Protokoll der Sitzung vom 26.06.2019

Da wir den Eilantrag in verbundener Debatte mitbehandelt haben, kommen wir zur Abstimmung über den Eilantrag der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen Drucksache 17/6642.

(Zuruf von Helmut Seifen [AfD])

Über einen Eilantrag ist, wie Sie wissen, direkt abzustimmen. Wer also diesem Eilantrag seine Zustimmung geben möchte, bitte ich um das Handzeichen. – Das sind die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen, die Fraktion der CDU, die Fraktion der SPD, die Fraktion der FDP und die beiden fraktionslosen Abgeordneten Pretzell und Langguth. Wer stimmt dagegen? – Niemand. Wer möchte sich enthalten? – Die AfD-Fraktion hat sich enthalten. Damit ist der Eilantrag Drucksache 17/6642 mit dem festgestellten Abstimmungsergebnis angenommen, und wir schließen die Debatte zu Top 1 insgesamt.

Ich rufe auf:

2 Keine weitere Zeit verlieren! Die Einsetzung ei

nes Untersuchungsausschusses gemäß Artikel 41 der Landesverfassung Nordrhein-Westfalen zum Behördenskandal im Zusammenhang mit dem publik gewordenen langjährigen und vielfachen Kindesmissbrauch auf einem Campingplatz in Lügde darf sich nicht noch weiter verzögern! („PUA Lügde“)

Antrag der Abgeordneten der Fraktion der AfD Drucksache 17/6582

In Verbindung mit:

Einsetzung eines Untersuchungsausschusses gemäß Artikel 41 der Landesverfassung Nordrhein-Westfalen zum Vorgehen der nordrhein-westfälischen Landesregierung und der Ermittlungsbehörden sowie der Jugendämter im Fall des Verdachts des vielfachen sexualisierten Kindesmissbrauchs auf einem Campingplatz in Lügde und ggf. an anderen Orten (PUA Kindesmissbrauch)

Antrag von 65 Abgeordneten der Fraktion der CDU, der Abgeordneten der Fraktion der SPD, von 26 Abgeordneten der Fraktion der FDP und

der Abgeordneten der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN Drucksache 17/6660

Vor Eintritt in die Tagesordnung – Sie erinnern sich – haben wir Tagesordnungspunkt 2, über den wir jetzt debattieren, geändert.

Ich eröffne die Aussprache, und als erster Redner hat für die AfD-Fraktion Herr Kollege Wagner das Wort.

Sehr geehrte Frau Präsidentin! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Kolleginnen und Kollegen! Nun stehe ich hier bereits das dritte Mal für die Aufarbeitung vergangener und die Verhinderung zukünftiger tausendfacher Fälle von sexuellem Missbrauch an Kindern am Rednerpult. Schon das dritte Mal kämpfe ich nun für meine AfDFraktion um die systematische Aufarbeitung struktureller Defizite bei Nordrhein-Westfalens Polizei und Jugendämtern.

Drei Dinge sind es auch, die im Fall Lügde zusammenkommen:

Erstens die noch gerichtlich festzustellende individuelle Schuld der mutmaßlichen Täter, womit jetzt begonnen wird, zweitens das Versagen staatlicher Behörden, das für dieses Tatausmaß nicht hinweggedacht werden kann.

Drittens sind das die parteitaktischen Spielchen der letzten Monate – Spielchen, die von CDU, FDP, Grünen und besonders der SPD gespielt wurden, parteipolitische Spielchen, die vor dem Hintergrund der 41 minderjährigen Opfer und der bestialischen Taten an ihnen völlig – damit meine ich: vollkommen und absolut – unangebracht sind.

Meine Damen und Herren aus den alten Fraktionen, indem Sie ernsthaft erst gestern Abend einen gemeinsamen Antrag vorgelegt und sich vorher über Monate herumgestritten haben, nachdem staatliche Stellen ein erschreckendes Bild in diesem Fall abgegeben haben, liefern Sie, die doch vom Volk als Teil der staatlichen Sphäre wahrgenommen werden, hier gleich noch den nächsten Grund für den Vertrauensverlust in unsere Institutionen.

CDU und FDP wollten über Monate gar keinen Untersuchungsausschuss. Da hieß es, weil man wohl bei der für die Demokratie grundlegenden Gewaltenteilung nicht aufgepasst hatte: Die Exekutive kontrolliert die Exekutive. – Nein, meine Damen und Herren, richtig lautet der Satz: Die Legislative – also wir, das Parlament – kontrolliert die Regierung.

Sie waren es auch, die einem Untersuchungsausschuss nicht zustimmen wollten, weil Sie vorgaben, da müsse der Fall in Bad Oeynhausen – der gar nichts mit dem Fall in Lügde zu tun hat – mitbehandelt werden.

Selbst wenn wir kurz annehmen wollten, Sie hätten damit recht gehabt: In Ihrem ursprünglichen Antrag wie auch in dem Antrag der großen Vier ist der Themenkomplex meiner Heimatstadt gar nicht vermerkt. Es war also, so muss ich vermuten, ein Scheinargument.

Wenn wir schon bei Scheinargumenten sind: Da ist in der Regel die SPD nicht weit. Die SPD-Fraktion hat hier unter allen Fraktionen die unwürdigste und erbärmlichste Rolle gespielt. Erst wollten Sie einen Untersuchungsausschuss – irgendwann. Dann wollten Sie den Rücktritt des Innenministers, drei Tage nachdem Sie schließlich doch keinen Untersuchungsausschuss wollten, weil der Innenminister die Angelegenheit zur Chefsache erklärt hatte. Dann wollten Sie doch einen Ausschuss, aber bitte um Gottes willen ohne das Thema „Jugendämter“, weil Sie Angst davor haben, dass danach die roten Landräte in Lippe und Hameln-Pyrmont in die Wüste geschickt werden.

Seit gestern Abend haben wir nun einen Antrag vorliegen, den die Grünen der SPD diktiert haben, und bei dem die CDU noch die Reihenfolge der Themenkomplexe ändern konnte, damit der Minister nicht im Fokus steht.

Ich muss es jenseits irgendwelcher Rechts-LinksGegensätze für unsere Fraktion einmal ganz eindeutig sagen: Wir als AfDler sind keine jahrzehntelangen Berufs- und Parteipolitiker. Wir sind nicht seit Juso- und JU-Zeiten damit aufgewachsen, zuallererst den parteilichen Gruppenegoismus zu leben.

(Daniel Sieveke [CDU]: Quatsch!)

Wir alle hatten ein Leben vor der Partei – als Mütter, Väter, Unternehmer und Angestellte.

Das macht sich zum Beispiel auch daran deutlich, dass bei uns Entscheidungsprozesse völlig anders ablaufen als bei Ihnen – eben nicht, zumindest nicht zuvörderst, mit dem kurzfristigen Blick durch die parteipolitische Brille, sondern der Sache nach; Sie können es auch „gesunden Menschenverstand“ nennen. Was klar auf der Hand liegt, das machen wir.

Klar war bereits Mitte Februar dieses Jahres, dass wir einen Parlamentarischen Untersuchungsausschuss benötigen. Wir haben dann – ich kann das von uns selbst abstrahierend ohne falsches Selbstlob sagen – einen Antrag in exzellenter Art und Weise vorgelegt, der für jeden hier im Haus prinzipiell zustimmbar war.

Wir haben ihn im April vorgelegt – Sie lehnten ab. Wir haben ihn im Mai vorgelegt – Sie lehnten ab. Echte Gründe gab es nie; der Grund war vielmehr: Der Antrag kommt von der falschen Fraktion, anhand deren Existenz – die das Ergebnis Ihrer eigenen Schwächen ist – Sie die Gesellschaft spalten, selbst bei Themen wie dem Kindesmissbrauch. Ich finde das furchtbar!

(Beifall von der AfD)

Ich finde das nicht deshalb furchtbar, weil wir das als Fraktion etwa nicht aushalten würden – das nehmen wir locker hin. Es ist furchtbar wegen der betroffenen Kinder.

Im Juni liegen jetzt auf einmal drei Anträge auf Einrichtung eines Untersuchungsausschusses auf dem Tisch, die bis gestern eingegangen sind. Nun erfolgt eine chaotische Einbringung, beruhend auf einer kreativen Auslegung der Geschäftsordnung. Warum? – Weil Sie bis gestern Abend Ihre parteipolitischen Egoismen wichtiger nahmen, als in der Sache angemessen zu agieren.

Im Gegensatz dazu lassen wir Ihren Antrag heute durch, obwohl wir schon aufgrund der Art und Weise der Einbringung starke rechtliche Zweifel hegen. Trotz dieser Bedenken ist es uns wichtiger, dass wir als AfD nun endlich unser Ziel erreicht haben, das wir seit April hier im Plenum verfolgen: Wir bekommen heute endlich den von uns von Beginn an geforderten Parlamentarischen Untersuchungsausschuss zum Fall Lügde.

Diesen ganzen unwürdigen Zinnober hätten wir uns ersparen können, wenn Sie von Anfang an mit uns zusammengearbeitet hätten, so wie es der Sache gegenüber angemessen gewesen wäre.

Im April-Plenum wurde sogar deutlich gesagt, dass wir fraktionsübergreifend – alle Fraktionen einbezogen – in dieser Sache zusammenarbeiten wollen. Ich habe damals schon gemutmaßt, dass dies wohl nicht Ihr Ernst ist. Ich habe heute damit recht behalten. Sie haben das untereinander ausgekungelt und es nicht für nötig gehalten, alle Fraktionen dieses Hauses einzubeziehen. Von daher ist es klar und logisch, dass wir unseren Antrag aufrechterhalten.

Nun aber, da wir heute endlich den von uns als AfDFraktion geforderten PUA bekommen, will ich hoffen, dass Sie wenigstens in der Ausschussarbeit die parteitaktischen Mätzchen unterlassen. Das gilt auch für die Bewertung, inwieweit wir zu strukturellen Reformen bei Polizei und Jugendamt kommen. Keiner sollte da mit vorgefertigten Meinungen hineingehen und nur danach trachten, seine feststehende Meinung zu bestätigen.

Das gilt ebenso für das Handeln der Minister und Landräte. Das gilt auch für den jetzigen Ministerpräsidenten Armin Laschet, der 2007 – darüber kann man ja reden – für kleinteilige Jugendämter, aber womöglich nicht für ausreichende Standards zum Beispiel für Pflegschaften und eine entsprechende Finanzierung gesorgt hat, so wie seine Nachfolger bisher übrigens auch nicht.

Auch da müssen wir ran, und dabei wünsche ich uns allen viel Erfolg. Lassen Sie uns mit diesem Untersuchungsausschuss Nordrhein-Westfalen ein Stück besser machen. – Herzlichen Dank.

(Beifall von der AfD)

Vielen Dank, Herr Wagner. – Für die CDU-Fraktion spricht jetzt Herr Kollege Panske.

Sehr geehrte Frau Präsidentin! Sehr geehrte Kolleginnen und Kollegen! Bei einem Tatkomplex wie dem Fall Lügde ist es schwierig, die richtigen, die angemessenen Worte dafür zu finden, welches Leid eine Tätergruppe von Erwachsenen über Kinder gebracht hat, welche Schuld sie – nicht nur im rein strafrechtlichen Sinne, sondern auch im moralischen Sinne: als brutale Erwachsene gegenüber wehrlosen, unschuldigen Kindern – auf sich genommen hat und wer überdies in welchem Maße Verantwortung dafür mitträgt, dass diese Taten nicht früher erkannt wurden und damit verbunden das Leid der Kinder nicht früher gestoppt worden ist.

Ja, da fehlten mir in den letzten Wochen manchmal die richtigen Worte, wenn ich mir den gesamten Tatkomplex von Lügde angeschaut habe – nicht nur, weil diese Taten so unfassbar und so unbeschreiblich sind, sondern auch, weil im Anschluss im Zuge der Ermittlungen Fehler und anscheinend ungeheure Unzulänglichkeiten passieren konnten.

Diese Gesamtumstände, die uns mitunter sprachlos gemacht haben, müssen und wollen wir aufarbeiten, aufklären und das Ganze mit richtigen und deutlichen Worten in einen Abschlussbericht fassen, aus dem wir dann auch politisch die richtigen Konsequenzen ziehen können. Bei der Aufarbeitung müssen für uns alle die Kinder aus Lügde, die Opfer von schwerstem Missbrauch und brutaler Gewalt wurden, immer im Vordergrund stehen.

(Beifall von der CDU – Vereinzelt Beifall von der FDP)

Das gilt bei der Aufarbeitung der Umstände, warum und wie diese Taten vor Ort überhaupt so lange andauern konnten und warum die Kinder so massiv und so lange leiden mussten. Gab es vor Ort vielleicht niemanden, der das erkennen konnte oder wollte oder der entschieden genug handelte?

Aus Opfersicht ist genau das die wichtigste Frage: Warum? Warum ist in Lügde und Umgebung niemand früher eingeschritten? Warum hat niemand das Ganze früher gestoppt? Warum wurde den Kindern nicht früher geholfen? War es Überforderung von Einzelnen? War es Überarbeitung, falsche Kommunikation, Ignoranz, Gleichgültigkeit, fehlende Motivation? Oder waren es schlichtweg fehlerhafte Strukturen in und zwischen den Behörden, ein nicht erkanntes bzw. sträflich vernachlässigtes Kompetenzwirrwarr oder möglicherweise ein folgenschwerer Mix aus alledem?

Innenminister Reul hat sehr schnell von „Behördenversagen“ gesprochen. Dafür wurde er zunächst kritisiert. Aufgabe dieses Untersuchungsausschusses wird es sein, dies aufzuarbeiten. Ich nehme ganz bewusst hier und heute keine Vorbewertung vor. Was ich jedoch als Mitglied des Innenausschusses sagen möchte, ist, dass das offenkundige Bemühen des Ministers um Transparenz und zeitnahe Information des Parlamentes, der Obleute und des Ausschusses immer gegeben war. Dass es ihm ernst war und er selbst tief betroffen war und ist, konnte jeder sehen.

Ihm geht es – wie uns allen, denke ich – um die Kinder und was ihnen an Leid angetan wurde. Genau das muss deshalb als Erstes geklärt werden und im Fokus eines Untersuchungsausschusses stehen. Genau das erwarten die Opfer, die betroffenen Kinder, und die Eltern als Allererstes – und das erwarten sie zu Recht: zuerst die Opfer, dann alles andere.

(Beifall von der CDU – Vereinzelt Beifall von der FDP)

Das sind wir als Staat und als Politiker diesen Kindern und ihren Eltern zuallererst schuldig.

Lassen Sie uns bei der Aufklärung und Aufarbeitung dort beginnen, wo jeder Kriminalist beginnen würde: am Tatort und dessen Umgebung. Beginnen wir gemeinsam mit der Aufklärung und Aufarbeitung dort, wo das unfassbare Unheil seinen Anfang nahm; dort, wo schnelle und energische Hilfe so nah, so einfach und ungemein wichtig gewesen wäre.