Protokoll der Sitzung vom 28.03.2007

Kurzum: Dieser Gesetzentwurf verfehlt sein Ziel komplett. Der Gewinn für Demokratie ist gleich null; aber dafür verpassen wir eine echte Chance für mehr Beteiligung von jüngeren Menschen am politischen Prozess. Trotzdem: Glückauf!

(Beifall von der SPD)

Vielen Dank, Herr Kollege Töns. – Als Nächster hat für die Fraktion der CDU Kollege Biesenbach das Wort.

Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Herr Töns, es gibt Literatur, und zu dieser Grundlagenliteratur, die ich Ihnen gerne empfehle, gehört der Koalitionsvertrag der beiden diese Landesregierung tragenden Fraktionen.

(Carina Gödecke [SPD]: Das ist aber keine Literatur!)

Wer da hineinschaut, Frau Kollegin, weiß: Hier wurde nicht gefummelt, wir haben nicht lange gebraucht, sondern dort ist klar zu lesen: Wir werden das Zweitstimmenrecht einführen.

(Beifall von GRÜNEN und FDP)

Wir arbeiten unseren Koalitionsvertrag ab und unterbreiten Ihnen heute diesen Vorschlag.

Ich habe schon seit einiger Zeit mit etwas Schmunzeln zur Kenntnis genommen, dass es für die Opposition – in diesem Fall die Sozialdemokraten – richtig schwer ist, noch etwas zu finden. Das ist heute genauso. Ich habe gar nicht verstanden, Herr Töns, ob Sie für oder gegen das Zweitstimmenrecht sind. Sie haben sich endlos Gedanken über das Schicksal der FDP gemacht.

Die Situation der FDP ist klar: Sie hat den Vertrag mit uns geschlossen und wird ihn mit uns erfüllen. Dazu sind wir angetreten, und das werden wir tun. Es wäre schön gewesen, wenn Sie einmal die Haltung der Sozialdemokraten deutlich gemacht hätten. Das blieb im Nebel wie so vieles heute. Vielleicht haben Sie noch ein paar Monate Zeit, das nachzuholen.

Das Einzige, was ich gehört habe, war, dass Sie über das Wahlrecht für 16-Jährige philosophiert haben. Wieder haben Sie ganz intensiv Herrn Pinkwart zitiert. Die FDP freut sich darüber, dass Sie sich so stark damit beschäftigen. Aber wir hät

ten gern einmal Ihre Meinung gehört. Wollen Sie das Wahlrecht mit 16, Ja oder Nein? Wollen Sie dann auch den zweiten Schritt der strafrechtlichen Verantwortung, der bisher nur im Kopf ist, konsequent mitgehen – den müssen wir nämlich mit diskutieren –, oder können wir sagen: „Wählen dürft ihr mit 16, aber verantwortlich sollt ihr erst mit 25 sein“? Sie kennen doch die Diskussion. Das ist nicht so leicht zu beantworten, wie man das hier sibyllinisch formulieren kann.

Wir haben Ihnen einen Gesetzesvorschlag unterbreitet – der Innenminister hat ihn vorgelegt –, der im Wahlrecht einige Vereinfachungen schafft und klar regelt: Zweitstimmenrecht. Damit – das ist ein demokratischer Fortschritt – kann der Wähler auch bei der Landtagswahl entscheiden: Persönlichkeit oder Partei. Er wird nicht mehr gezwungen, aus Tradition ein Kreuz zu machen.

Wir begrüßen das und glauben, dass auch in Nordrhein-Westfalen die Menschen klug genug sind, damit verantwortlich umzugehen. Zur Freude – lassen Sie mich den Schlenker noch dranhängen – haben Sie wohl den geringsten Anlass, wenn Sie in die Umfragen hören. Darum erwarten wir in Ruhe, was da kommt,

(Zuruf von der SPD: Sehr gelassen!)

und wir werden bis dahin noch mehr Zustimmung finden, als wir heute bereits haben.

(Beifall von CDU und FDP)

Vielen Dank, Herr Kollege Biesenbach. – Als nächste Rednerin hat für die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen die Kollegin Düker das Wort.

Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Ich muss zugeben: Es fällt mir ein bisschen schwer, aber Herr Biesenbach, ich muss Ihnen zustimmen. Sie haben ausnahmsweise mal recht.

(Beifall von GRÜNEN und CDU)

Lieber Kollege von der SPD, ich fand Ihre Argumente doch mehr als dünn.

(Beifall von den GRÜNEN)

Die meisten Bundesländer – zehn an der Zahl – haben ähnlich dem Bundestagswahlrecht ein personalisiertes Verhältniswahlrecht mit zwei Stimmen. Sie können doch diesen zehn Bundesländern nicht unterstellen, dass sie undemokratischer aufgestellt sind als wir und wir mit unserem Alleinstellungsmerkmal „Eine Stimme“ etwas ganz Tol

les haben. Nein, ich denke, dass die Zweitstimme aus zwei Gründen Sinn macht:

Zum einen bringt sie eine Vereinheitlichung der Wahlsysteme zwischen Bund und Ländern und damit auch eine Vereinfachung für die Wählerinnen und Wähler.

Zum Zweiten, Herr Töns, bringt die Zweitstimme mehr und nicht weniger Demokratie. Denn ein Stimmensplitting schafft die Möglichkeit für eine differenzierte Wahlentscheidung.

Mit der ersten Stimme gibt es eine Zustimmung zum Vertreter oder zur Vertreterin des Wahlkreises. Das stärkt die Bindung zwischen Abgeordneten und ihren Wählerinnen und Wählern.

Mit der Zweitstimme – es ist klar, dass das die Leute von der Bundestagswahl her auch verstehen – gibt es einen Raum für die programmatische Zustimmung für eine Partei, bewusst unabhängig von den örtlichen Bezügen. Die letzte Bundestagswahl – ich habe die Statistik hier und kann Sie Ihnen gerne einmal zeigen; schauen Sie sich einmal die Zahlen an – zeigt: Viele Wählerinnen und Wähler nutzen und wollen dies. Gerade junge Wähler und Wählerinnen machen von ihrem Stimmensplitting Gebrauch und nutzen diese unterschiedlichen Möglichkeiten. Damit bieten wir den Bürgerinnen und Bürgern für ihre Wahlentscheidung ein Mehr an Entscheidungsmöglichkeiten, ein Mehr an Demokratie an.

(Beifall von den GRÜNEN)

Jetzt zum spannenden, immer wieder aufkommenden Vorurteil: Cui bono? Wem nützt das Ganze? Ich halte es für ein komplettes Vorurteil, Herr Töns, zu behaupten, dass es nur den kleinen Parteien nützt. Es ist ein Geben und Nehmen. Auch dabei verweise ich Sie auf die Statistiken. Schauen Sie sich an, wie gerade bei der Bundestagswahl gewählt wurde! Denken Sie einmal an die Bundestagswahlen, bei denen es noch hieß: „Zweitstimme ist Joschka-Stimme“, bei denen es aber auch Kampagnen in die eine wie in die andere Richtung gab. Mit Zweitstimmenkampagnen der kleinen Parteien – das gilt sowohl für die FDP als auch für die Grünen – haben es viele Ihrer Direktkandidatinnen und -kandidaten in den Bundestag geschafft. Das müssen sie sich auch einmal vor Augen halten, Herr Töns.

(Beifall von den GRÜNEN)

Insofern kann man es nicht einfach so stehen lassen: Das ist nur ein Geschenk an die FDP oder die kleinen Parteien. – Es ist ein Geben und Nehmen. Die Wählerinnen und Wähler möchten es. Im Vordergrund – unabhängig von diesem strate

gischen Herumgeeiere, das Sie an den Tag gelegt haben – steht für uns das Bedürfnis der Wählerinnen und Wähler, ihre Wahlentscheidung differenzierter treffen zu wollen. Diese Möglichkeit sollten wir ihnen geben.

(Beifall von der CDU)

Das Divisorverfahren, Herr Minister, und auch die anderen Regelungen finden unsere Zustimmung. Wir werden diesem Gesetzentwurf zustimmen. Das ist ausnahmsweise einmal etwas Gutes, was von der Regierung kommt. Das muss man auch einmal sagen.

(Beifall von GRÜNEN, CDU und FDP)

Vielen Dank, Frau Kollegin Düker. – Als Nächster hat für die Fraktion der FDP der Kollege Witzel das Wort.

Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Auch in diesem Bereich hält die Koalition der Erneuerung Wort und setzt die proklamierten Ziele um. Wir setzen uns dafür ein, dass wir eine Wahlrechtsharmonisierung bekommen, dass wir die Partizipationsmöglichkeiten aller Wähler in Nordrhein-Westfalen erhöhen, dass wir einen Lückenschluss in Bezug auf Defizite, die sich in der Vergangenheit im geltenden Wahlrecht als problematisch herausgestellt haben, hinbekommen, dass wir die Praktikabilität bestehender Bestimmungen verbessern und dass wir – das ist das Wichtigste – für eine Stärkung demokratischer Entscheidungsrechte aller Wähler sorgen.

Am wichtigsten ist deshalb sicherlich auch der am meisten von meinen Vorrednern diskutierte Punkt der Einführung des Zweitstimmensystems wie im Bundeswahlgesetz. Nordrhein-Westfalen hat hierbei ein Demokratiedefizit. Zwölf von 16 Bundesländern haben ein lupenreines Zweitstimmenwahlrecht. Bremen steigt im Jahre 2011 aus dem Einstimmenwahlrecht aus. Dann verbleiben nur noch Baden-Württemberg und das Saarland im alten Recht. Nordrhein-Westfalen muss den Anschluss an die Entwicklung in anderen Bundesländern bekommen und demokratische Partizipationsrechte verbessern.

Selbstverständlich gibt es im Zweitstimmenwahlrecht eine bessere Repräsentation des Wählerwillens in der personalisierten Verhältniswahl dieser Form. Es gibt die Option des Stimmensplittings. Deshalb sage ich in aller Klarheit: Taktisches Wählen ist selbstverständlich legitim und in verschiedenen Varianten wünschenswert. Wir wollen doch Wähler haben, die sich überlegen, was das

Ergebnis ihrer Wahlentscheidung sein soll und wie sie das, was sie politisch wollen, am besten in reale Verhältnisse umgesetzt bekommen. Deshalb ist es doch begrüßenswert, wenn das Engagement eines Wahlkreiskandidaten, der sich für seine Bürger und für die Menschen vor Ort wie ein Löwe einsetzt, honoriert werden kann, auch wenn man bei der landesweiten Stimmabgabe einer anderen politischen Grundüberzeugung mit der landesweiten Parteistimme folgt.

Und umgekehrt ist es selbstverständlich genauso. Man kann doch die landesweite Grundüberzeugung in der Stimme für eine Parteiliste ausdrücken, aber trotzdem, wenn es ganz konkret vor Ort einen Paradiesvogel und umstrittenen Abgeordneten gibt, mit dem man sich nicht identifizieren kann, die Stimme verweigern und ihn als Direktkandidaten scheitern lassen. Das alles sind mehr Optionen für Mitbestimmung für Menschen in unserem Land.

Selbstverständlich ist es auch keine Frage, sondern eine absolut legitime Überlegung, wenn Bürger bestimmte Situationen zum Anlass nehmen, um Politikmodelle zu wählen. Das sage ich im vollen Bewusstsein, dass Koalitionen nicht jahrzehntelang immer in gleicher Konstellation Liebesehen bis ans Ende aller Tage sind.

(Zuruf von Sylvia Löhrmann [GRÜNE])

Aber natürlich ist es legitim, wenn Wähler bewusst in bestimmten Situationen Richtungsentscheidungen treffen, wenn sie den Politikwechsel wählen wollen und wenn sie für einen Mentalitätswechsel stehen. Deshalb ist nicht richtig, was die SPD vorgetragen hat. Selbstverständlich ist das auch im alten Recht möglich. Wir schaffen nicht die Voraussetzungen, um so etwas zu ermöglichen.

Sie haben vor etwas weniger als zwei Jahren erlebt, dass es einen Politikwechsel geben kann, auch wenn man es wie Sie vielleicht nicht für möglich gehalten hat, weil es eine gemeinsame Philosophie von Parteien gab, die angetreten sind und gesagt haben: Wir haben ein vergleichbares Leitbild für einen Mentalitätswechsel in diesem Land, nämlich Privat vor Staat, Freiheit vor Gleichheit, Erwirtschaften vor Verteilen. Dafür stehen wir. Das haben wir uns vor der Wahl vorgenommen. Das setzen wir nachher auch um, wenn uns der Wähler das Mandat gibt.

Insofern ist dieses Wahlrecht selbstverständlich keine Voraussetzung dafür, taktisch abzustimmen, strategisch zu wählen und in politischen Richtungen und Gesamtkonstellationen zu denken. Aber es erleichtert dem Bürger die konkrete Auswahlentscheidung, ein realistisches Abbild

des Wählerwillens zu zeichnen. Das ist gut für unsere Demokratie in Zeiten zunehmender Wahlverweigerung.

Weitere Wahlrechtsoptimierungen werden in diesem Paket gleich mit erledigt. Wir kümmern uns um die Aufstellung von Ersatzbewerbern für Wahlkreiskandidaten zur Vermeidung der traurigen Begebenheit todesfallbedingter Nachwahlen.

Bei der Bundestagswahl haben wir solche Probleme erlebt. Es gab eine Ergebnisunsicherheit, mit der wir zwei Wochen wegen der knappen Entscheidungslage umgehen mussten. Es gab eine nachträglich geänderte Mandatsverteilung. Weil Nachwahlen stattfinden mussten, sind Leute am Abend der Wahl zum Bundestagsabgeordneten erklärt worden, denen zwei Wochen später ihr Mandat wieder aberkannt worden ist. Das ging bis zu dem Punkt, dass keine präferenzfreie Stimmabgabe in diesem Nachwahlbezirk stattfindet, weil sich jemand in Kenntnis des Gesamtergebnisses und möglicherweise in Kenntnis einer engen Abstimmungslage nur konditioniert entscheiden kann. Homogenität der Parteilisten, Mandatserwerb ohne Annahmeerklärung,

(Das Ende der Redezeit wird signalisiert.)