Protokoll der Sitzung vom 30.11.2012

loren geht oder auch nur das Gefühl bekommt, nicht wahrgenommen oder nicht gefördert zu werden.

Deshalb ist es richtig, den Übergang von Schule und Beruf so nahtlos zu regeln, dass kein Schüler auf der Strecke bleiben kann.

Viel zu viele junge Menschen starten ohne einen Schulabschluss in das Erwachsenenleben. Laut der Studie „Bildungschancen vor Ort“ des Deutschen Caritasverbandes und des Rheinisch-Westfälischen Instituts für Wirtschaftsforschung von 2011 lag im Jahre 2009 der Anteil der Schülerinnen und Schüler ohne Hauptschulabschluss in NRW bei 3,4 % bis 11,4 %. Es gibt also eine Bandbreite. Der Anteil der Beschäftigten ohne Berufsabschluss lag zwischen 12,1 und 22,3 %. Nur 22 % der Jugendlichen ohne Schulabschluss finden einen Arbeitgeber, der sie ausbildet. Mit einem Schulabschluss liegt diese Quote bereits bei 50 %.

Diese Zahlen zeigen die Wechselwirkung zwischen Bildung und den Chancen, am Arbeitsmarkt teilzuhaben, statt schon früh in die Arbeitslosigkeit abzurutschen.

Minister Schneider kommt zu folgendem Schluss: Er setzt die sogenannten prekären Beschäftigungen wie Leiharbeit in einen direkten Zusammenhang mit dem Arbeitsrisiko und will Leiharbeit regulieren und insgesamt der Prekarisierung der Arbeitswelt entgegenwirken, allerdings ohne zu sagen, wie. Er nutzt den Sozialbericht, um sich mit ideologisch besetzten Themen wie Mindestlohn und prekären Beschäftigungsverhältnissen zu profilieren. Das ist reine Sozialromantik ohne Wirkung.

Dabei ist auch hier der Kern des Problems ein anderer. Geringfügige Beschäftigungen, die Zusatzverdienste ermöglichen, Leiharbeit, die Arbeitsspitzen abbauen soll, und Befristungen, die ja auch Qualifizierungen ermöglichen, sind an sich keine schlechten Instrumente und führen auch nicht automatisch zu Armut. Solche Beschäftigungen bieten immer auch eine Chance für einen Einstieg oder Wiedereinstieg in den Arbeitsmarkt.

(Beifall von der CDU)

Wie die eben genannten Zahlen zur Arbeitslosigkeit belegen, hat ja gerade die Flexibilisierung des Arbeitsmarktes zu mehr Beschäftigung geführt. Würden wir zum Beispiel die Befristungen wieder abschaffen, wären Schwangerschaftsvertretungen,

wissenschaftliche Projektarbeiten und auch die Übernahme von Auszubildenden zukünftig nicht mehr oder nur noch eingeschränkt möglich. Eine Politik von Rot-Grün, vor der uns Schwarz-Gelb bewahren möge!

Selbstverständlich bedeuten etwa Befristungen auch unsichere Lebensverhältnisse und fordern von den Arbeitnehmern ein hohes Maß an Flexibilität. Das ist aber unabhängig von der Frage, dass wir eine Lohnuntergrenze brauchen, die von den Tarif

partnern festgesetzt wird. Und die Lohnuntergrenze wird noch kommen; davon bin ich fest überzeugt.

(Beifall von der CDU)

Grundsätzlich sind wir uns aber doch wohl einig, dass eine geringfügige Beschäftigung oder eine befristete Beschäftigung immer noch besser ist als keine. Denn so verliert der Arbeitnehmer nicht den Anschluss an die Arbeitswelt und hat auch keine Lücken in seinem Lebenslauf.

Was wir tun müssen: Wir müssen den Missbrauch, zum Beispiel Kettenverträge oder Scheinwerksverträge, verhindern

(Beifall von Walter Kern [CDU])

und den „Equal Pay“-Grundsatz in der Leiharbeit durchsetzen. Ich füge hinzu: Auch über das Synchronisierungsverbot muss noch gesprochen werden.

(Beifall von der CDU – Zuruf von den GRÜNEN: Das reicht aber alles nicht!)

Aber das sind Missbrauchstatbestände. Wir können diese Form von Beschäftigungen nicht grundsätzlich infrage stellen. Sie sind ein sehr wichtiges Instrument, um Menschen in Arbeit zu bringen.

Ein weiteres beliebtes Thema ist natürlich die großartige Umverteilung mithilfe einer Vermögen- oder Reichensteuer. Wer in diesem Hause glaubt denn wirklich, dass solch eine Steuer die Situation von Menschen in unserem Lande wirklich verbessert? Werden denn tatsächlich einem in Armut lebenden Kind direkt Mittel zukommen, damit zum Beispiel ein Paar neue Turnschuhe gekauft oder das Schulessen bezahlt werden kann?

Meine Damen und Herren, Geldmittel sind doch vorhanden. Warum wird denn zum Beispiel das Bildungs- und Teilhabepaket nicht so organisiert, dass die zur Verfügung stehenden Mittel auch tatsächlich bei den Kindern ankommen?

(Zurufe von den GRÜNEN)

Nein, das ist Ländersache. Sie können nicht jedes Mal auf den Bund verweisen.

(Sigrid Beer [GRÜNE]: Natürlich!)

Die Verteilung der Mittel, die zur Verfügung stehen, ist Sache der Länder!

Familien müssen wahrgenommen werden und die Unterstützung erhalten, die sie individuell benötigen, wenn nötig eben auch mit einer gesetzlichen Verpflichtung wie bei der Erziehungshilfe, die unter Umständen verpflichtend in Anspruch genommen werden muss.

Nur mit solchen Instrumenten werden wir langfristig nicht nur das Niveau der Bildung an sich, sondern auch das Niveau der notwendigen und oft vermissten sozialen Bildung – der sozialen Kompetenz, kann man auch sagen – sicherstellen.

Wenn wir beim Thema „finanzielle Mittel“ sind, muss natürlich auch auf die Situation der Kommunen eingegangen werden. Der Sozialbericht nennt auf Seite 35 die bekannten erschreckenden Zahlen. Ende 2011 befanden sich 177 der 430 Gemeinden und Gemeindeverbände in Nordrhein-Westfalen in der Haushaltssicherung. Davon standen 144 Kommunen unter Nothaushaltsrecht. In 42 dieser Kommunen war die Überschuldung des kommunalen Haushalts bereits eingetreten oder drohte im Finanzplanungszeitraum einzutreten.

Der Bericht bringt es dann auf Seite 35 auf den Punkt. Dort heißt es:

„Die finanzielle Situation der öffentlichen Haushalte setzt die Rahmenbedingungen für die Gestaltung der Sozialpolitik sowohl auf Landesebene als auch in den Kommunen.“

Durch die viel propagierte Verschuldenspolitik setzt die Landesregierung den Grundstein für schlechte Sozialpolitik: die Förderung von Armut. Unverständlich ist, die Beitragsfreiheit für das dritte Kindergartenjahr für alle einzuführen, was nicht den armen Familien zugutekommt, die ohnehin nicht zahlen müssen. Es werden immer mehr Schulden, Schulden und nochmals Schulden gemacht, und damit wird die Sozialpolitik stranguliert.

Meine Damen und Herren, ich komme zum Schluss und stelle fest, dass hier keinerlei konkrete Maßnahmen und Hilfen zur Bekämpfung der Armut von der Landesregierung vortragen werden.

Ich kann mich in dieser Hinsicht nur einem früheren Kollegen, den ich persönlich nicht kenne, dem Abgeordneten Kreutz – übrigens von den Grünen –, anschließen, der schon im Februar 1992 zur Einführung der Sozialberichterstattung bemerkte – Plenarprotokoll 11/56 –:

„Berichte gehören ja zu den Dingen, zu denen sich die Landesregierung noch am ehesten bereitfindet, weil damit sozusagen Problembewusstsein dokumentiert und der Öffentlichkeit nach dem Motto: Gefahr erkannt, Gefahr gebannt! suggeriert werden kann, es passiere jetzt real etwas.“

Ich muss leider feststellen, dass dieses Zitat zeitlos ist und heute noch gilt. Denn auch heute wird den Menschen in unserem Land großes Verständnis für zahlreiche Probleme und wilden Aktionismus vorgegaukelt, passieren tut jedoch tragischerweise nichts.

Ich möchte nochmals betonen, dass der Sozialbericht 2012 über die Parteigrenzen hinaus eine breite Diskussion erfordert. Das würde ich mir auch wünschen. – Ich danke für die Aufmerksamkeit.

(Beifall von der CDU)

Vielen Dank, Herr Kollege Preuß. – Für die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen erteile ich Frau Grochowiak-Schmieding das Wort.

Manuela Grochowiak-Schmieding (GRÜNE) :

Sehr geehrte Frau Präsidentin! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Als Erstes möchte ich meinen Dank an den Herrn Minister richten für diesen ausführlichen, detailreichen und ehrlichen Sozialbericht.

(Beifall von den GRÜNEN)

Ich möchte auch für die Gelegenheit danken, meine erste Landtagsrede zu einem solch wichtigen Thema halten zu können.

Meine Damen und Herren, Deutschland ist eines der reichsten Länder der Erde. Deutschland ist das reichste Land in Europa. In Deutschland stehen wenige Superreiche immer mehr Menschen gegenüber, die in Bedrängnis geraten sind und sich fragen, wie und wovon sie ihren Lebensunterhalt überhaupt bestreiten sollen.

Der Sozialbericht des Landes NRW attestiert uns eine Gesellschaft, in der die Schere zwischen Arm und Reich immer weiter auseinandergeht – eine Tatsache, die sich durch Streichung oder Verwässerung unbequemer Wahrheiten so, wie die FDP das auf Bundesebene offenbar tut, nicht auflösen lässt.

(Beifall von den GRÜNEN)

Dieses Verhalten des Bundeswirtschaftsministers, Philipp Rösler von der FDP, dokumentiert sehr anschaulich seine fehlende Empathie und seine mangelnde Bodenhaftung.

Meine Damen und Herren, auch der Aufruf der Bundesministerin für Landwirtschaft, Ernährung und Verbraucherschutz, Frau Aigner, für die Tafeln in München Lebensmittel zu spenden, weil Lebensmittel nicht in den Müll gehörten, lenkt in Wahrheit doch nur davon ab, dass Tafeln und Suppenküchen nötig geworden sind, damit sich Arme ernähren können. Nein, meine Damen und Herren, Verleugnen und Vernebeln sind keine Lösung.

Vielmehr müssen wir ganz genau hinschauen: Wer ist von Armut betroffen, welche Ursachen hat Armut, und wie wirkt sie bei den Menschen und in der Gesellschaft?

Der Sozialbericht trifft hierzu ganz klare Aussagen. Risiken für Armut sind unter anderem Migrationshintergrund, Alter, Jugend und Behinderung. Ich kann es auch drastisch ausdrücken: Alle, die etwas anders sind oder die ganz einfach etwas mehr Zeit für die Dinge brauchen, laufen Gefahr, aus dem System zu kippen. Das fängt schon in Kita und Schule an. Kinder, deren Eltern einen geringen sozialen Status genießen, Kinder aus kinderreichen Familien, Kinder mit ausländischen Wurzeln, Kinder, die

bei einem alleinerziehenden Elternteil leben, haben geringere Chancen, werden in einem auf Aussortieren spezialisierten Schulsystem eher an den Rand gestellt als andere.

Vielen Kindern fehlt es an einer ermutigenden Erziehung, einer Unterstützung durch ihre Eltern, wodurch sie einerseits lernen, sich zu behaupten, andererseits aber auch lernen, Rückschläge wegzustecken, ohne gleich zu verzagen. Kinder werden zu oft seelisch und körperlich durch die Rohheit von Erwachsenen verletzt. Dadurch werden sie gehemmt, sich zu sozialisieren oder schlicht und ergreifend gute Leistungen in der Schule zu bringen.