Protokoll der Sitzung vom 30.01.2015

Die heutige Aktuelle Stunde ist, gedanklich gesehen, ein wenig die Fortsetzung der Debatte rund um die überfraktionell verabschiedete Resolution zur offenen und friedlichen Gesellschaft vom Mittwoch dieser Woche, in der wir alle zusammen festgestellt haben, dass wir das Problem mit Hass, Intoleranz und Radikalismus jeglicher Art nur als Gesamtgesellschaft lösen können. Es ist deshalb auch wichtig, dass wir am Mittwoch den Zusammenhalt aller Menschen, gleich welchen religiösen oder weltanschaulichen Hintergrundes, beschworen haben. In diesem Geiste müssen wir auch die Konsequenzen beraten, die sich aus dem Umgang mit den Gefahren ergeben, die unsere friedliche und offene Gesellschaftsordnung bedrohen.

Die antragstellende Piratenfraktion hat in einem Punkt natürlich recht. In der Tat können wir auf das Phänomen der aus Deutschland stammenden Dschihadkämpfer in Syrien nicht nur mit repressiven Maßnahmen antworten. Viele Syriengänger stammen nicht selten aus eher religionsfernen Familien. Ihre Radikalisierung vollzog sich fast unbemerkt von der großen Öffentlichkeit. Dazu hat meine Kollegin Verena Schäffer bereits gesprochen.

Ich möchte in meinem Redebeitrag auf die Notwendigkeiten angemessener gesellschaftlicher Rahmenbedingungen eingehen, die für einen gleichberechtigten Dialog wichtig sind. In den letzten Wochen war öfters davon die Rede, dass die größte religiöse Minderheit in Deutschland, die Muslime, sich stärker von den schrecklichen Anschlägen in Paris distanzieren sollen, dass sie ihren Glauben reformieren sollen, dass die Moscheegemeinden stärker gegen Radikalisierung vorgehen sollen. Meine Wahrnehmung ist, dass fast alle Muslime in unserem Land Gewalt im Namen der Religion ablehnen, weil sie ihren Glauben als einen friedlichen verstehen.

(Beifall von den GRÜNEN und den PIRATEN)

Auch stehen die meisten Moscheegemeinden für mich nicht als zentraler Ort von Radikalisierung im Fokus. Dies passiert oft ganz woanders.

Die jüngsten Befragungen zeigen, dass eine Mehrheit der Menschen in Deutschland im Islam eine Art

von Bedrohung sieht. Es gibt also Ängste in der Bevölkerung. Diese Ängste wollen natürlich auch Rattenfänger vom rechten Rand gerne für sich nutzen.

Auf der anderen Seite haben aber auch die Millionen friedlichen Musliminnen und Muslime Ängste. Viele meiner Freunde und Bekannten sind es mittlerweile gewohnt, sich für ihren Glauben zu rechtfertigen, wenn irgendwo auf der Welt wieder im Namen Gottes Anschläge durch fehlgeleitete Radikale verübt werden. Die islamfeindlichen Übergriffe und Anschläge auf Gebetshäuser sorgen zudem für Verunsicherung in der muslimischen Community. Nicht unerwähnt lassen möchte ich auch die zahlreichen Hassmails, die viele meiner Kolleginnen und Kollegen aus dem Bundestag, aus Landtagen, aber auch aus Kommunalparlamenten, die irgendwie als muslimisch oder fremd eingeordnet werden, von bestimmten Leuten erhalten und die vor Menschenverachtung nur so strotzen.

So kann das nicht weitergehen. Deshalb brauchen wir gerade jetzt ein Klima des Dialogs und des Vertrauens. Voraussetzung dafür ist aber auch, dass wir uns einander besser kennenlernen.

Gelegenheit für die Politik, sich gut zu informieren, gibt es genug. Lesen Sie sich die Interviews von Prof. Dr. Mouhanad Khorchide aus Münster durch, oder schauen Sie sich die Analysen zum verfehlten Islamverständnis von Terroristen an, die Prof. Dr. Bülent Uçar aus Osnabrück angestellt hat. Auch die Stellungnahmen der verschiedenen muslimischen Verbände in Deutschland zu diesem Punkt sind deutlich.

Die Landesregierung hat bereits seit einiger Zeit ebenso wie die Bundesregierung begonnen, den Dialog mit den Muslimen auf Augenhöhe zu führen. Gemeinsam arbeiten wir daran – an verschiedenen Stellen überfraktionell –, dass der Islam als ein selbstverständlicher Teil NRWs wahrgenommen wird und Muslime sich angenommen fühlen. So haben wir zusammen die Einführung des islamischen Religionsunterrichts in deutscher Sprache beschlossen. Ebenso sind wir im Gespräch mit den muslimischen Vertretern, was die Anerkennung als Religionsgemeinschaft betrifft. Im Herbst 2014 haben wir auch das Körperschaftsgesetz NRW offiziell in Kraft treten lassen. Dazu kommen das Bestattungsgesetz NRW und die Beratung mit muslimischen Vertretern zu sozialen Fragen im „dialog forum islam“.

Bundeskanzlerin Angela Merkel hat mit ihrem Satz, dass der Islam zu Deutschland gehört, eine wichtige Basis für den derzeitigen Dialog auf Bundesebene gelegt. Wir sollten uns trauen, diesen Dialog weiter zu führen.

Ich möchte mit folgendem Zitat des großen islamischen Philosophen und Mystikers Rumi enden:

„Geduld bedeutet, dass man immer weitblickend das Ziel im Auge behält, Ungeduld bedeutet,

dass man kurzfristig nicht die Bestimmung begreift.“

Vielen Dank.

(Beifall von den GRÜNEN und der SPD – Vereinzelt Beifall von den PIRATEN)

Vielen Dank, Herr Kollege Bas. – Für die Fraktion der Piraten spricht Frau Kollegin Brand.

Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Verehrte Zuschauer! Ich wollte eigentlich noch einmal darauf eingehen, wie Prävention vor der eigentlichen Radikalisierung stattfinden kann, dass man schon in Kindergärten und Schulen anfangen und aufpassen muss. Man muss beobachten und zuhören: Wo findet jemand vielleicht nicht seinen Lebensplan? Wo sondert sich jemand ab? Wo läuft jemand Gefahr? Wie kann man da intervenieren?

Ich möchte jetzt aber gerne auf meine Kollegen, die gerade gesprochen haben, eingehen. Man kann einen Text, wenn man will, auf Gedeih und Verderb auch missverstehen, missinterpretieren, man kann Falschaussagen hineindeuten. Daher sollte man sich wenigstens die Mühe geben, dem Redner zuzuhören, der zu unserer Aktuellen Stunde spricht. – Herr Hegemann, hier geht es übrigens nicht um einen Antrag, den Sie ablehnen können, sondern dies ist eine Aktuelle Stunde. Das schon mal als Rahmenbedingung.

(Beifall von den PIRATEN – Rainer Schmelt- zer [SPD]: Er ist noch nicht so lange dabei!)

Herr Herrmann hat zu Beginn seiner Rede ganz eindeutig gesagt, dass es selbstverständlich wichtig ist, gefährliche, gewaltbereite Rückkehrer mit der ganzen Härte des Gesetzes und mit der ganzen Kraft der Polizei zu beobachten. Das hat er extra noch einmal betont. Wenn andere davon reden, dass wir hier Heititei machen – Herr Dr. Stamp sprach vom Stuhlkreis und Ponyhof – oder überhaupt gegen Überwachung wären, dann ist das einfach falsch. Wir sind dafür, dass gewaltbereite Leute überwacht werden, dass dort die ganze Härte des Gesetzes greift.

Wir müssen uns aber bitte auch anschauen, wer da zurückkommt. Natürlich ist ein Teil davon gewaltbereit und gefährlich. Das sind Moslems oder konvertierte Moslems, die hier von Hasspredigern und durch Videos über Monate, vielleicht über Jahre radikalisiert worden sind. Bei den Leuten – Herr Minister Jäger spricht von ca. einem Viertel, also von aktuell zehn, die nach NRW zurückgekommen sind – müssen wir alles dafür tun, dass nichts passiert.

Wir haben inzwischen aber auch eine Art Tourismus nach Syrien. Das sind junge Leute – ja, es sind Männer und leider auch immer mehr Frauen –, die

in sehr, sehr kurzer Zeit beschließen, nach Syrien zu gehen – das ist für sie eine Art Abenteuer –, ohne groß nachzudenken, ohne wirklich tief infiltriert zu sein.

Ich denke zum Beispiel an die beiden Mädchen aus Wien, die vor ein paar Monaten nach Syrien ausgereist sind und nach zwei Wochen ihre Mama angerufen haben, die unbedingt wieder zurückwollten, weil sie gesehen haben: Oh Gott, was haben wir da getan? Wir haben uns etwas ganz anderes vorgestellt. – Auch solche kommen zurück.

Da hilft keine 24-Stunden-Überwachung, sondern da müssen wir sehen: An welcher Stelle haben sie ihren Lebensplan, ihr Lebensziel verloren? Wie können wir die wieder integrieren?

(Beifall von den PIRATEN)

Wenn Sie uns grenzenlose Naivität vorwerfen oder dass hier das ganz große Fass vom Kampf gegen den Islamismus aufgemacht würde, dann sage ich Ihnen: In unserer Aktuellen Stunde geht es um die Rückkehrer aus Syrien. Das habe viele der Redner nicht mit einem Wort erwähnt. Ich denke, die Aktuelle Stunde war wichtig. Viele Dinge sind schon auf dem Weg.

Herr Minister Jäger, Sie sagen: Wir dürfen bei Prävention und bei Repression nicht eine Seite vernachlässigen. – Wenn wir drei Leute bei „Wegweiser“ haben und Sie auf der anderen Seite 385 zusätzliche Beamte einstellen, dann machen Sie genau das. – Vielen Dank.

(Beifall von den PIRATEN)

Vielen Dank, Frau Kollegin Brand. – Für die Landesregierung spricht Herr Minister Jäger.

Herzlichen Dank. – Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Ich glaube, dass wir heute Morgen eine relativ abstrakte politische Diskussion darüber führen, wer sich eigentlich radikalisiert und wo der Schwerpunkt der Arbeit zu finden ist.

Wenn man sich einmal vor Augen führt – wir haben das versucht, indem wir in Nordrhein-Westfalen eine Vielzahl von Lebensläufen von Menschen, die in den Salafismus abgerutscht sind, analysiert haben –, wen man dort hat, was für Menschen das sind, dann kann man sagen: Es sind ganz häufig junge Männer – immer noch überwiegend, der Frauenanteil wächst stetig – im Alter zwischen 18 und 25, alle in einer Lebensphase, in der sie nach Werten und nach Orientierung suchen, in der sie zugleich Versagenserlebnisse haben, sei es in der Schule, im Beruf, im Studium oder in der Partnerschaft, und die ein unterdurchschnittliches Selbstwertgefühl haben. Das sind übrigens Eigenschaften und Charakterzüge, die für alle

extremistischen Strömungen und Phänomene gelten. Die sind besonders empfänglich.

Der Salafismus hat aus unterschiedlichen Gründen noch eine zusätzliche Attraktivität.

Das Erste ist: Es wird eine Ideologie versprochen, die selbst für komplizierteste Fragen des Lebens Antworten bereithält.

Das Zweite ist, dass der Salafismus damit wirbt: Egal, wer du bist, woher du kommst, ob du Christ warst oder Muslim, der die Religion nicht ausgeübt hast, wenn du zu uns kommst, dann bist du wieder wer; du bist bei uns anerkannt.

Das Gefährliche am Salafismus ist insbesondere der dritte Punkt: das Werben damit, diese extremistische Ideologie in die Tat umsetzen zu können, indem man sich dem angeblichen Dschihad in Syrien oder im Nordirak anschließt. Man kann selbst aktiv etwas tun. Das Bedauerliche ist, dass der IS hochprofessionell im Internet wirbt, die Kampfhandlungen glorifiziert. Die Brutalität und die Unmenschlichkeit des Bürgerkrieges gerade in Syrien nehmen die Menschen dabei gar nicht wahr, sondern erfahren sie erst vor Ort. – Das sind die Menschen, über die wir reden.

Egal, wie wir heute Morgen hier streiten, ich denke, wir alle sind uns einig: Egal, welche Anstrengungen wir unternehmen, wir werden es nicht schaffen, alle vor dem Abgleiten in den Salafismus zu bewahren. Genauso werden wir es nicht schaffen, jeden, der enttäuscht, desillusioniert, traumatisiert oder aber zusätzlich radikalisiert aus Syrien zurückkehrt, zu deradikalisieren. Das wäre in der Tat naiv. Deshalb ist es wichtig, dass wir auf beiden Seiten arbeiten – Prävention und Repression.

Herr Herrmann und Herr Stamp, man kann ja mal an solchen Projekten rummäkeln und sagen: Das alles geht nicht schnell genug – größer, schneller, weiter. – In Nordrhein-Westfalen sind wir im Rahmen der Salafismusprävention einen Pfad gegangen, den andere erst noch suchen müssen. Wir haben hier Dinge entwickelt, die noch nirgendwo vorhanden waren. Wir haben inzwischen große Akzeptanz für unsere Präventionsprojekte, insbesondere bei denen, deren Hilfe, deren religiöse Kompetenz wir brauchen. Das sind die Muslimverbände, die Moscheevereine, die Imame, die wir dort eingebunden haben.

(Zuruf von Frank Herrmann [PIRATEN])

Ich glaube, dass von dem Wissen, das wir inzwischen über unseren Weg haben gewinnen können, die Erkenntnisse, die wir haben gewinnen können, andere Länder, egal ob in Deutschland oder international, davon werden profitieren können, weil es dort so etwas noch lange nicht gibt. Es ist immer leicht, Schnelligkeit einzufordern. Ich denke, dass wir auf diesem Gebiet in der Tat beispielgebend sind mit dem, was wir tun.

Meine nächste Bemerkung geht in Richtung FDP: Herr Lürbke, ritualhaft stellen Sie dar, Rot-Grün würde Polizei abbauen. Genauso ritualhaft, kontinuierlich, wie Sie das sagen, werde ich antworten: In Nordrhein-Westfalen

wächst die Polizei, weil wir deutlich mehr Einstellungen vorgenommen haben als die Vorgängerregierung. Sie wächst deshalb, weil die vorhandenen Ausbildungskapazitäten von uns konsequent ausgenutzt werden. Hätte SchwarzGelb diesen Mut und diese Entschlossenheit besessen wie wir jetzt, würde diese demografische Lücke ab 2018 gar nicht erst entstehen müssen. Um es deutlich zu sagen – auch ritualhaft –, Herr Lürbke: Diese Lücke ist die schwarz-gelbe Lücke.

(Beifall von der SPD und den GRÜNEN)

Ich möchte noch eine letzte Anmerkung machen. Frau Güler, Sie verweisen darauf, was Grün-Rot in Baden-Württemberg macht. Sie verweisen darauf, dass in Baden-Württemberg tatsächlich ein fünfseitiger Brief an die Schulen geschrieben worden ist. – Ich sage Ihnen ganz offen: Wenn man Radikalisierung verhindern will, wenn man Lehrer, Schüler und die Elternschaft über dieses Phänomen und dessen Gefährlichkeit aufklären will, dann reichen keine Briefe, Frau Güler.

(Beifall von der SPD)

Sondern dann muss das angegangen werden, so wie wir es in Nordrhein-Westfalen machen: einerseits durch eine ordentliche Internetpräsenz zu informieren, andererseits vor allem gemeinsam mit dem Verfassungsschutz und dessen Analysekompetenz, dem Schulministerium und dem Integrationsministerium die Schulen einzuladen – damit haben wir bereits im letzten Jahr begonnen, das werden wir in diesem Jahr noch weiter ausbauen – und denen zu vermitteln und sie darüber zu informieren, was die Ideologie Salafismus ist, wie Schüler darauf reagieren und wie man damit umgehen kann. Ich glaube, das ist ein deutlich qualifizierterer Weg, den wir in Nordrhein-Westfalen gehen, als nur Briefe zu schreiben. – Herzlichen Dank für die Aufmerksamkeit.

(Beifall von der SPD und den GRÜNEN)

Vielen Dank, Herr Minister. Mir liegen keine weiteren Wortmeldungen vor. Damit sind wir am Schluss der Aussprache zu dieser Aktuellen Stunde. Ich schließe die Aktuelle Stunde.