gibt. Können Sie sich erklären oder liegen Ihnen Erkenntnisse vor, welche Fakten Frau Kraft zu diesem Sinneswandel bewogen haben können, und kann es sein, dass man in der Opposition weitergehende Erkenntnisse zugänglich gemacht bekommt, als das in Regierungsverantwortung zu Frau Krafts Zeiten der Fall gewesen ist?
In der Tat hat dieses Thema den Landtag schon einmal beschäftigt. Es gab eine Kleine Anfrage „Selbstmord: Tabuthema auch in Nordrhein-Westfalen?“, auf die die damalige Landesregierung geantwortet hat: Der Landesregierung liegen über die allgemein bekannten hinaus keine besonderen Erkenntnisse über die Hauptmotive für Selbstmorde vor.
Dies wird auch bis heute nicht erfasst. Sie können bei einem Selbstmord – in einer solch persönlichen Situation – nicht statistisch ermitteln, ob es einen Abschiedsbrief gab und was der Grund war. Es verbietet sich schlicht, so etwas zu erfassen. Das hat auch die damalige Landesregierung schon gemacht.
Es gibt aber auf der Homepage des Schulministeriums einen umfangreichen Aufsatz von Frau Heidrun Bründel mit dem Thema „Schülersuizid – was Lehrerinnen und Lehrer wissen sollten“. Die Debatte – das hat mir auch Herr Professor Etzersdorfer bestätigt –, ob Bildung und Schule mit Selbstmorden zu tun haben, wurde schon im 19. Jahrhundert geführt. Dies wird immer wieder herangezogen, weil es eine Lebenssituation von Schülern ist. Frau Bründel führt in diesem Aufsatz für den Bereich Schule aus:
Die Frage, inwieweit Schule mit dazu beiträgt oder sogar ursächlich dafür verantwortlich ist, dass Jugendliche sich das Leben nehmen, wurde schon seit Anfang des vorigen Jahrhunderts heftig und kontrovers diskutiert und ist bis heute nicht eindeutig geklärt. Fest steht, dass Schule mit ihren Strukturen, Leistungsansprüchen und Notenvergaben ein krisenanfälliger Bereich und damit für Jugendliche ein Stressor ersten Ranges ist.
Normalerweise kann man davon ausgehen, dass Schülerinnen und Schüler schulische Misserfolge bewältigen, aber wenn diese auf einen bestimmten negativ getönten psychischen Nährboden fallen, können sie schlagartig eine suizidale Handlung auslösen, die Außenstehenden völlig unvorbereitet und überraschend erscheint, die jedoch schon lange vorher von den betreffenden Schülern angedacht worden ist.
Ringel (1969) vergleicht das psychische Geschehen mit einer Lawine, die ins Rollen gebracht wird oder mit einem vollen Fass, bei dem ein einziger Tropfen genügt, um es zum Überlaufen zu bringen.
Damit wird deutlich, dass die Verantwortung für den Suizid eines Schülers nicht der Schule allein zugeschoben werden kann, sondern dass andere Faktoren ebenso eine Rolle spielen wie Entfremdung von den Eltern, Isolation im Gleichaltrigenkreis und vieles andere mehr.
Der schulische Leistungsdruck allein spielt keine ursächliche Rolle, er mag vielleicht die Spitze eines Eisbergs sein, aber das, was unter der Wasseroberfläche ist, z. B. die elterliche Erwartungshaltung, Angst des Schülers vor Versagen und Misserfolg, gestörte Kommunikationsstrukturen in der Familie, das formt diesen Eisberg.
Frau Dr. Bründel ist Psychotherapeutin, klinische Psychologie an der Bildungs- und Schulberatung des Kreises Gütersloh.
Das ist nett. Vielen Dank Herr Minister. – Jetzt hat Frau Schulze von der SPD das Wort für eine weitere Frage.
Herr Minister, Sie haben gerade gesagt, dass Ihnen keine aktuellen Studien und Zahlen zum Thema Schulstress und psychische Folgen für Kinder und Jugendliche bekannt sind, und haben eine Studie von 1969 zitiert. Das ist ja schon eine Zeit lang her. Ist Ihnen die Studie von Professor Dr. Rainer Dollase bekannt, die er im Auftrag der Max-Träger-Stiftung zu genau diesem Thema erstellt hat und die in den letzten Tagen unter anderem auch vom WDR zitiert worden ist?
Die Studie ist mir nicht bekannt. Können Sie mir erklären, was es dort an neuen Erkenntnissen gibt und was an dem von mir jetzt Vorgetragenen falsch ist?
Herr Minister, ich fand diese Denke von Frau Kraft, einen Zusammenhang zwischen Suiziden und Bildungssystem herzustellen, schon ziemlich skurril. Wenn man sich die Suizidzahlen der letzten Jahre im Vergleich der Bundesländer anschaut, dann ist NordrheinWestfalen auf einem der letzten Plätze mit den wenigsten Suiziden gewesen. Nach dieser merkwürdigen SPD-Denke müsste die schwarz-gelbe Landesregierung eigentlich für die guten Lebensbedingungen und dafür verantwortlich sein, dass es in Nordrhein-Westfalen so wenige Suizide gibt.
Ich würde jetzt auch nicht behaupten, dass die auf individuelle Förderung stärker achtende Schulpolitik dafür ursächlich ist, dass diese Zahl zurückgeht. Solch ein Schluss verbietet sich genauso.
Weil es mich aber auch wirklich interessiert, habe ich mich mit den Gründen dafür beschäftigt. Darüber habe ich mich auch mit Herrn Professor Etzersdorfer unterhalten; es war sehr spannend, mit ihm zu sprechen. Er hat erklärt, dass die Zahl der Suizide in Sachsen beispielsweise schon seit dem 19. Jahrhundert besonders hoch ist. Die Zahl von Kindern und Jugendlichen, die sich selbst das Leben nehmen, ist in Sachsen im Vergleich zu allen anderen Bundesländern überproportional hoch. Nach all den geschichtlichen Veränderungen mit zwei, drei Diktaturen und der Demokratie jetzt, was eine völlig andere Situation ist, ist dieser Tatbestand immer noch so. Insofern konnten die Gründe dafür bis heute nicht ermittelt werden. Aber es ist so.
Daraufhin habe ich mir einmal die europäischen Länder angeschaut. Dabei ist Folgendes ganz erstaunlich: Wir haben in Deutschland den Satz von 4,2 %, den ich eben genannt habe. In Finnland liegt dieser Satz zwischen 9,5 und 15,6 %. Es gibt kaum ein Land in Europa, in dem die Selbstmordrate unter Schülern so hoch ist wie in Finnland. Bei der Schulpolitik sagt man aber doch eigentlich immer, dass Finnland das Mekka ist und man alles so wie Finnland machen müsste. Insofern ist jede Analogie zu irgendeiner schulpolitischen Frage absurd und lässt sich nicht deutlich machen.
Im Übrigen ist die Schülerunzufriedenheit mit dem Schulsystem in Finnland im Vergleich von 21 Industriestaaten am höchsten.
Vielen Dank, Herr Minister. – Jetzt zu Ihrer zweiten und damit letzten Frage, Frau Hendricks von der SPD.
Sehr geehrter Herr Minister, das frühzeitige Erkennen einer seelischen Fehlentwicklung bei Kindern und Jugendlichen ist – da sind wir uns, glaube ich, alle einig – sehr wichtig. Nun muss es dazu geeignete Hilfen geben. Mit dem schulpsychologischen Dienst, der ausgebaut worden ist, stehen damit eigentlich geeignete Hilfen zur Verfügung. Gibt es Zahlen darüber, wie sich die Ansprache des schulpsychologischen Dienstes in den letzten fünf Jahren entwickelt hat?
Was die Frage zur Anzahl der Schulpsychologen am Ende der Legislaturperiode anbelangt, können wir deutlich machen, dass wir dafür 300 Stellen zur Verfügung haben. Das ist eine ganze Menge mehr als noch 2005. Wir sind uns aber darin einig, dass auch Schulpsychologie nicht alle Probleme lösen kann, Frau Hendricks.
Wenn wir noch einmal Revue passieren lassen, was Herr Minister Laschet gerade gesagt hat, dann erkennen wir, dass letztlich ein Beziehungsgeflecht von Symptomen dazu führt, dass es zu diesen schrecklichen Geschehnissen kommt. Ich bin mit den Lehrerverbänden und dem Verband der Schulpsychologen im Gespräch, um gerade den Bestand der Schulpsychologen in Nordrhein-Westfalen weiter nach vorne zu bringen.
Wunderbar. Vielen Dank, Frau Sommer. – Jetzt bekommt Herr Kaiser das Wort zu seiner zweiten und damit letzten Nachfrage. Bitte.
Herr Vorsitzender! Herr Minister Laschet, ich hätte Sie gerne zu Finnland gefragt. Das haben Sie aber ausreichend dargestellt. Deshalb möchte ich meine Frage ein bisschen variieren: Herr Minister, stimmen Sie mir zu, dass jemand, der ein gesellschaftliches Phänomen politisch so schlecht analysiert, wie Frau Kraft das getan hat, keine Kompetenz nachgewiesen hat, dieses Land in eine gute Zukunft zu führen?
Da wir gerade beim Kompetenznachweis sind: Welche kompetente Persönlichkeit hat eigentlich damals, 1999, die Kleine Anfrage gestellt, auf die Herr Wittke verwiesen hat, und offenbar einen Zusammenhang zwischen Schulstress und Selbstmordraten bei Kindern und Jugendlichen gesehen?