Unter Straftaten im Sinne der Fragestellung sind außerdem angesichts der durch die Europäische Menschenrechtskonvention garantierten Un
schuldsvermutung lediglich solche Taten zu verstehen, für die es bereits zu einer rechtskräftigen Verurteilung gekommen ist. Auf diese werde ich bei der Beantwortung der Frage 1 eingehen.
Um dem Niedersächsischen Landtag ein möglichst wirklichkeitsgetreues Abbild der Straffälligkeit wartender Selbststeller zu vermitteln, habe ich die Praxis jedoch auch darum gebeten, alle Ermittlungsverfahren mitzuteilen, die jeweils seit Eintritt der Rechtskraft des Urteils anhängig sind bzw. waren und mit denen eine freiheitsentziehende Maßregel der Besserung und Sicherung nach § 63 oder § 64 des Strafgesetzbuches angeordnet wurde. Dadurch wird ein Tatzeitraum von deutlich vor dem 1. Januar 2020 erfasst - das ist klar. Als Enddatum für die Abfrage wurde der 10. September 2020 gewählt.
Meine Damen und Herren, in Niedersachsen sollen alle entsprechend verurteilten Selbststeller auf Grundlage von § 64 StGB in einer Entziehungsanstalt untergebracht werden. Es handelt sich mithin um Personen, zu denen ein Gericht rechtskräftig festgestellt hat, dass sie einen Hang haben, alkoholische Getränke oder andere berauschende Mittel - insbesondere Drogen - im Übermaß zu sich zu nehmen, und bei denen die Gefahr besteht, dass sie infolge dieses Hangs erhebliche rechtswidrige Taten begehen werden.
Damit ist eine Wiederholungsgefahr der Anordnung einer Maßregel nach § 64 StGB immanent. Dass suchtkranke Menschen ohne jede Behandlung auch trotz einer Verurteilung weiter Straftaten begehen - zu nennen sind insbesondere solche der Beschaffungskriminalität und Delikte gegen das Betäubungsmittelgesetz -, liegt auf der Hand und ist auch erwartbar.
Nach den mir vorliegenden Berichten ist es insgesamt zur Einleitung von 391 Ermittlungsverfahren gegen 58 der angefragten 101 Selbststeller gekommen. Die Tatvorwürfe verteilen sich auf eine Vielzahl an Straftatbeständen des Strafgesetzbuches und des Nebenstrafrechts. Einen besonderen Schwerpunkt bilden erwartungsgemäß Verstöße gegen das Betäubungsmittelgesetz. Insoweit wurden 54 Ermittlungsverfahren eingeleitet, 98-mal wegen Diebstahlsdelikten, die klassische Beschaffungskriminalität sind, davon in 4 Fällen wegen Wohnungseinbruchsdiebstahls. 5 Verfahren mussten wegen Raubdelikten eingeleitet werden; je 1 Verfahren wurde wegen Vorwurfs der Vergewaltigung sowie der sexuellen Nötigung eingeleitet. Wegen des Vorwurfs eines Privatklagedelikts, wie z. B. Hausfriedensbruch, Bedrohung, Sachbeschädigung und Beleidigung, kam es 128-mal zur
Einleitung eines Ermittlungsverfahrens, darunter waren 50 Verfahren wegen Körperverletzungsvorwürfen. 41 Verfahren wurden wegen Betrugsdelikten eingeleitet, 18-mal kam es zu einer Verfahrenseinleitung wegen Verkehrsdelikten und 13-mal wegen Erschleichens von Leistungen. Die verbleibenden Verfahren wurden wegen anderer Vorwürfe eingeleitet.
Von den 391 Ermittlungsverfahren wurden 67 Verfahren mangels hinreichenden Tatverdachts eingestellt; 150 Verfahren wurden nach Opportunitätsvorschriften eingestellt.
Bei diesen nach Opportunitätsvorschriften eingestellten Verfahren kann zur Werthaltigkeit des Tatvorwurfs ohne eine jedenfalls kurzfristig nicht zu leistende händische Auswertung sämtlicher Verfahrensakten keine konkrete Aussage getroffen werden. Wie Ihnen bekannt ist, bedingt ein Ermittlungsverfahren jedoch das Vorliegen eines Anfangsverdachts - mithin zureichende tatsächliche Anhaltspunkte für eine verfolgbare Straftat. Das ergibt sich aus § 152 in Verbindung mit § 160 StPO. Diese Anforderung war zunächst in den vorgenannten Verfahren jedenfalls erfüllt.
In 25 Verfahren hat sich der Anfangsverdacht zu einem hinreichenden Tatverdacht erhärtet, sodass die Staatsanwaltschaften Anklage erhoben und in 3 weiteren Fällen einen Antrag auf Erlass eines Strafbefehls gestellt haben.
Teilweise ist es dabei auch vor der verfahrensabschließenden Entscheidung zur Verbindung mehrerer Verfahren zur gemeinsamen Erledigung gekommen - so reduziert sich die Anzahl der Verfahren am Ende.
34 Ermittlungsverfahren sind noch anhängig. In 22 Verfahren wurden die Personen bereits für Straftaten, die sie vor dem 1. Januar 2020 begangen haben, verurteilt.
Frage 1 lautet: Haben verurteilte Straftäter seit dem 1. Januar 2020 in der Zeit, in der sie auf einen Platz im Maßregelvollzug gewartet haben, weitere Straftaten begangen? Und wenn ja, wie viele?
Frage 2 lautet: Wegen welcher Straftaten waren die betreffenden Personen ursprünglich verurteilt worden?
Hierauf ist zu antworten, dass nach den mir vorliegenden Berichten insgesamt sieben Selbststeller wegen zwölf Straftaten verurteilt worden sind.
In dem Bezirk der Generalstaatsanwaltschaft Braunschweig sind zwei Selbststeller wegen drei Straftaten im Tatzeitraum vom 1. Januar 2020 bis zum 10. September 2020 wie folgt rechtskräftig verurteilt worden:
Gegen einen im Jahr 2019 wegen gefährlicher Körperverletzung in drei Fällen, versuchter gefährlicher Körperverletzung, vorsätzlicher Körperverletzung in zwei Fällen, versuchter Körperverletzung, Beleidigung, Sachbeschädigung und Widerstands gegen Vollstreckungsbeamte verurteilten Mann hat das Amtsgericht Braunschweig in zwei Verfahren im Strafbefehlswege wegen unerlaubten Handeltreibens mit Betäubungsmitteln jeweils eine Geldstrafe ausgebracht - 50 Tagessätze zu je 15 Euro. Der Verurteilte wurde am 20. August 2020 in den Maßregelvollzug aufgenommen.
Gegen einen Ende 2019 wegen gefährlicher Körperverletzung verurteilten Mann erging durch das Amtsgericht Göttingen wegen Erschleichens von Leistungen ein Strafbefehl, durch den er zu einer Geldstrafe verurteilt wurde: 30 Tagessätze zu je 15 Euro.
Im Bezirk der Generalstaatsanwaltschaft Celle ist ein Selbststeller wegen einer Straftat im Tatzeitraum ab dem 1. Januar 2020 verurteilt worden. Der am 31. Januar 2020 wegen unerlaubten Besitzes von Betäubungsmitteln in nicht geringer Menge in Tateinheit mit unerlaubtem Handeltreiben mit Betäubungsmitteln verurteilte Mann wurde im Juni 2020 vom Amtsgericht Verden wegen einer am 28. Februar 2020 begangenen vorsätzlichen Trunkenheit in Tateinheit mit vorsätzlichem Fahren ohne Fahrerlaubnis in Tateinheit mit fahrlässigem Gebrauch eines unversicherten Kraftfahrzeugs zu einer Geldstrafe verurteilt: 80 Tagessätze zu je 10 Euro.
Im Bezirk der Generalstaatsanwaltschaft Oldenburg sind vier Selbststeller wegen acht im Tatzeitraum vom 1. Januar 2020 bis zum 10. September 2020 begangenen Straftaten folgendermaßen
Einen wegen besonders schwerer Erpressung im Jahr 2019 verurteilten Mann hat das Amtsgericht Aurich am 4. Juni 2020 wegen unerlaubten Besitzes von Betäubungsmitteln in zwei Fällen verurteilt, wobei nur eine Tat im Tatzeitraum ab dem 1. Januar 2020 lag. Gesamtgeldstrafe: 30 Tagessätze zu je 25 Euro. Die erste Tat war am 10. Dezember 2019.
Einen wegen Diebstahls in drei Fällen und Computerbetrugs im Jahr 2019 verurteilten Mann hat das Amtsgericht Hamm am 4. August 2020 wegen vier Taten des Diebstahls mit Waffen verurteilt - zu einer Freiheitsstrafe von einem Jahr und acht Monaten ohne Bewährung.
Einen wegen gewerbsmäßigen Computerbetrugs in 13 Fällen, gewerbsmäßigen Diebstahls in 8 Fällen, unerlaubten Besitzes von Betäubungsmitteln, Beleidigung und Beleidigung in Tateinheit mit Widerstand gegen Vollstreckungsbeamte rechtskräftig verurteilten Mann hat das Amtsgericht Lingen am 24. Juli 2020 wegen Beleidigung in Tateinheit mit Sachbeschädigung rechtskräftig verurteilt - 50 Tagessätze zu je 15 Euro.
Gegen einen weiteren wegen gewerbsmäßigem Diebstahls verurteilten Mann ergingen am 27. Mai 2020 durch das Amtsgericht Bremen und am 13. Juni 2020 durch das Amtsgericht Osnabrück rechtskräftige Urteile wegen Diebstahls zu einmal 45 und einmal 30 Tagessätzen zu je 10 Euro.
Meine Damen und Herren, diese auf Ihre Fragen erfolgte Zusammenstellung verdeutlicht, dass die in Freiheit auf eine Aufnahme in den Maßregelvollzug wartenden Personen sich im Falle der erneuten Straffälligkeit ganz überwiegend im selben bzw. in einem ähnlichen Deliktsfeld bewegen, aus dem auch ihre Anlassverurteilung entspringt. Wie eingangs gesagt: fast absehbar.
In Frage 3 wollen die Fragesteller schließlich wissen, wie die Landesregierung den Umstand bewertet, dass diese Personen nur deshalb erneut zu Tätern werden konnten, weil es nicht genügend Plätze im Maßregelvollzug gebe.
Ich sage das ganz deutlich: Dieser Zustand stellt sich unter rechtsstaatlichen, sicherheits- und gesellschaftspolitischen Aspekten als äußerst bedenklich dar.
Zudem widerspricht er den Grundsätzen eines effektiven Opferschutzes. Die Landesregierung ist deshalb bestrebt, die Situation im niedersächsischen Maßregelvollzug sowohl kurz- als auch mittel- und langfristig im erforderlichen Umfang zu verbessern.
Die Lösung des Problems kann nur in einer erheblichen Aufstockung der Aufnahmekapazitäten in den gesicherten Bereichen der Maßregelvollzugsanstalten liegen, wofür erhebliche Haushaltsmittel
Vielen Dank, Frau Ministerin. - Die erste Zusatzfrage für die FDP-Fraktion stellt Herr Kollege Försterling. - Einen kleinen Moment, bitte!
Frau Präsidentin, Herr Präsident - wer auch immer sozusagen gerade die Führung hier innehat -, vielen Dank.
Ich frage die Landesregierung nach den Ausführungen der für Justiz, aber nicht für den Maßregelvollzug zuständigen Ministerin, die ja deutlich gemacht haben, dass sehr wohl Straftaten begangen worden sind, wie die Landesregierung dann eigentlich unkritisch und scheinbar unreflektiert die Meldung des NDR stehenlassen konnte, in der der Sozialstaatssekretär, der zuständig ist für den Maßregelvollzug, zitiert wird mit:
„Dennoch habe es in den vergangenen Jahre keinen Vorfall gegeben, an dem ein Straftäter beteiligt gewesen wäre, der aufgrund des Platzmangels keinen Therapieplatz bekommen habe.“
Vielen Dank, Herr Kollege Försterling. - Für die Landesregierung antwortet die Sozialministerin. Frau Dr. Reimann, bitte sehr!
gangen und geht auch heute noch davon aus, dass er als Staatssekretär der obersten Aufsichtsbehörde über den Maßregelvollzug darüber informiert wäre, wenn ein verurteilter Straftäter eine drastische Straftat begeht.
Und das ist offenbar nicht immer gewährleistet. Wir werden in Abstimmung mit dem MJ die Meldewege deshalb verbessern.