Protokoll der Sitzung vom 15.11.2006

Herr Rüttgers, macht es Sie nicht nachdenklich, dass, wenn man sich auf Ihre Logik einlässt, landauf, landab die Öffentlichkeit Ihre Vorschläge mit dem Einwand kritisiert, dass dadurch wie schon in der Blüm-Ära ein massiver Anreiz für Unternehmen entsteht, ältere Beschäftigte, wie es so schön heißt, sozialverträglich zu entlassen und Arbeitsplätze auf Kosten der Sozialversicherung abzubauen? Das ist nicht sozial. Das ist unsozial, meine Damen und Herren.

In Ihrer Oppositionszeit wussten Sie das auch mal besser. So sagten Sie in diesem Hause im Januar 2003 – ich zitiere:

„Die Sozialabgaben müssen so gestaltet werden, dass sie ihre negative Wertung auf die Beschäftigung verlieren.“

Schon vergessen?

In einem Antrag im März 2005 forderten Sie, dass sich NRW stark macht für – ich zitiere -“die Abschaffung von Frühverrentungsanreizen“. Schon

vergessen? Das „Handelsblatt“ kommentiert Ihre aktuellen Vorschläge am 07.11. so:

„Wer die Beschäftigung älterer Menschen fördern will, darf keine Vorlage für neue Frühverrentungsprogramme liefern.“

Darauf geben Sie keine Antwort.

(Beifall von den GRÜNEN)

Herr Ministerpräsident, aus ein paar populistischen Einzelvorschlägen, die dem Gerechtigkeitsempfinden der Menschen entsprechen, wird noch lange kein schlüssiges Gesamtkonzept, wie die Sozialversicherungssysteme in Deutschland zukunftsfest gemacht werden. Übrigens kommt selbst aus der eigenen Partei zuhauf der Vorwurf des Populismus.

Herr Oettinger hat Recht, wenn er von Ihnen endlich eine seriöse Gegenfinanzierung einfordert. Herr Bosbach, immerhin stellvertretender Fraktionsvorsitzender der Union im Bundestag, hat es auf den Punkt gebracht – ich zitiere laut „dpa“ vom Wochenende –:

„Es kann nicht so sein, dass das Populäre aus Düsseldorf vorgeschlagen wird und die Risiken und Nebenwirkungen, also die unangenehmen Folgen einer solchen Entscheidung, müssen dann von Berlin verantwortet werden.“

Auch wenn die Kanzlerin aufgrund ihrer Schwäche gute Miene zum bösen Spiel macht, muss man kein Prophet sein, um zu wissen: Das wird Ihnen in Berlin irgendwann auf die Füße fallen. Das ruft doch nach Rache. Wenn es tatsächlich um handfeste Interessen von NordrheinWestfalen geht, werden die Menschen in unserem Land den Schaden haben, weil sie für NRW nichts mehr herausholen werden in Berlin, meine Damen und Herren.

(Beifall von GRÜNEN und SPD)

Eines steht sowieso schon fest: Sosehr Sie versuchen, sich mit Blick auf die Bundespolitik ein soziales Image zu geben, regiert hier in Nordrhein-Westfalen, da, wo Sie Verantwortung in Ihrer schwarz-gelben Koalition haben, hier, wo Sie entscheiden können, die soziale Kälte.

(Beifall von GRÜNEN und SPD – Ralf Witzel [FDP]: Blödsinn!)

Herr Rüttgers, das mit dem St. Martin haben Sie falsch verstanden. Er hat seinen eigenen Mantel geteilt. Sie hingegen nehmen die Lumpen der Armen und wollen die noch teilen. – Herzlichen Dank.

(Beifall von GRÜNEN und SPD)

Danke schön, Frau Löhrmann. – Für die CDU spricht nun der Kollege Henke.

Frau Präsidentin! Verehrte Damen, meine Herren! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Frau Löhrmann, das können Sie doch besser. Sie sagen, die Härten in der HartzGesetzgebung seien von der Union zu verantworten gewesen. Sie sagen: Rot-Grün ist dazu gezwungen worden. Sie sagen: Das war ein Kompromissergebnis. Dann nehmen Sie das doch als Chance! Sagen Sie, was Sie ändern wollen, sagen Sie, an welchen Stellen Sie sich nicht haben durchsetzen können

(Beifall von der CDU)

Dann sagen Sie, wo Sie eine Distanzierung suchen, und nutzen Sie das als Möglichkeit, die Vorschriften, die zu korrigieren sind, auch tatsächlich zu korrigieren.

(Sylvia Löhrmann [GRÜNE]: Wir sind seriö- ser!)

Stattdessen stellen Sie sich hierhin und machen eine geradezu unmögliche Polemik mit St. Martin. Das ist wirklich daneben.

(Beifall von CDU und FDP)

Zu dem, was Sie zur Frühverrentungspraxis sagen: Die Vorschläge aus Nordrhein-Westfalen konterkarierten den Abschied von der Frühverrentung. Das ist keineswegs so. Wir finden den Paradigmenwechsel richtig, der mit den HartzReformen vorgenommen worden ist: Raus aus der Frühverrentung! Sie wird auch nicht mehr systematisch gefördert. Sie wissen, dass die Instrumente ausgelaufen sind. Die 58er-Regelung ist nur befristet um zwei Jahre verlängert worden. Wir sind mit der Erhöhung des gesetzlichen Rentenalters auf 67 Jahre auf einem Weg, das faktische Renteneintrittsalter zu erhöhen und längere Lebensarbeitszeiten zu erreichen. Was Sie da mit der Frühverrentung aufbauen, ist nichts anderes als ein Popanz.

Wesentliches Ziel der Hartz-Reformen – jetzt kommen wir zu der Frage, wo der Änderungsbedarf besteht und wo Hartz IV generell überholt werden muss – war es, erwerbsfähige Arbeitslose so zu unterstützen, dass sie sich möglichst schnell wieder in den Arbeitsmarkt integrieren und ein von staatlichen Leistungen unabhängiges Leben führen können.

Nach jetzt fast zwei Jahren müssen wir feststellen, dass diese mit der Hartz-IV-Gesetzgebung angestrebten Ziele nicht erreicht sind. Nahezu jeder zweite Arbeitslose ist heute schon seit mehr als einem Jahr ohne einen Beruf. Damit findet er als sogenannter Langzeitarbeitsloser noch schwerer eine Beschäftigung. Besonders hart betroffen sind Menschen, die in etwas vorgerücktem Alter arbeitslos werden. Im Gesamtdurchschnitt dauert es rund neun Monate, bis Arbeitslosen die Rückkehr in die Arbeit wieder gelingt.

Bei Menschen, die mit 50 Jahren arbeitslos werden, dauert es bis zur Rückkehr in die Arbeit im Durchschnitt, längst nicht in jedem Einzelfall, 24 Monate, also zwei Jahre. Und die Zahl derjenigen, die als sogenannte Bedarfsgemeinschaften Hartz-IV-Leistungen in Anspruch nehmen, steigt, wobei die Zahl 4,1 Millionen Bedarfsgemeinschaften die Sache schönredet. Denn in Wirklichkeit sind es 7,5 Millionen Menschen, vielfach ohne Perspektive auf einen festen Arbeitsplatz. Sie tun sich immer schwerer damit, in Politik und Gesellschaft noch Verbündete zu erkennen, die sie dabei unterstützen, wieder selbstbestimmt und eigenverantwortlich zu leben.

Gleichzeitig steigen die Ausgaben, die wir für ein menschenwürdiges Leben von immer mehr Männern, Frauen und Kindern aufbringen müssen. Deswegen fühlen sich viele abgehängt. Andere, zunehmend mehr, empfinden ihre notwendigen Beiträge für Gesundheit und Pflegekasse, Arbeitslosen- und Rentenkasse als Belastung.

Wir alle wissen und haben immer wieder diskutiert – das ist keine parteipolitische Frage –, wie sehr diese Entwicklung das Zutrauen der Menschen nicht nur in einzelne Politiker belastet, nicht nur die Zustimmung zu einzelnen oder den demokratischen Parteien schlechthin beeinträchtigt, sondern mehr und mehr zu einer Herausforderung für die Glaubwürdigkeit der politischen Ordnung insgesamt werden lässt.

Wir kennen natürlich die Überzeugung des Bundesministers für Arbeit und Soziales, dass es in Deutschland keine Schichten gäbe. Aber wir wissen auch, dass diese Auffassung nichts mit der Wirklichkeit zu tun hat, die die Menschen um sich herum erleben und erst recht nichts mit den Folgen eines Hartz-IV-Systems, das zwar – an der Stelle erfüllt es seine Ankündigung – fordert, aber das gleichzeitig versprochene, immer in Aussicht gestellte und immer verlangte Fördern nicht einlöst.

Frau Löhrmann, es wird doch nichts dadurch besser, dass man die Wirklichkeit leugnet. Jawohl, der Staat ist in einer Schuldensituation und kann

sich nicht mehr alles leisten, was er sich früher geleistet hat.

(Zuruf von Ralf Jäger [SPD])

Jawohl, neue Handlungsspielräume entstehen für den Staat nur dann, wenn der Schuldenabbau gelingt. Aber der Einzelne braucht auch die Zuversicht, dass auch ein strapazierter Staat nicht in seinen Kernaufgaben versagt.

(Sylvia Löhrmann [GRÜNE]: Sie versprechen doch mehr Leistung!)

Wenn man diese Kernaufgaben des Staates mit wirtschaftlicher Vernunft und sozialer Verantwortung definiert, bestehen sie in der Gewährleistung persönlicher Freiheit und menschlicher Würde, in der Verwirklichung eines möglichst guten Bildungssystems, in der Gefahrenabwehr – auch bei der Umwelt – und im Schutz gegenüber existenziellen Risiken.

(Zuruf von Sylvia Löhrmann [GRÜNE])

Zu solchen existenziellen Risiken, die jeden treffen können, gehören Krankheit, Pflegebedürftigkeit, Unfall, dauerhafte Behinderung und eben der Verlust eines eigenen Erwerbseinkommens aufgrund der mit dem Alter verbundenen Beeinträchtigungen oder aufgrund von Arbeitslosigkeit.

(Ralf Jäger [SPD]: Was ist denn mit der Ge- genfinanzierung?)

Es kann doch nicht richtig sein, dass gerade Menschen, die für ihr Alter vorgesorgt haben, die damit also genau das machen, worauf der Staat angewiesen ist, nämlich selber vorzusorgen, das so angesparte Vermögen im Fall der Hilfsbedürftigkeit durch Verlust des Arbeitsplatzes bis auf einen Rest von 16.250 € aufzehren müssen.

(Johannes Remmel [GRÜNE]: Das ist okay! – Sylvia Löhrmann [GRÜNE]: Wir wollen die Gegenfinanzierung wissen!)

Denn das bedeutet im Rentenalter in aller Regel, dass diese Menschen zur Abhängigkeit von staatlichen Leistungen verurteilt sind.

Das liegt auch nicht im Interesse der jungen Menschen, denn sie müssen diese staatlichen Leistungen später finanzieren. Mit dem heutigen Freibetrag von 250 € pro Lebensjahr kann vielleicht eine zusätzliche Rente von 80 oder 90 € erreicht werden. Allein durch die Reduzierung des Rentenniveaus wird sich für Standardrentner – und Sie wissen, wie der Standardrentner definiert ist – langfristig eine Rentenminderung von 300 € monatlich ergeben.

Deshalb ist es mehr als gerecht, die Freibeträge zur Altersvorsorge zu erhöhen. Der Beschluss der CDU in NRW schlägt dazu einen Betrag von 700 € je Lebensjahr vor – also höchstens 45.500 €.

(Sylvia Löhrmann [GRÜNE]: Wem wollen Sie das Geld wegnehmen?)

Wenn man diesen Freibetrag vollständig ausschöpft, kann man eine zusätzliche private Rente von vielleicht 230 bis 250 € erreichen. Damit lässt sich die Abhängigkeit von staatlicher Hilfe zulasten der Kommunen vermeiden.

Deswegen sind dieser Vorschlag und die fünf anderen Vorschläge, die in unserem Antrag an den Bundesparteitag stehen, ein Beitrag, der wirtschaftlicher Vernunft und sozialer Verantwortung entspricht.

(Beifall von Manfred Kuhmichel [CDU])

Anstatt uns dafür zu kritisieren, sollten Sie uns loben, aber zumindest die Chance nutzen, in eine produktive Debatte darüber einzutreten. – Ich bedanke mich.