Protokoll der Sitzung vom 12.05.2020

(Julia Willie Hamburg [GRÜNE]: Ihre Kaufanreize, nicht jegliche Kaufanrei- ze, Herr Weil!)

- Fühlen Sie sich angesprochen, Frau Hamburg? Das freut mich.

(Julia Willie Hamburg [GRÜNE]: Nein! - Heiterkeit - Helge Limburg [GRÜNE]: Das hätten Sie ruhig auch mal na- mentlich machen können, Herr Minis- terpräsident! - Beifall bei der SPD)

Diejenigen, die Kaufanreize mit starken Worten ablehnen, möchte ich daran erinnern, dass sich wegen der Flaute auf diesem Markt Hunderttausende von Menschen ganz konkret bei uns in Niedersachsen Sorgen um ihre Arbeitsplätze machen, und wir sollten diese Menschen nicht im Stich lassen, liebe Kolleginnen und Kollegen.

(Beifall bei der SPD und bei der CDU)

Um uns recht zu verstehen: Ich rede hier nicht in erster Linie über Volkswagen, sehr wohl aber über die vielen, vielen kleinen und mittleren Zulieferunternehmen. Ich bin sehr dafür, Kaufanreize und Klimaschutz von Anfang an in einem Konzept gemeinsam zu denken.

(Julia Willie Hamburg [GRÜNE]: Das tun Sie ja nicht!)

Aber ich wende mich strikt dagegen, die niedersächsische Leitindustrie in dieser schwierigen Situation alleinzulassen.

(Beifall bei der SPD und bei der CDU - Julia Willie Hamburg [GRÜNE]: Herr Weil, keiner will das!)

- Liebe Frau Hamburg, Sie können ja nachher erklären, dass Sie mir voll zustimmen. Das muss jetzt nicht zwischendurch der Fall sein.

(Helge Limburg [GRÜNE]: Davon träumen Sie, Herr Ministerpräsident!)

Liebe Kolleginnen und Kollegen, wir dürfen die Situation auf dem Arbeitsmarkt nicht unterschätzen. In den vergangenen Jahren haben wir uns daran gewöhnt, dass langsam aber sicher die Arbeitslosenzahlen immer weiter zurückgegangen sind. Arbeitslosigkeit schien als das größte gesellschaftliche Problem ausgedient zu haben. Das könnte sich unter dem Druck der Verhältnisse sehr schnell wieder ändern. Für etwa eine Million Arbeitnehmer in Niedersachsen ist derzeit Kurzarbeit angezeigt worden.

Meine Damen und Herren, die Sicherung von Arbeitsplätzen muss für uns eine Aufgabe von allergrößter Bedeutung sein. Das gilt in den nächsten Monaten, aber auch weit darüber hinaus. Experten schätzen, dass erst in drei bis vier Jahren wirtschaftlich das Niveau des Jahres 2019 wieder erreicht sein wird.

Damit, liebe Kolleginnen und Kollegen, bin ich bei den öffentlichen Finanzen angelangt. Am Freitag sind die Ergebnisse der aktuellen Steuerschätzung zu erwarten. Das wird kein guter Tag werden -

nicht für Finanzminister Reinhold Hilbers, nicht für die Bürgermeisterinnen und Bürgermeister, nicht für die Landrätinnen und Landräte, nicht für unsere Gesellschaft insgesamt. Wir erwarten kräftige Steuerausfälle. Sie sind nun einmal die zwangsläufige Folge einer Corona-bedingten Wirtschaftskrise.

Als Land werden wir diese Einnahmeausfälle zu bewältigen haben. Aber das ist es nicht allein. Gewissermaßen täglich melden sich gesellschaftliche Bereiche, die mit guten Gründen und dringlich um Unterstützung bitten. Das Spektrum reicht von den Kommunen über den Sport und die Kultur bis zu den sozialen Diensten und einem Bonus für die Beschäftigten im Pflegebereich, auf denen jetzt bereits seit Monaten eine ganz besondere Verantwortung lastet. Diese Liste ließe sich beliebig fortführen.

Liebe Kolleginnen und Kollegen, wir werden sehr sorgfältig prüfen, ob und wo und in welchem Umfang es möglich sein wird, auf diese Wünsche einzugehen. Ich muss allerdings von Anfang an auch darauf aufmerksam machen, dass unsere Möglichkeiten unter den geschilderten Bedingungen limitiert sind.

Und dann richtet sich der Blick in die Zukunft. Über die aktuelle Sicherstellung von Strukturen und die Rettung von Unternehmen hinaus muss es auch darum gehen, die Gesamtwirtschaft wieder anzukurbeln. Auf der Bundesebene gibt es diese Diskussionen, und wir sind gut beraten, von Anfang an auch als Land unsere Beiträge für eine solche Kraftanstrengung sehr genau zu prüfen. Wir schützen damit nicht nur Unternehmen und Arbeitsplätze, sondern am Ende vor allem auch den Zusammenhalt in der Gesellschaft. Wir schützen damit übrigens zugleich auch künftige Steuereinnahmen; denn Unternehmen, die ein für alle Mal die Bücher schließen, werden nie wieder Gehälter, Sozialversicherungsbeiträge und Steuern zahlen können.

Vor diesem Hintergrund wollen wir Ihnen im nächsten Plenum - im Juni - den Entwurf eines zweiten Nachtragshaushaltsplans für das Jahr 2020 zur Entscheidung vorlegen. Wenn Sie berücksichtigen, was ich zur Ausgangslage gesagt habe, verspricht das eine schwierige, aber auch sehr wichtige Diskussion zu werden, die uns allen viel abverlangen wird. Ich bin gespannt auf die Beratung, aber auch zuversichtlich. Die niedersächsische Landespolitik hat sich in den letzten Monaten als sehr handlungsfähig erwiesen. Das wollen und das müssen

wir gerade auch in der nächsten Zeit bleiben, liebe Kolleginnen und Kollegen.

(Beifall bei der SPD und bei der CDU)

Hinter uns liegt eine große Herausforderung, die wir bis jetzt bemerkenswert gut gelöst haben. Vor uns liegt eine nicht weniger anspruchsvolle Etappe, die uns sehr viel abverlangen wird - in der Politik, aber auch in der gesamten Gesellschaft.

Ich sagte schon, ich bin sehr dankbar für das Engagement, das uns bis hierhin gebracht hat. Genau darum wird es auch in den nächsten Monaten gehen. Liebe Kolleginnen und Kollegen, vor uns liegt kein Sprint, vor uns liegt ein Dauerlauf. Das ist aber nichts, wovor wir uns fürchten müssen, wenn wir es richtig machen, wenn wir unsere Gesellschaft zusammenhalten, wenn wir uns gegenseitig unterstützen, wenn wir uns nicht gegenseitig überfordern, sondern wir alle unsere Beiträge leisten, so gut uns das eben möglich ist.

Unser Ziel als Landesregierung und als Landespolitik insgesamt muss genau das tun: Orientierung geben und die ganze Gesellschaft zusammenhalten. - Bis hierhin ist uns das gelungen, und ich bin zuversichtlich, dass uns das auch weiter gelingen wird. Bis hierhin haben wir gemeinsam eine ungeheuer schwierige Bewährungsprobe gemeistert. Lassen Sie uns jetzt auch gemeinsam an die nächste Etappe gehen, und arbeiten wir unter den Bedingungen von Corona gemeinsam an einem neuen Alltag für uns in Niedersachsen.

Herzlichen Dank für Ihre Aufmerksamkeit.

(Starker Beifall bei der SPD und bei der CDU sowie Zustimmung von Jo- chen Beekhuis [fraktionslos])

Vielen Dank, Herr Ministerpräsident, für die Abgabe der Regierungserklärung.

Ich stelle fest, sie hat 31 Minuten gedauert. Das Prozedere der Redezeitverteilung kennen Sie. Die Fraktionen von SPD und CDU erhalten jeweils die gleiche Redezeit, die kleineren Fraktionen je 21 Minuten.

Ich erteile nun der Fraktionsvorsitzenden Frau Hamburg, Fraktion Bündnis 90/Die Grünen, das Wort. Bitte, Frau Kollegin!

(Zwei Mitarbeiter der Landtagsverwal- tung desinfizieren das Redepult)

Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Nun reden wir heute also über den sogenannten Niedersachsen-Plan. Und man muss ja festhalten: Wir sind damit schon einmal weiter als vorher. Wir reden wenigstens endlich über einen Plan. Ich muss auch sagen, Ihre abwägenden Worte treffen sicherlich die Herausforderungen der Zeit. Denn wir befinden uns in einem Spagat zwischen den Bedürfnissen nach Lockerung und den Bedürfnissen des Infektionsschutzes, zwischen den Bedürfnissen nach Entlastung und wirtschaftlicher Sicherheit und dem Bedürfnis, Todesfälle durch dieses schlimme Virus zu vermeiden.

Vor dem Hintergrund dieser schwierigen Debatte frage ich Sie: Warum beteiligen Sie bei solchen Plänen nicht das Parlament? Gehören solche schweren Eingriffe, die Debatten, nicht genau hier in den Raum der gewählten Vertreterinnen und Vertreter des Volkes?

(Beifall bei den GRÜNEN und bei der FDP)

Warum beteiligen Sie nicht etwa die Initiative der Kirche, den Ethikrat oder einen gesellschaftlichen Beirat? Wo werden diese Stimmen gehört? Wo stellen Sie diesen Plan auf und mit wem?

Es ist auch nicht klar, wer eigentlich diese Kriterien festgelegt hat. Warum, Herr Ministerpräsident, sind Saunen von gleicher gesellschaftlicher Relevanz, wie es Kultureinrichtungen sind? Das will sich mir schlichtweg nicht erschließen. Wer hat das entschieden? Volkswirte? Virologen? Oder war das nach dem Ermessen der jeweils zuständigen Minister? Wie wurden diese Kriterien gefasst? - Mir ist es nicht klar.

Und dann können wir sehen, dass die weiteren Öffnungsschritte, die folgen werden - das haben Sie selbst ausgeführt -, relativ große Schritte sind, bei denen wir wahrscheinlich nur sehr schwer nachvollziehen können, welche Auswirkungen sie am Ende haben werden.

Sie sagen, Sie wollten nicht deutscher Lockerungsmeister werden, und doch waren Sie der erste, der mit einem Plan aus dem bundesweiten Kanon ausgestiegen ist und weitreichende Lockerungen - mittelfristig heißt bei Ihnen ja „schon Anfang Juni“ - angekündigt hat, Herr Ministerpräsident. Ich möchte Sie hier deutlich bitten: Wählen Sie die Schritte behutsam! Wenn selbst ein Virologe wie Kekulé, der gesagt hat, er möchte eigentlich auch lockern, jetzt sagt, ihm werde angst und

bange, dann sollten wir das bei jeder Überlegung über weitere Lockerungen, die wir tätigen, mitführen.

(Beifall bei den GRÜNEN)

Gleichzeitig wissen wir, dass die Kommunen jetzt schon extrem belastet sind. Wie sollen die Gesundheitsämter und die Ordnungsämter all die Unternehmen, all die Geschäfte, all die Gaststätten, all die Schulen, Kitas, Spielplätze im Blick behalten, ohne dass sie mehr finanzielle Unterstützung, Entlastung und Personal erhalten? - Herr Ministerpräsident, da werden die Kommunen irgendwann an Grenzen stoßen. Das müssen wir als Landespolitik mit im Blick haben.

Und ich möchte Ihnen noch etwas deutlich sagen. Für Sie ist ja immer die Frage der Beatmungskapazitäten das Maß der Dinge für Lockerungen. Weiten Sie hier Ihren Blick! Denn wann immer wir die Beatmungskapazitäten auslasten, heißt das am Ende auch, dass mehr Menschen an diesem Virus sterben werden. Das heißt, die Frage von Infektionsvermeidung muss weiter das A und O sein, und wir müssen einen zweiten Shutdown vermeiden. Denn sonst geht es auf die Akzeptanz, liebe Kolleginnen und Kollegen.

(Beifall bei den GRÜNEN)

Es ist doch gut, wenn der Ministerpräsident und ich manchmal die gleichen Dinge sagen. Das schadet am Ende gar nicht.

(Heiterkeit - Beifall bei den GRÜNEN)

Aber immerhin gibt es einen Plan, und über den können wir jetzt streiten.

Unserer Meinung nach hat dieser Plan allerdings drei Webfehler, und der erste ist relevant. Ihr Plan verpasst nämlich komplett die Chance, eine wirklich neue Realität zu schaffen, wirklich neue krisenfeste Wege zu gehen. Sie diskutieren in Ihrem Plan über Lockerungen und über Öffnungen, aber ich frage Sie deutlich: Wo sind die Förderlinien für Innovation? Wo sind die Förderlinien für Digitalisierung von Unternehmen, Geschäften, sozialen Einrichtungen? - Damit könnten wir so viel Kontaktvermeidung organisieren und zusätzlich auch noch gewährleisten, dass bei einem zweiten Shutdown nicht wieder alles runterfahren muss, sondern in einem Behelfsmodus weiterlaufen kann. Darüber müssen wir doch reden! Wir sind es doch auch dem Handel, den Unternehmen und den sozialen Einrichtungen schuldig, dass sie eine krisenfeste

Perspektive haben und nicht nur eine Perspektive auf Zeit, liebe Kolleginnen und Kollegen.

(Beifall bei den GRÜNEN)

Dass Öffnungsdebatten nicht unproblematisch sind, kann man vielleicht an der Bundesliga sehen. Sie als Ministerpräsidenten und Ministerpräsidentinnen haben gesagt, das sei ein gutes Konzept, und wir könnten jetzt starten. 14 Tage Quarantäne konnten gar nicht eingehalten werden, weil diese Woche schon alles wieder beginnen sollte. Und nachdem das Spiel Hannover - Dresden damals im März ausgefallen ist, weil Hannover unter Quarantäne stand, fällt es dieses Mal aus, weil Dresden unter Quarantäne steht. Und damit steht die Bundesliga, bevor sie überhaupt wieder begonnen hat, schon wieder am Ende der Öffnungsdebatten. Liebe Kolleginnen und Kollegen, genau so sollte es eben nicht laufen. Wir verwenden Testkapazitäten für die Bundesliga, und in Pflegeeinrichtungen testen wir immer noch nicht? - Das kann es doch nicht sein, liebe Kolleginnen und Kollegen. Das versteht am Ende kein Mensch.

(Beifall bei den GRÜNEN)

Der zweite Webfehler ist unserer Meinung nach die Frage der Sozialpolitik. Sie reden hier immer von sozialem Zusammenhalt, aber in Ihrem Niedersachsen-Plan kommen die sozialen Einrichtungen, die Jugendarbeit, die Frage der Behindertenwerkstätten überhaupt nicht vor, Herr Ministerpräsident. Sie haben zwar gerade gesagt, Sie arbeiten bereits an Konzepten. Aber ganz ehrlich: Der Fokus auf die soziale Frage, auf die Sozialpolitik findet bei Ihnen nicht statt.