Protokoll der Sitzung vom 09.10.2019

(Beifall von der AfD)

Vielen Dank, Herr Seifen. – Jetzt spricht der fraktionslose Abgeordnete Herr Langguth.

Sehr geehrter Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Ich unterstütze Ihren vorliegenden Antrag, liebe Kollegen und Kolleginnen der SPD, mit vollem Nachdruck. Sie fordern darin, aus dem Untergang der SED-Diktatur und dem Unrechtsregime der DDR Lehren für Freiheit und Demokratie zu ziehen. Sie fordern weiter eine deutsche Erinnerungskultur, um die Erinnerung an die Opfer der zweiten deutschen Diktatur lebendig zu halten. Meine volle Unterstützung für diese Forderung, die doch im Kern von nichts anderem als von den realen zeitgenössischen Tatsachen ausgeht!

Die Liste der Todesopfer allein an der Mauer in Berlin ist trauriger Beweis für die Unmenschlichkeit des

SED-Unrechtssystems. Sie enthält 126 erdrückende Einzelbeweise.

Angesichts dieser unbestreitbaren Unrechtsfaktoren macht es mich regelrecht fassungslos, wenn ich lesen muss, dass Manuela Schwesig – das ist heute schon mehrfach angesprochen worden –, immerhin Ministerpräsidentin Mecklenburg-Vorpommerns und bis vor Kurzem sogar noch kommissarische Bundesvorsitzende Ihrer Partei, dieser Tage sagt, man solle die DDR nicht als Unrechtsstaat bezeichnen. Dann muss ich Sie allen Ernstes fragen: Als was denn sonst, wenn wir eine Diktatur schon nicht mehr als Unrechtsstaat bezeichnen dürfen?

Hier ist deutlich zu erkennen, dass Ihr Antrag, aus der DDR-Diktatur Lehren für Freiheit und Demokratie zu ziehen, dringend notwendig und hochaktuell ist, und zwar leider – das bedaure ich außerordentlich – anscheinend gerade auch in Ihren Kreisen.

(Zuruf: Unsinn!)

Allen, die heute anfangen, die Verbrechen der DDR zu verharmlosen und zu relativieren, und sei es nur aus Unwissenheit oder Wissensdefiziten, möchte ich empfehlen: Besorgen Sie sich die Liste der Mauertoten mit Namen, Datum ihres gewaltsamen Todes und ihrem damaligen Alter. Das wird Ihren Blick auf die Realität schärfen; das garantiere ich Ihnen.

Gestatten Sie mir, dass ich aus dieser Liste, einem chronologischen Zeitdokument, willkürlich einige Namen vorlese, um einen Anstoß zum ernsten Nachdenken auch über dieses traurige Kapitel der deutschen Geschichte zu geben. Ich beginne:

Ida Siekmann, 58; Günter Litfin, 24; Roland Hoff, 27; Rudolf Urban, 47; Olga Segler, 80; Bernd Lünser, 22; Udo Düllick, 25; Werner Probst, 25; Lothar Lehmann, 19; Dieter Wohlfarth, 20 Jahre.

Ingo Krüger, 21; Georg Feldhahn, 20; Dorit Schmiel, 20; Heinz Jercha, 27; Philipp Held, 19; Klaus Brueske, 23; Peter Böhme, 19; Horst Frank, 19; Lutz Haberlandt, 24; Axel Hannemann, 17 Jahre.

Erna Kelm, 53; Siegfried Noffke, 22; Peter Fechter, 18; Hans-Dieter Wesa, 19; Ernst Mundt, 40; Anton Walzer, 60; Horst Plischke, 23; Ottfried Reck, 17; Günter Wiedenhöft, 20; Hans Räwel, 21 Jahre.

Horst Kutscher, 31; Peter Kreitlow, 20; Wolf-Olaf Muszynski, 16; Peter Mädler, 19; Siegfried Widera, 22; Klaus Schröter, 23; Dietmar Schulz, 24; Dieter Berger, 24; Paul Schultz, 18; Walter Hayn, 25 Jahre.

Adolf Philipp, 20; Walter Heike, 29; Norbert Wolscht, 20; Rainer Gneiser, 19; Hildegard Trabant, 37; Wernhard Mispelhorn, 18; Hans-Joachim Wolf, 20; Joachim Mehr, 19; Christian Buttkus, 21 Jahre.

Ulrich Krzemien, 24; Hans-Peter Hauptmann, 26; Hermann Döbler, 42; Kraus Kratzel, 25; Klaus Gar

ten, 24; Walter Kittel, 23; Heinz Cyrus, 29; Heinz Sokolowski, 47; Erich Kühn, 62; Heinz Schöneberger, 27 Jahre.

Dieter Brandes, 19; Willi Block, 31; Lothar Schleusener, 13; Jörg Hartmann, 10; Willi Marzahn, 21; Eberhard Schulz, 20; Michael Kollender, 21; Paul Stretz, 31; Eduard Wroblewski, 33; Heinz Schmidt, 46 Jahre.

Karl-Heinz Kube, 17; Max Willi Sahmland, 37; Franciszek Piesik, 24; Elke Weckeiser, 22; Dieter Weckeiser, 25; Herbert Mende, 29; Bernd Lehmann, 18; Siegfried Krug, 28; Horst Körner, 21; Johannes Lange, 28 Jahre.

Klaus-Jürgen Kluge, 21; Leo Lis, 45; Eckhard Wehage, 21; Christel Wehage, 23; Heinz Müller, 27; Friedhelm Ehrlich, 20; Gerald Thiem, 41; Helmut Kliem, 31; Hans-Joachim Zock, 30 Jahre.

Christian-Peter Friese, 22; Rolf-Dieter Kabelitz, 19; Wolfgang Hoffmann, 28; Werner Kühl, 22; Dieter Beilig, 30; Horst Kullack, 23; Manfred Weylandt, 29; Klaus Schulze, 19; Holger H., 1 Jahr; Volker Frommann, 29 Jahre.

Horst Einsiedel, 33; Manfred Gertzki, 30; Burkhard Niering, 23; Czeslaw Kukuczka, 39; Johannes Sprenger, 68; Herbert Halli, 21; Lothar Hennig, 21; Dietmar Schwietzer, 18; Henri Weise, 22; Wladimir Odinzow, 18 Jahre.

Marienetta Jirkowsky, 18; Hans-Peter Grohganz, 32; Johannes Muschol, 31; Hans-Jürgen Starrost, 26; Thomas Taubmann, 26; Lothar Fritz Freie, 27, Silvio Proksch, 21; Michael-Horst Schmidt, 20 Jahre.

Rainer Liebeke, 34; Manfred Mäder, 38; René Gross, 22; Michael Bittner, 25; Lutz Schmidt, 24; Ingolf Diederichs, 24; Chris Gueffroy, 20; Winfried Freudenberg, 32 Jahre.

Ich bedanke mich beim Präsidenten dafür, dass ich diese Liste zu Ende vortragen durfte, und empfehle Ihnen, vielleicht einmal mit Frau Schwesig zu reden. – Danke.

(Beifall von Frank Neppe [fraktionslos])

Vielen Dank, Herr Langguth.

Ich finde, dass man das Vortragen solcher Listen nicht unterbrechen kann. Aber das war an dieser Stelle meine persönliche Entscheidung. Ich bitte dafür um Verständnis. Wir waren in der Aktuellen Stunde aber sehr schnell. Insofern hatten wir auch die Zeit, die komplette Liste als Anstoß zum Gedenken mit aufnehmen zu können. Das tun wir natürlich auch.

Nun spricht für die Landesregierung Herr Minister Dr. Stamp.

Herr Präsident, ich freue mich darüber, dass Sie einen ausgesprochen angemessenen Umgang damit gefunden haben. Vielen Dank dafür, dass Sie den Vortrag der Liste hier nicht unterbrochen haben.

Meine sehr verehrten Damen und Herren, heute vor 30 Jahren, am 9. Oktober 1989, wurde das Schicksal der DDR entschieden. Heute jährt sich zum 30. Mal der entscheidende Höhe- und Wendepunkt der friedlichen Revolution 1989 in der DDR.

Der bereits von unserer Vizepräsidentin Gödecke angesprochene Pfarrer der Leipziger Nikolaikirche, Christian Führer, hat es auf den Punkt gebracht: „Die DDR war am Abend des 9. Oktober nicht mehr dieselbe wie am Morgen.“

Die Montagsdemonstration am 9. Oktober 1989 in Leipzig läutete das Ende der SED-Diktatur ein; denn nicht die erwarteten 10.000, 20.000 oder vielleicht 25.000 Demonstranten kamen, nachdem zwei Tage vorher in Plauen bereits 17.000 Menschen demonstriert hatten, sondern es kamen 70.000 Menschen. Und es blieb friedlich.

Wir vergessen heute schnell, in welcher Bedrohungssituation sich die Demonstranten befanden, wie real die Möglichkeit eines neuen 17. Juni 1953, einer erneuten Niederschlagung, war. Die Bürgerinnen und Bürger hatten noch die Bilder vom Massaker in China am Tian’anmen-Platz im Kopf, und sie sind trotzdem auf die Straße gegangen.

Frau Kollegin Gödecke hat vorhin ausgeführt, wie die Bedrohungslage war, auch was die Hinweise an Krankenhäuser anging, die bereits mit Blutkonserven, zusätzlichen Betten und Chirurgen Vorsorge getroffen hatten für die von Stasi und Partei angedeutete Niederschlagung der sogenannten Konterrevolution. Man hatte ja entschieden, an dem Tag ein Fanal zu setzen.

Trotzdem sind die Bürgerinnen und Bürger zu den Friedensgebeten in den Kirchen, in die Nikolaikirche und in andere Kirchen, gegangen. Ich glaube, dass sich die Verantwortlichen dort auch wirklich verantwortlich gezeigt und von vornherein gesagt haben – und das war das Entscheidende –: Für uns gilt an diesem Tag der Satz „Keine Gewalt!“. Und das Interessante ist, dass der langjährige Präsident der Volkskammer im Rückblick gestanden hat: „Wir waren auf alles vorbereitet, aber nicht auf Kerzen und Gebete.“

Liebe Kolleginnen und Kollegen, dieses Eingeständnis des seinerzeit dritthöchsten Mannes in der DDR bringt es auf den Punkt: In der Friedfertigkeit des Protests am 9. Oktober lag der eigentliche Schlüssel zum Erfolg. Die staatlichen Kräfte hatten sich in den Tagen zuvor auf schwere, gewaltsame Auseinandersetzungen eingerichtet und unverhohlen gedroht. An

anderer Stelle im Land sind zahlreiche Menschen von Sicherheitskräften der DDR geschlagen und verhaftet worden. Auch an diese Menschen sollten wir an dem heutigen Tag ganz besonders erinnern. Trotzdem ist die Masse der Bürgerinnen und Bürger friedlich geblieben, hat sich nicht provozieren lassen und hat eben dadurch die SED-Gewaltherrschaft gebrochen.

Wir sollten nicht vergessen, dass dieses Erbe auch ein Auftrag ist, dass alles, was damals in diesen schwierigen Wochen und Monaten errungen wurde, nicht selbstverständlich ist und dass wir alle etwas tun müssen, damit die Errungenschaften von Einigkeit und Recht und Freiheit weiterhin unsere Gesellschaft und unser Leben prägen und auch das unserer Kinder, liebe Kolleginnen und Kollegen.

(Beifall von der CDU, der SPD, der FDP, den GRÜNEN und Alexander Langguth [fraktions- los])

Ich will es noch einmal ganz deutlich sagen: Die Menschen in Ostdeutschland haben in jenen Tagen und vor allem am 9. Oktober 1989 im Aufstand gegen diese Diktatur Leib und Leben riskiert. Wer heute von der Bundesrepublik Deutschland als einer DDR 2.0 spricht, wer behauptet, in unserem Land sei die Meinungsfreiheit eingeschränkt, und wer die Europäische Union als EUdSSR verunglimpft, dem fehlen nicht nur historisches und politisches Urteilsvermögen, sondern er versündigt sich auch an all den mutigen Männern und Frauen, die heute vor 30 Jahren für genau diese Meinungsfreiheit Leib und Leben riskiert und damit den Einsturz einer Diktatur ermöglicht haben.

(Beifall von der CDU, der SPD, der FDP, den GRÜNEN und Alexander Langguth [fraktions- los])

Eine Diktatur ist immer ein Unrechtsstaat. Hier darf es keine Relativierung geben. Die Einordnung als Unrechtsstaat bedeutet aber eben nicht, dass die Biographien der Bürgerinnen und Bürger der DDR abgewertet werden dürfen. Ganz im Gegenteil! Sicher liegt es manchmal auch an einer gewissen Hochnäsigkeit von uns Westdeutschen, dass wir auch 30 Jahre nach dem Mauerfall starke Friktionen in unserer Gesellschaft haben.

Natürlich – und das ist hier zu Recht angesprochen worden – war es eine historische Leistung von Helmut Kohl und Hans-Dietrich Genscher, die Chance der Einheit gemeinsam mit den europäischen Partnern, gemeinsam mit dem westlichen Bündnis und gemeinsam mit Michail Gorbatschow und Eduard Schewardnadse zu nutzen. Aber die friedliche Revolution selbst, den Mauerfall, haben die Bürgerinnen und Bürger der DDR selbst erzwungen, meine Damen und Herren.

(Beifall von der CDU, der SPD, der FDP, den GRÜNEN und Alexander Langguth [fraktions- los])

Und was besonders imponiert: Sie haben ihn friedlich erzwungen. Neben dem Ruf „Wir sind das Volk“ erklang auch immer wieder „Keine Gewalt!“. Was anfangs natürlich die Aufforderung an das Regime gewesen ist, nicht zu schießen und nicht zu knüppeln, richtete sich später auch an die Mitdemonstranten, um etwa von Racheakten bei der Besetzung von Stasizentralen abzusehen. Es ging den Demonstrantinnen und Demonstranten eben nicht darum, mit Gewalt ihre Position zu verstärken, sondern um Dialog.

Statt „Stasi in den Knast!“ ertönte oft das tiefgründige und humorvolle „Stasi in die Produktion!“. Gegründet wurden keine Bürgerwehren, sondern runde Tische. Und die Kultur der runden Tische setzte auf Dialog, auf das Gespräch mit den Andersdenkenden, mit den privilegierten SED-Funktionären, die den Unrechtsstaat vertraten.

Gerade in der heutigen Zeit, in der sachliche Auseinandersetzungen immer schwieriger werden und viele immer mehr dazu neigen, den Andersdenkenden von vornherein als Gegner zu sehen, sollten wir vielleicht an diesem 9. Oktober einmal innehalten und uns fragen, ob wir von dieser großartigen, weil friedlichen ostdeutschen Revolution nicht etwas lernen können: zuzuhören, sich auf die Argumente des Anderen einzulassen und nicht in jedem abweichenden Mitdiskutanten direkt entweder den „linksversifften Gutmenschen“ oder den „Nazi“ zu sehen.

Gerade wenn wir Populisten und Extremisten konsequent bekämpfen wollen, dürfen wir Demokraten diejenigen Mitbürgerinnen und Mitbürger, die uns unbequeme Positionen vertreten, nicht leichtfertig in die linke oder rechte Ecke stellen. Ich glaube, ein bisschen mehr „runder Tisch“ in unseren Köpfen würde der politischen Kultur in unserem Land guttun.

(Beifall von der CDU, der SPD, der FDP und Alexander Langguth [fraktionslos] – Vereinzelt Beifall von den GRÜNEN)

Meine Damen und Herren, der Geist der Gewaltfreiheit, der sich am 9. Oktober behauptet hat, hat schließlich auch die friedliche Grenzöffnung und den Fall der Mauer ermöglicht. Wenige Tage zuvor, am Abend des 30. September, hatte Hans-Dietrich Genscher den Tausenden DDR-Flüchtlingen in der Prager Botschaft die Ausreise in die Bundesrepublik ermöglicht und verkündet. Auch hier bahnte sich der Wunsch nach Freiheit einen friedlichen Weg.