD-Fraktion der Abgeordnete Stephan Bothe.

Danke, Frau Präsidentin. - Sehr geehrte Frau Ministerin, ich frage die Landesregierung erstens: Sind der Landesregierung alle 286 Opfer namentlich bekannt?

Zweitens: Wie stehen Sie zu Entschädigungszahlungen des Landes Niedersachsen an die Opfer dieser medizinischen Versuche, anstatt nur etwas über eine Stiftung zu machen?

Herr Kollege, das waren zwei Fragen. Wir machen es demnächst aber richtig. - Die Frau Ministerin antwortet.

Uns ist nicht bekannt, wer im Einzelnen betroffen war. Ich will auch die Zahlen nicht bestätigen, weil die Untersuchungen erst noch durchgeführt werden. Wir setzen deshalb auf die Untersuchungen. Wir haben keinerlei Daten von den betroffenen Personen.

Mögliche Entschädigungen werden wir dann, wenn die Untersuchungsergebnisse vorliegen, eingehend prüfen und besprechen.