Herr Römer, die Wählerinnen und Wähler haben Sie entzaubert. Heute, nach 76 Tagen Regierungszeit, sind Sie als Oppositionsparteien von SPD und Bündnis 90/Die Grünen – so war mein Eindruck der gestrigen Debatte – anscheinend mit der Gabe der Prophetie, der langfristigen Vorausschau gesegnet. Darum beneide ich Sie.
(Gordan Dudas [SPD]: Jetzt hören Sie mal auf zu jammern! – Arndt Klocke [GRÜNE]: Der Wahlkampf ist vorbei, Herr Löttgen!)
Sie sehen alle in Ihren Augen negativen Folgen unseres Koalitionsvertrages schon nach dieser kurzen Zeit voraus. Chapeau! Das muss ich Ihnen ehrlich sagen. Das maße ich mir nicht an.
Ganz gleich, ob dieser Satz von Karl Valentin, Mark Twain oder Niels Bohr stammt – ich stimme der Aussage „Vorhersagen sind schwierig, besonders wenn sie die Zukunft betreffen“ gerne zu.
Es sind genau die vom Ministerpräsidenten gestern benannten Umbrüche, die in der heutigen Politik ein aufmerksames Beobachten, schnelle Entscheidungen und ein konsequentes Handeln erfordern. Das ist auch deshalb notwendig, weil wir mit Innovationen konfrontiert werden, die bestehende Technologien, vorhandene Produkte und Dienstleistungen möglicherweise in kurzer Zeit vollkommen verdrängen. Der Zukunftsforscher Matthias Horx sagt dazu:
also dieser von uns als überraschend wahrgenommene plötzliche Wechsel bei Technologien, Produkten und Dienstleistungen –
Und Matthias Horx – auch wenn man es meinen könnte – hat damit nicht die abgewählte rot-grüne Landesregierung gemeint. Er führt im Artikel von 2016 weiter aus und macht uns Hoffnung damit – Zitat –:
„Viele Unternehmen aber – die Mehrheit! – sind durchaus vital und lernfähig. Gerade deutsche Mittelständler üben seit Jahrzehnten die Kunst der graduellen Evolution: Sie verbessern ihre Produkte, aber auch ihre Prozesse stetig. So laufen sie den Disrupteuren einfach davon – indem sie den Wandel, dessen Opfer sie werden könnten, selbst gestalten!“
Genau hier, meine Damen und Herren, kommen doch wir im Parlament ins Spiel – den Wandel verantwortlich gestalten, nicht einfach einem Ritual folgend auf Grundsatzbeschlüsse von Parteien zu schielen, sondern abzuwägen, welche Folgen unsere Entscheidungen für die knapp 18 Millionen Menschen in unserem Bundesland haben könnten.
Für meine Fraktion darf ich sagen: Wir treten nicht als 72 Abgeordnete der CDU-Landtagsfraktion an, um in einem blinden Rückabwicklungswahn jetzt alles in Frage zu stellen, was Sie in sieben Jahren rotgrüner Regierung entschieden haben. Aber wir erlauben uns, in einigen aus unserer Sicht für die Bürge
rinnen und Bürger des Landes wesentlichen Politikbereichen eine eigene, eine andere Meinung, als Sie sie haben.
Das war nicht nur ein Angebot, das war auch eine Einladung – eine Einladung, wie ich hoffe, im Sinne unseres scheidenden Bundestagspräsidenten Norbert Lammert, dessen zwei Gedanken ich in jedem Parlament für mehr als bedenkenswert halte. Zum einen – Zitat –:
„Demokratie ist kein Verfahren zur Vermeidung von Streit, im Gegenteil. Demokratie ist das beste Verfahren, um Streit erstens fair und zweitens verbindlich auszutragen.“
Das ist unser Angebot an Sie in der Opposition: den in einer Demokratie immer notwendigen Streit verbindlich und fair in diesem Parlament auszutragen.
Und zum Zweiten ist ein Satz aus seiner Abschiedsrede in der vergangenen Woche zu beherzigen – Zitat –:
Ich bin mir darüber im Klaren, dass dieses Angebot, zum Nutzen der Menschen in Nordrhein-Westfalen hier in diesem Raum zu streiten und zu debattieren, zehn Tage vor der Bundestagswahl wenig Wirkung entfalten könnte – zumal in einer Situation, die für SPD und Bündnis 90/Die Grünen – gelinde gesagt – wenig komfortabel ist.
Vor nicht einmal anderthalb Jahren, zu Beginn des Jahres 2016, waren die Sozialdemokraten noch in 14 Landesregierungen vertreten, vier davon Rot-Grün, eine Grün-Rot. Sie trugen Regierungsverantwortung für rund 63 Millionen Menschen in diesen Ländern.
Das hat sich geändert: Nach den Wahlen in BadenWürttemberg, in Schleswig-Holstein und hier in Nordrhein-Westfalen sind es nur noch elf Landesregierungen, an denen die SPD beteiligt ist.
Gravierender als dieser Aderlass: Zwischen März 2016 und Mai 2017 haben die Wählerinnen und Wähler in den Ländern der SPD die Verantwortung für mehr als 30 Millionen Menschen entzogen. Und selbst wenn man wie der rote Küsten-Rambo Ralf Stegner der Meinung ist – Zitat –, die Medienlage sei geprägt durch überhebliche Wahlprognosen zugunsten der Konservativen – Zitatende –, verspricht ein Blick auf die kommende Bundestagswahl und die Landtagswahl in Niedersachsen kein Wunder in Form einer Spontanheilung – im Gegenteil.
Mit Rosinenpickerei versuchen Sie, gemeinsam vom Bundeskabinett verabschiedete Beschlüsse in die Kategorien „Hilft uns im Wahlkampf“, „Hilft uns nicht im Wahlkampf“ einzuordnen – eine Strategie, die ebenso befremdlich wie erfolglos ist.
Ich will Ihnen, sehr geehrter Herr Kollege Römer, aus diesem Grund auch keinen Vorwurf mit Blick auf Ihre von Durchhalteparolen geprägte Rede machen. Die rhetorischen Laubsägearbeiten am diffusen Bild einer von Existenzangst gelähmten SPD haben den Eindruck einer zerrissenen Partei eher verstärkt. Schulz unterstützen oder für die Zeit danach planen – ihr MdB Mützenich spricht ja schon von einem Fraktionsvorsitzenden Schulz; Sie haben sich damit schon abgefunden –, mit dem Rücken zur Wand, mit der Aussicht auf einen erneuten historischen Tiefstand der SPD in der Zustimmung der Wählerinnen und Wähler kann man schon einmal Maß und Mitte in einer Rede verlieren, Herr Römer. Das sehe ich Ihnen gerne nach.
Aber zwei Dinge kann und will ich Ihnen nicht nachsehen: zum einen ihr ebenso unverschämter wie erfolgloser Versuch, die vergangenen sieben Jahre rotgrüner Regierung in der Verantwortung für unser Land hier an diesem Rednerpult zu glorifizieren,
und zum anderen, sehr geehrter Herr Kollege Römer, die immer noch ausstehende Entschuldigung für den am 28. Januar 2016 gegenüber der CDUFraktion erhobenen Vorwurf, die CDU sei längst selbst mit dem rechtspopulistischen Virus der AfD infiziert.
Ich weiß nicht, von wem der Zwischenruf aus den Reihen der AfD kam. Sollte er von Herrn Blex gekommen sein, dann, sehr geehrter Herr Blex, will ich das, was Zeitungen dazu kommentiert haben, was Sie gestern gesagt haben sollen …
Das ist ja schön. Wenn er kein Interesse daran hat, dann sage ich es Ihnen, Herr Pretzell – Sie können es dem Kollegen Blex ja ausrichten –: Das, was er laut Zeitungsberichten gestern in diesem Plenarsaal gesagt haben soll, will ich mit einem Satz unseres
ersten Fraktionsvorsitzenden der CDU kommentieren: Wir leben alle unter dem gleichen Himmel, aber wir haben nicht alle den gleichen Horizont.
Aber ich will Ihnen, sehr geehrter Herr Römer, gerne noch einmal die unverrückbare Haltung der CDU zu diesem Thema erläutern, und ich will dies vor dem Hintergrund der rassistischen und demokratiefeindlichen Gedankengänge in den Mails von Frau Weidel sowie in den Äußerungen von Herrn Gauland, Herrn Höcke oder Herrn Meuthen mit einem Zitat Ihres Parteifreundes und Gründervater unseres Grundgesetzes, Carlo Schmid, belegen.
„Demokratie ist nur dort mehr als ein Produkt einer bloßen Zweckmäßigkeitsentscheidung, wo man den Mut hat, an sie als etwas für die Würde des Menschen Notwendiges zu glauben. Wenn man aber diesen Mut hat, dann muss man auch den Mut zur Intoleranz denen gegenüber aufbringen, die die Demokratie gebrauchen wollen, um sie umzubringen.“
Wir sollten uns als Demokraten in diesem Parlament gemeinsam an diese Worte erinnern, wenn es denn notwendig sein sollte.
(Zuruf von der SPD: Nein, wir sollten sie verin- nerlichen! – Weiterer Zuruf von der SPD: Gilt das auch für die CDU in Sachsen-Anhalt?)
Meine Damen und Herren, wie sollen wir mit dieser Verantwortung umgehen – mit den geänderten Rollen von Regierungsfraktionen und Opposition in einem Parlament nach dem Regierungswechsel? – Nicht, indem man, wie einige von Ihnen in der heutigen Opposition, die Verantwortung für die Entscheidungen der vergangenen sieben Jahre rot-grüner Regierungspolitik am Eingang dieses Parlaments abgibt und uns nun mit Meinungspirouetten und 180Grad-Wendungen in vielen Politikfeldern eine geradezu erbärmliche Vorstellung bietet.
Ja, Herr Römer, Sie haben es eben noch einmal bestätigt: Sie sind überrascht worden von einer CDU in Nordrhein-Westfalen, die um jede Stimme gekämpft hat, die an physikalischen und virtuellen Haustüren geklopft hat, während Sie sich auf Ihrem vermeintlichen Vorsprung ausgeruht haben. Aber was nicht sein darf, das nicht sein kann. Mir steht es nicht an, Ihnen einen Rat zu geben, aber ich versichere Ihnen: Solange Sie Ihre am heutigen Tage und schon im Wahlkampf erkennbare Überheblichkeit als Opposition beibehalten, werden wir als Regierungsfraktionen ruhige Tage haben.