Protokoll der Sitzung vom 14.09.2020

Am Ende werden wir also genau dahin kommen, wo wir jetzt schon sind, nur dass der Gesetzgeber den Maßstab jetzt definiert hat und der Behörde künftig sagt: Überleg dir mal was! Mach mal eine Einzelfallbetrachtung oder sonst was. - Und die G 10-Kommission darf sich das dann irgendwie selbst erarbeiten, ohne dass sich der Gesetzgeber

die Mühe gemacht hat, die Voraussetzung zu definieren.

Ich weiß nicht, ob das wirklich ein kluger Weg ist. Ich denke, der Gesetzgeber sollte da seiner Verpflichtung nachkommen, diese Konkretisierung selbst vornehmen und das nicht verlagern. Aber darüber wird man zu sprechen haben. Ich glaube, im Ergebnis wird dabei gar nicht viel anderes herauskommen als das, was in der bisherigen Praxis geschieht und als Erfahrungen gesammelt wurde.

Der Gesetzgeber hatte ja übrigens den zugegebenermaßen offenen Begriff der „erheblichen Bedeutung“ hinzugefügt, um diese Spielräume zu öffnen, gleichzeitig aber einen gewissen Rahmen vorzugeben. Das will man streichen. Das erschließt sich mir nicht ganz. Mir erschließt sich nicht, wo der Mehrwert ist, es sei denn, er ist politischer Natur, weil V-Leute jetzt leichter einsetzbar sind - obwohl das im Ergebnis gar nicht zutrifft. Aber dann, denke ich, täuscht man eher.

Zumal mir der Bedarf für diese Regelung nicht ganz klar ist. Mir ist kein Fall bekannt, wo das problematisch geworden wäre.

(Helge Limburg [GRÜNE]: Guter Punkt!)

Warum macht man das eigentlich jetzt? Es hat nichts mit der Stärkung der Handlungsfähigkeit des Verfassungsschutzes zu tun;

(Helge Limburg [GRÜNE]: Richtig!)

denn mein Eindruck ist - und ich erwarte, dass der Minister es uns längst mitgeteilt hätte, wenn es anders gewesen wäre -, dass der Verfassungsschutz diese Instrumente effektiv einsetzen kann, die der Gesetzgeber zur Verfügung gestellt hat. Insofern frage ich mich, was das eigentlich alles soll und ob es nicht nur politisches Blendwerk ist.

Der zweite inhaltliche Punkt, den ich ansprechen möchte, ist die Frage der Informationsmöglichkeiten. Das ist schon bemerkenswert, weil dadurch letztlich die Rechtsschutzmöglichkeiten der Betroffenen gegenüber dem Verfassungsschutz, der ja sozusagen im Verborgenen arbeitet, eingeschränkt werden.

(Helge Limburg [GRÜNE]: Richtig!)

Man hat als Betroffener eigentlich nur dann die Möglichkeit, Informationen zu bekommen, wenn man ein Stück weit Selbstoffenbarung betreibt, indem man beispielsweise angibt: Ich war auf einer Demonstration, auf der ganz komische Leute waren, die möglicherweise extremistisch gewesen

sein könnten. Hat der Verfassungsschutz etwas über mich gespeichert? - Das wäre in der Tat eine Information, die für den Verfassungsschutz möglicherweise interessant ist, weil er zu dem Schluss kommen könnte: Vielleicht bist du ja auch ein Extremist.

(Zustimmung von Helge Limburg [GRÜNE])

Das ist sehr schwierig, wie ich finde. Man baut Hürden dagegen auf, dass Menschen Informationen erhalten können, wogegen sie sich auch wehren können müssen.

Ich verstehe den Punkt bezüglich der Missbrauchsgefahr, weil es diese ja gibt. Aber ist die Rechtfertigung dafür, das an konkrete Umstände zu knüpfen, die man darstellen muss, ausreichend, oder gibt es nicht andere Möglichkeiten, die Missbrauchsgefahr zu beseitigen? Ich weise auf den bekannten Fall der Anwaltskanzlei hin, die systematisch Dinge dort offenbart oder sozusagen versucht, Zusammenhänge zu erkennen.

(Glocke der Präsidentin)

Das kann sicherlich nicht das Ziel sein. Man muss das zwar eindämmen - Frau Präsidentin, ich komme zum Schluss -, ich denke aber, dass hier übers Ziel hinausgeschossen wird. Wir sollten schon den Rechtsschutz der Bürgerinnen und Bürger hier nicht kleiner machen, als es zwingend nötig ist. Aber das werden wir sicherlich in den Beratungen noch vertiefen können.

Vielen Dank.

(Beifall bei der FDP und Zustimmung von Helge Limburg [GRÜNE])

Vielen Dank, Herr Dr. Birkner. - Es hat sich nun die Abgeordnete Wiebke Osigus für die SPD-Fraktion zu Wort gemeldet.

Sehr geehrte Frau Präsidentin! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Wenn die Reichskriegsflagge geschwenkt wird, wenn offen extremistisches Gedankengut skandiert wird, wenn antisemitische Sprüche salonfähig werden sollen, wenn Menschen wegen ihrer Herkunft oder wegen ihrer Hautfarbe offen angegriffen werden und das Ganze im Jahr 2020 passiert, haben Demokratinnen und Demokraten die Pflicht, zu reagieren, und ist die heute vorliegende Novelle des Verfassungsschutzgesetzes ein ganz konsequenter und wichti

ger Schritt zur Stärkung der Demokratie und des niedersächsischen Verfassungsschutzes.

(Beifall bei der SPD und Zustimmung bei der CDU)

Ein wichtiges Mittel, um unsere Demokratie zu schützen, ist ein gut aufgestellter, effektiv arbeitender Verfassungsschutz, ein Nachrichtendienst, dessen Befugnisse für den normalen Bürger im Verborgenen liegen, fest im Blick unseres Innenministers Boris Pistorius und der parlamentarischen Kontrolle - insbesondere, Herr Wichmann, der G 10-Kommission.

Meine Damen und Herren, wir können stolz auf unsere Verfassungsschützerinnen und Verfassungsschützer sein, deren Arbeit mit der hier vorliegenden Novelle gestärkt werden wird. Die aus unserer Sicht wichtigsten Punkte möchte auch ich noch einmal hervorheben.

Die angedachte Speicherung der Daten Minderjähriger ab 14 Jahren spiegelt die heutige Realität wider. Wir erleben frühe Radikalisierungen. Bereits sehr junge Personen fühlen sich zu extremistischen Organisationen hingezogen und werden von diesen vereinnahmt. Die Senkung auf das 14. Lebensjahr von zuvor 16 Jahren zieht eine berechtigte Parallele zum Strafrecht und ist konsequent. Gleichwohl wird es mit der SPD-Fraktion ebenso wie mit dem Innenminister keine verdachtsunabhängigen oder altersunabhängigen Datenspeicherungen geben. Die Hürde bleibt unverändert und richtigerweise hoch.

(Zustimmung bei der SPD)

Richtig ist in diesem Zusammenhang auch die sogenannte Kontostammdatenabfrage. Gerade im Bereich der übergreifenden Vernetzungen sind nicht zuletzt die Finanzströme ein entscheidender Weg zu den Hintermännern. Der Austausch zwischen Verfassungsschutz und Steuerbehörde wird hier Licht ins Dunkel bringen und Strukturen offenlegen.

Meine Damen und Herren, als regierungstragende Fraktion begrüßen wir die Umsetzung des Koalitionsvertrages, insbesondere die Erleichterung der Datenübermittlung im Bereich der Präventionsarbeit. Gerade im Bereich Aussteigerhilfe und Prävention ist eine gute Vernetzung erfolgssichernd und zielführend. Der vorgelegte Entwurf nimmt auch hier den Datenschutz in den Blick und ergänzt zudem europäisch notwendige redaktionelle Änderungen.

Bereits unter Rot-Grün galt das Verfassungsschutzgesetz nach der letzten Novelle als eines der modernsten Deutschlands.

(Helge Limburg [GRÜNE]: Damals stimmte das auch noch, Frau Kolle- gin!)

Durch die nunmehr in die Wege geleiteten Veränderungen wird dieser Prozess fortgesetzt, Herr Limburg. Im Bereich der V-Personen kann ebenfalls die Umsetzung des Koalitionsvertrages durch die Streichung der „erheblichen Bedeutung“ fokussiert werden und wird zudem Gegenstand der Ausschussberatung werden. In diesem höchst sensiblen Bereich gilt es, einen Ausgleich zwischen den Schutzinteressen des Staates und dem Grundrechtsschutz des Einzelnen zu finden.

(Vizepräsidentin Meta Janssen-Kucz übernimmt den Vorsitz)

Meine Damen und Herren, der Verfassungsschutz braucht keine Superlative. Es geht gerade nicht um „höher, schneller, weiter“ und „immer mehr“. Dieser Bereich ist und bleibt sensibel. Wir reden darüber, dass Menschen in ihrer privaten Lebensführung beobachtet und überwacht werden, wenn es die gesetzliche Lage denn zulässt. Daher muss das Gesetz mit den jetzigen und den zukünftigen Entwicklungen Schritt halten - dies allerdings mit Augenmaß. Die gedankliche und die tatsächliche Freiheit der Bürgerinnen und Bürger ist ein hohes Gut, das erst einmal nicht mit einer lückenlosen Überwachung kompatibel ist.

Mit meiner Fraktion wird es daher aus heutiger Sicht keine weiteren Einschnitte, insbesondere keine Onlinedurchsuchung geben. Wenn der Verfassungsschutz schon nicht „in echt“ in die Wohnung darf, dann ist auch der Schritt, in der virtuellen Welt zu durchsuchen, zu weit. Ein Nachrichtendienst ist nämlich gerade nicht die Polizei, sondern mit jeweils unterschiedlichen Befugnissen ausgestattet und von dieser strikt getrennt. Die SPD-Fraktion lehnt Gedankenspiele in Richtung des gläsernen Bürgers ab.

(Beifall bei der SPD)

Meine Damen und Herren, Verfassungstreue ist keine politische Meinung, sondern eine gesellschaftliche Grundhaltung und insbesondere nicht verhandelbar. Jeder, der sich mit Extremisten umgibt, muss sich genau hieran messen lassen und wissen, dass der Staat über starke Instrumente verfügt und diese auch einsetzen wird. Extremismus lässt sich nicht Worten relativieren. Die

angestrebte Novelle wird mit diesem Tempo Schritt halten. Wir werden sie mit den Fachpolitikern im Verfassungsschutz- und im Rechtsausschuss gerne beraten.

Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit.

(Beifall bei der SPD)

Vielen Dank, Frau Osigus.

Uns liegen keine weiteren Wortmeldungen vor. Somit schließe ich die Beratung. Wir kommen zur Ausschussüberweisung.

Federführend soll der Ausschuss für Angelegenheiten des Verfassungsschutzes, mitberatend der Ausschuss für Rechts- und Verfassungsfragen sein. Wer dem so zustimmen möchte, bitte ich um Handzeichen. - Gegenstimmen? - Enthaltungen? - Sehe ich nicht. Damit ist das einstimmig so überwiesen.

Ich rufe auf

Tagesordnungspunkt 4: Abschließende Beratung: Änderung der Geschäftsordnung des Niedersächsischen Landtages - Einführung eines „Corona-Ausschusses“ - Antrag der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen - Drs. 18/6114 - Beschlussempfehlung des Ältestenrats - Drs. 18/7372

Tagesordnungspunkt 5: Erste (und abschließende) Beratung: Änderung der Geschäftsordnung des Niedersächsischen Landtages - Antrag der Fraktion der SPD, der Fraktion der CDU, der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen und der Fraktion der FDP - Drs. 18/7362

Der Ältestenrat empfiehlt Ihnen, den Antrag unter Tagesordnungspunkt 4 abzulehnen.

Eine Berichterstattung ist nicht vorgesehen.

Zu Tagesordnungspunkt 5: Ich weise bereits jetzt darauf hin, dass sich die Fraktionen im Ältestenrat darüber einig waren, diesen Antrag heute gleich abschließend zu behandeln.

Wird das Wort zur Einbringung dieses Antrags gewünscht? - Ich gehe davon aus; denn mir liegt eine Wortmeldungen des Abgeordneten Helge