Gleichzeitig erleben wir ein Schulsystem, das zwar durchlässig ist, aber leider nur in eine Richtung, nämlich abwärts. Auf neun Absteiger im Schulsystem kommt ein Schulaufsteiger, meine Damen und Herren. Nur jedem zehnten Kind gelingt es, mehr aus seinen Fähigkeiten zu machen, eine höhere Schulform zu erreichen. Ich sage Ihnen voraus: Diese beschämende Zahl wird sich durch das von Ihnen zu verantwortende Schulgesetz noch weiter verschlimmern,
indem Sie faktisch nicht nur für die Abschottung des Gymnasiums sorgen, sondern auch für die Abschottung der Hauptschulen in diesem Land. All Ihren Lippenbekenntnissen zum Trotz: Sie sind und bleiben die Koalition der sozialen Ungerechtigkeit in NRW.
Sie sorgen dafür, dass Kinder in NRW künftig mit neun Jahren in Schubladen einsortiert werden, aus denen die allermeisten nie mehr herauskommen. Das ist an sich schon schlimm genug, meine Damen und Herren von CDU und FDP, aber wenn man dann noch weiß, welche starke Rolle der soziale und ethnische Hintergrund der Kinder und der Eltern bei diesem Prozess spielt, dann erst wird einem die ganze Dramatik dieses Sortierbetriebs klar:
Bildungsarme Eltern, bildungsarme Kinder! Arm an Geld, arm an Bildungschancen! Arbeiterkind – Hauptschule, Akademikerkind – Gymnasium, wohlgemerkt bei gleichen Fähigkeiten! Sie verantworten damit ein Schulsystem, das Migranten, Arbeiterkinder und sozial schwache Familien abhängt.
So kann es niemanden ernsthaft verwundern – eigentlich auch Sie nicht, Frau Pieper-von Heiden –, dass die Medien im Umfeld von PISA und IGLU feststellen, dass zwar die Leistungen der deutschen Schüler besser geworden sind – darüber freuen wir uns alle gemeinsam –, gleichzeitig stellen sie aber auch fest, dass das deutsche Schulsystem so selektiv und so ungerecht wie kein anderes Schulsystem in einem großen Industrieland auf der Welt ist.
Die Zeitungen fassen die IGLU-Studie kurz zusammen: Lesen eins, Chancen sechs. Das sollte gerade Ihnen ernsthaft zu denken geben. Wo sind Ihre Antworten? Wo sind Ihre Konzepte? Mit Ihrer bisherigen Schulpolitik sorgen Sie jedenfalls nicht für mehr Chancen, sondern für mehr Verlierer. Auch der heutige Antrag ist wohl mehr nach innen gerichtet, um die eigenen Truppen zusammenzuhalten. Die FDP soll an die Kette gelegt und mit einem bildungspolitischen Denkverbot belegt werden.
Okay, das ist ein Widerspruch in sich; darauf gehe ich jetzt nicht ein. Wegweisende Inhalte oder Antworten auf die drängenden Fragen, die wir alle kennen, enthält dieser Antrag jedenfalls nicht.
Die SPD ist hier deutlich weiter. Wir wollen die beste Bildung für alle. Wir wollen keine Verlierer schaffen, sondern Chancen anbieten. Wir setzen – darauf hat Herr Solf zu Recht hingewiesen – auf die Gemeinschaftsschule und auf längeres gemeinsames Lernen. Wir werden ab 2010 für beides sorgen – das ist kein Widerspruch, sondern es geht nur zusammen –
, für längeres gemeinsames Lernen, für mehr Chancengleichheit und für besseren Unterricht für die Kinder, für bessere Leistungen für alle Schüler.
Wir setzen auf Ganztag und Gebührenfreiheit, und zwar vom Kindergarten bis zur Universität. Das sind nur ein paar unserer Antworten auf die Fragen, die uns PISA und IGLU mit auf den Weg gegeben haben.
Dabei setzen wir auf die Menschen, auf die Politik vor Ort. Wir schreiben beispielsweise keine feste Schulstruktur vor, weil uns nicht die Türschilder interessieren, sondern die Inhalte. Das unterscheidet uns nicht nur in der Schulpolitik. Immer mehr Menschen – Wissenschaftler und Kommunalpolitiker – stimmen uns dabei zu, weil wir ein pragmatisches, flexibles und passgenaues Modell für die Anforderungen vor Ort bieten.
Während Sie die Realitäten ausblenden und all die Stimmen aus Wissenschaft, Forschung und Wirtschaft ignorieren und abtun, haben wir uns über mehr als ein Jahr mit den Menschen darüber unterhalten und gemeinsam mit ihnen ein Programm entwickelt, auf das wir zu Recht stolz sind. Sie bieten Ideologie pur. Die Menschen merken das. Gerade deswegen sind Sie so nervös und kam es zu einem solchen Antrag.
Doch anstatt die Debatte offensiv zu führen, versuchen Sie, sie abzuwürgen, und blenden die Realitäten aus. Ich frage mich: Mit welchem Recht maßen Sie sich eigentlich an, diese ganzen Stimmen aus Wirtschaft, Forschung, Wissenschaft, Politik, die Stimmen der Menschen, so zu ignorieren und abzutun, wie Sie es im Moment machen?
„Gute Politik beginnt damit, anzuerkennen, was ist“, hat Willy Brandt einmal gesagt. Und er hat wie so oft recht gehabt. Aber genau das scheint Ihnen in der CDU derzeit sehr schwer zu fallen.
Sie mögen als CDU auf Ihrem Bundesparteitag Beschlüsse gefasst haben, die das mehrgliedrige Schulsystem für die nächsten 20 Jahre festschreiben. Wenn das aber die Botschaft ist, die Sie den Menschen in NRW in den nächsten 20 Jahren nahebringen möchten, dann kann ich
nur sagen: Gute Nacht, Marie. Ihnen stehen schwere Zeiten ins Haus, wenn Sie den Menschen erklären wollen, warum Sie Bildungspolitik im 21. Jahrhundert mit Rezepten aus dem 20. Jahrhundert anbieten wollen.
Ich kann Sie nur auffordern und bitten: Herr Rüttgers, sorgen Sie endlich für eine Schulpolitik, die Chancen schafft, statt Verlierer hervorzubringen. – Glück auf!
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Herr Solf, bei Ihrem Beitrag habe ich mich gefreut. Sie haben nämlich gegen Ihren Antrag und für unseren Entschließungsantrag gesprochen;
denn Sie haben gesagt, man solle sich die Dinge ohne Vorbehalte angucken und sich nicht von vornherein festlegen. Genau dafür werben wir in unserem Entschließungsantrag. Genau dafür habe ich auch in meinem Schreiben an die Fraktionsvorsitzenden und die führenden Mitglieder der Regierung geworben. Insofern danke ich Ihnen herzlich für diesen Versuch.
Ob das mit dem Milchmädchen richtig ist, weiß ich nicht. Ich habe gelernt, dass – wenn – auch Milchmänner nicht gut rechnen können. Das möchte ich an dieser Stelle also kurz zurückgeben. Ich weiß auch nicht, wen Sie als Milchmädchen besonders vor Augen hatten. Da fallen mir einige Damen auf der rechten Seite des Hauses eher ein als Personen auf der linken Seite.
Außerdem gibt es ihn nur, weil der Ministerpräsident ihn verordnet hat. Er ist der verzweifelte Versuch, etwas zu übertünchen, was nicht zu übertünchen ist: den Riss in und zwischen den Regierungsfraktionen über den richtigen Weg in der Schulpolitik.
Darum ist der Antrag auch so schlecht. Er ist voller Behauptungen, die durch nichts belegt sind. Welcher Wissenschaftler behauptet noch, dass das gegliederte, aussortierende Schulsystem dem längeren gemeinsamen Lernen überlegen ist?
Welche Studie belegt, dass das gegliederte, aussortierende Schulsystem keine Schuld an der durch PISA erneut nachgewiesenen sozialen Ungerechtigkeit hat?
Welche Hauptschuloffensive – bei aller Anerkennung der dort geleisteten Arbeit; ich sage das immer ausdrücklich dazu – war so erfolgreich, dass sie diese Schulform nachhaltig gestärkt hätte? Keine! Welches PISA-Siegerland – da wird es ja besonders absurd – hat heute noch ein gewachsenes gegliedertes Schulsystem?
Meine Damen und Herren, keine, aber auch wirklich keine Ihrer Behauptungen ist von Ihnen belegt worden – weil es nichts zu belegen gibt. Deshalb ist Ihr Antrag das Papier nicht wert, auf dem er gedruckt ist.
Er ist genauso absurd wie die im Grundsatzprogramm der CDU beschlossene Formulierung, die da tapfer heißt: Wir halten am dreigliedrigen Schulsystem fest. – Dieses dreigliedrige Schulsystem hat es im Osten dieser Republik nie gegeben, und im Westen verschwindet es Schritt für Schritt – selbst in CDU-geführten Bundesländern, ob in Hamburg oder in Schleswig-Holstein.
Meine Damen und Herren, Ihr Antrag ist ein Offenbarungseid und der verzweifelte Versuch, von der Zerstrittenheit in der Koalition und insbesondere innerhalb der FDP abzulenken. Dass Herr Pinkwart heute nicht da ist, ist bezeichnend. Das, was Sie von der FDP heute hier beschließen, ist das glatte Gegenteil dessen, was Ihr Landesvorstand vor einigen Wochen beschlossen hat. Das ist doch die Wahrheit.