Protokoll der Sitzung vom 30.06.2020

Frau Dr. Sassenberg-Walter, ich darf Sie nun bitten, den Eid zu sprechen.

Dr. Ulrike Sassenberg-Walter:

Ich schwöre, das Richteramt getreu dem Grundgesetz der Bundesrepublik Deutschland, getreu der Verfassung des Landes Niedersachsen und getreu dem Gesetz auszuüben, nach bestem Wissen und Gewissen ohne Ansehen der Person zu urteilen und nur der Wahrheit und Gerechtigkeit zu dienen. So wahr mir Gott helfe.

Vielen Dank, Frau Dr. Sassenberg-Walter. Noch einmal alles Gute für das Amt, und viel Fortune bei dessen Wahrnehmung!

(Beifall)

Etwas Zeit für die Glückwünsche sollte schon sein. - Vielen Dank.

Ich rufe jetzt auf den

Tagesordnungspunkt 8: Erste Beratung: Entwurf eines Gesetzes zur Ergänzung des Europabezuges in der Landesverfassung - Gesetzentwurf der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen - Drs. 18/6816

Zur Einbringung erteile ich das Wort Herrn Abgeordneten Dragos Pancescu. Bitte, Herr Kollege!

Sehr geehrte Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Zur Rolle Niedersachsens in Europa findet sich bisher in der Verfassung Niedersachsens lediglich in Artikel 1 Abs. 2 die Feststellung:

„Das Land Niedersachsen ist ein freiheitlicher, republikanischer, demokratischer, sozialer und dem Schutz der natürlichen Lebensgrundlagen verpflichteter Rechtsstaat in der Bundesrepublik Deutschland und Teil der europäischen Völkergemeinschaft.“

Wir, liebe Kolleginnen und Kollegen, finden: Das ist zu wenig, um der Bedeutung Europas gerecht zu werden.

(Beifall bei den GRÜNEN)

Niedersachsens Rolle in der europäischen Gemeinschaft wird damit nicht hinreichend beschrieben. Gerade in diesen Zeiten, in denen der europäische Zusammenhalt zu wünschen übrig lässt und die Bedeutung der EU für den Frieden, die Sicherheit, das Funktionieren des politischen und sozialen Systems sowie für die Kooperation zwischen den Mitgliedstaaten und auch der europäischen Regionen untereinander vielen nicht mehr bewusst ist oder als selbstverständlich angesehen wird, halten wir eine diesbezügliche Klarstellung mit Verfassungsrang für angezeigt.

Anschließend an den oben zitierten Satz aus Artikel 1 der Verfassung soll deshalb der folgende Passus ergänzt werden:

„Niedersachsen trägt zur Verwirklichung und Entwicklung eines geeinten Europas bei, das demokratischen, rechtsstaatlichen, sozialen und föderativen Grundsätzen sowie dem Grundsatz der Subsidiarität verpflichtet ist, die Eigenständigkeit der Regionen wahrt und deren Mitwirkung an europäischen Entscheidungen sichert. Das Land arbeitet mit anderen europäischen Regionen zusammen und unterstützt die grenzüberschreitende Kooperation.“

(Beifall bei den GRÜNEN)

Sehr geehrte Damen und Herren, damit würde unsere Landesverfassung endlich den Schritt nachvollziehen, den das Grundgesetz bereits 1992 gemacht hat, als in Artikel 23 die Länder in das europäische Mehrebenensystem eingeordnet wurden und ihre Mitwirkung in europäischen Angelegenheiten postuliert wurde.

Die Niedersächsische Verfassung berücksichtigt bislang weder die Stellung unseres Landes als solches in der europäischen Integration noch seine Mitwirkung über den Bundesrat in Angelegenheiten der EU, noch die grenzüberschreitende Zusammenarbeit oder die niedersächsische Rolle im Ausschuss der Regionen der Europäischen Union.

Niedersachsen steht damit hinter dem Großteil der Bundesländer zurück, die ein Bekenntnis zur europäischen Integration in ihre Landesverfassung aufgenommen haben. Dabei profitiert Niedersachsen als Ost-West-Transitland und als Nachbar der Niederlande nicht nur vom europäischen Binnenmarkt und den europäischen Grundfreiheiten, sondern auch von den Chancen, die offene Grenzen und wechselseitiger Austausch jedem einzelnen für seine persönliche Entwicklung bieten.

Unsere Ergänzung spiegelt die unterschiedlichen Dimensionen des geeinten Europa wider, die einerseits von supranationalen und multilateralen Institutionen und andererseits von bilateralen Kooperationen auf staatlicher und zivilgesellschaftlicher Ebene gebildet werden. Dabei geht es gar nicht nur um die EU, sondern auch um weitere europäische Institutionen wie etwa den Europarat. Wir sprechen deshalb vom „geeinten Europa“ statt nur von der EU.

(Beifall bei den GRÜNEN)

Sehr geehrte Kolleginnen und Kollegen, wir wollen, dass Niedersachsen eine aktive Rolle in Europa einnimmt und aktiv an der Verwirklichung und Entwicklung Europas mitwirkt. Dabei meinen wir nicht nur eine ideelle Unterstützung, sondern einen tatsächlichen Beitrag zum Funktionieren Europas. Dieser besteht in der Umsetzung europäischen Rechts sowie in der politischen Mitwirkung an Entscheidungen der Europäischen Union und anderer europäischer Institutionen. Hinzu kommt der Beitrag zur laufenden Anpassung der europäischen Integration an die jeweils aktuellen Bedürfnisse. So halten wir Europa zukunftsfähig.

(Beifall bei den GRÜNEN)

Für die Zukunft gilt es auch, die grundlegenden europäischen Strukturprinzipien zu sichern: die Demokratie, die Rechtsstaatlichkeit, das Sozialstaatsprinzip, den Föderalismus, das Subsidiaritätsprinzip sowie die Eigenständigkeit der Regionen bei deren Mitwirkung an europäischen Entscheidungen.

Sehr geehrte Kolleginnen und Kollegen, schließlich soll die bilaterale Seite der europäischen Integration betont werden. Ich zitiere:

„Das Land arbeitet mit anderen europäischen Regionen zusammen und unterstützt die grenzüberschreitende Kooperation.“

Mit diesem Satz, liebe Kolleginnen und Kollegen, betonen wir insbesondere die Nachbarschaft zu den Niederlanden und die seit Langem erfolgreiche Zusammenarbeit mit ihnen. Aber auch andere Staaten können davon erfasst sein, selbst wenn sie nicht zur EU gehören, beispielsweise jetzt traurigerweise auch Großbritannien.

Hier ist auch der Hinweis angebracht, liebe Kolleginnen und Kollegen, dass es dabei nicht nur um die staatliche Seite geht, sondern auch um die kommunale Ebene - Stichwort „Euregio“. Auch die zivilgesellschaftliche Kooperation ist gemeint, die der Staat unterstützen kann und ohne verfassungsrechtliche Rechtfertigung nicht verhindert werden darf.

Wir würden uns freuen, wenn unsere Initiative in der Beratung die Zustimmung Ihrer Fraktionen fände und so ein Zeichen für die Stärkung Europas und eine aktive Rolle Niedersachsens darin gesetzt würde.

Herzlichen Dank für Ihre Aufmerksamkeit.

(Beifall bei den GRÜNEN)

Vielen Dank, Herr Kollege. - Es folgt nun für die SPD-Fraktion Frau Abgeordnete Schröder-Ehlers. Bitte, Frau Kollegin! Sie haben das Wort.

Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Morgen übernimmt Deutschland erneut die EURatspräsidentschaft. Die zentrale Herausforderung der nächsten sechs Monate wird für Europa die Bewältigung der ökonomischen und der sozialen Folgen der COVID-19-Pandemie sein.

Diese Krise ist zweifellos die größte Krise seit Gründung der Europäischen Gemeinschaft, und sie darf nicht zu einer Krise der Europäischen Union werden. Die Aufgabe ist also groß, das Virus muss eingedämmt, die europäische Wirtschaft wiederaufgebaut und der soziale Zusammenhalt in Europa gestärkt werden. Dafür setzen wir auf gemeinsames, abgestimmtes Handeln, europäische Solidarität und gemeinsame Werte.

Deutschland will auch die großen Transformationsprozesse unserer Zeit wie den Klimawandel und die Digitalisierung in den Blick nehmen, und das ist sehr gut. Noch nie war die europäische Gemeinschaft so wichtig wie heute, und noch nie war sie so gefährdet. Alle EU-Länder sind von der Krise betroffen, aber die wirtschaftlichen Anspannungen sind aufgrund der höchst unterschiedlichen Ausgangssituationen extrem hoch.

Es bedarf einer großen gemeinsamen Anstrengung, um die europäische Gemeinschaft als Ganzes aus dieser Krise herauszuführen. Die EU-Kommission - dies ist ja mit Deutschland eng abgestimmt - will von der Corona-Krise besonders betroffene Mitgliedstaaten mit 750 Milliarden Euro unterstützen.

Das jüngste Politbarometer signalisiert dafür eine breite Unterstützung auch in der deutschen Bevölkerung. Ein solches Paket würden 63 % befürworten. Damit ist zumindest für zwei Drittel der Bevölkerung klar, dass Europa an einer Wegscheide steht. Viele Menschen sind offenbar aus ihrer EUMüdigkeit aufgewacht und spüren, dass die europäische Idee nicht nur für Festtagsreden gut ist, sondern auch in ihrem Alltagsleben eine sehr große Rolle spielt.

Meine Damen und Herren, das ist ein gutes Zeichen für Europa, und daher ist es auch gut, dass wir heute hier über die Frage diskutieren, welche Rolle die EU in unserer Niedersächsischen Verfassung spielen soll.

Auch jetzt gibt es in Artikel 1 Abs. 2 unserer Verfassung schon den Bezug auf Europa. Der Kollege hat ihn dankenswerterweise gerade zitiert. Aber richtig ist auch, dass es Landesverfassungen gibt, die diesen Bezug viel stärker herausstellen. Die jetzt vorgeschlagene Ergänzung des Artikels 1 Abs. 2 um den Satz 2 findet sich schon wortgleich in der bayerischen Verfassung, der saarländischen Verfassung oder in Artikel 74 a der Verfassung von Rheinland-Pfalz. Auch Nordrhein-Westfalen hat gerade vor ein paar Tagen seine Verfassung geändert und den erweiterten Europabezug aufgenommen. Das sind gute und klare Bekenntnisse für Europa.

(Zustimmung bei der SPD und bei den GRÜNEN)

Meine Damen und Herren, bei der rechtlichen Bewertung muss man aber sehen, dass alle Bundesländer natürlich an Artikel 23 Abs. 1 des Grundge

setzes gebunden sind und damit der Spielraum für eigene Regelungen relativ klein ist.

Bei dem vorgeschlagenen Satz 2 - also der Formulierung aus der bayerischen Verfassung - handelt es sich darüber hinaus ja um eine reine Staatszielbestimmung, die weitgehend nur klarstellende Bedeutung hat.

Rechtlich bedeutsamer wäre der vorgeschlagene Satz 3, also der Satz:

„Das Land arbeitet mit anderen europäischen Regionen zusammen und unterstützt die grenzüberschreitende Kooperation.“

Hier würde eine verbindliche Handlungsanweisung an das Land gegeben. Es wird im weiteren Verfahren zu diskutieren und zu prüfen sein, ob sich dieser Satz tatsächlich noch in dem vorgegebenen Rahmen bewegt.

So weit, so gut.

Schaut man sich die anderen Landesverfassungen aber genauer an, wird man feststellen, dass der Vorschlag der Grünen halbherzig ist. Andere Bundesländer haben es nicht bei den im Antrag vorgeschlagenen Schritten belassen, sondern auch die Mitspracherechte der Landtage in Bezug auf Europa geregelt.

So wird in Artikel 34 a der Verfassung des Landes Baden-Württemberg das Verfahren zur Unterrichtung des Landtages über Vorhaben der Europäischen Union beschrieben. Ähnliches findet sich in der bayerischen Verfassung und in der Verfassung des Saarlandes. Bei uns finden sich Regelungen in Artikel 25 der Niedersächsischen Verfassung, aber sehr versteckt.

Letztlich gilt das, was man bei einer Verfassungsänderung immer bedenken sollte: Wenn man solch ein Thema angeht, muss man es umfassend betrachten, eine Gesamtkonzeption haben und eine umfassende Diskussion zu den unterschiedlichsten Aspekten führen.