Protokoll der Sitzung vom 27.08.2020

(Beifall von der AfD)

Vielen Dank, Herr Kollege. – Für die Landesregierung erteile ich Minister Professor Dr. Pinkwart das Wort.

Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Die Debatte hat gezeigt, wir reden über verschiedene Ebenen.

(Beifall von der CDU und der FDP – Michael Hübner [SPD]: In verschiedenen Welten! Zwei verschiedene Welten!)

Wir müssen das vielleicht ein bisschen sortieren: Wir reden einmal über die Industrie und die Zukunft der Industrie mit Blick auf Megatrends wie Klimaschutz und Digitalisierung, Globalisierung oder Reglobalisierung. Wir reden heute auf der anderen Seite über eine Branche, nämlich die Stahlbranche. Dann reden wir innerhalb der Industrie und innerhalb der Stahlbranche über thyssenkrupp und die Zukunft dieses Unternehmens am Standort Nordrhein-Westfalen.

Lassen Sie mich das hier mit Blick auf Herrn BolteRichter auch so abschichtend sagen. Es ist natürlich schön, was Sie hier erzählt haben. Das ist klar. Ich kann mir vorstellen, dass die Grünen in einem schwierigen programmatischen und auch inhaltlichen Prozess stehen, weil sie sehen, auf einmal könnte ein grünes Wirtschaftswunder ohne die Grünen möglich werden. Ich kann mir gar nicht vorstellen, wie es mit den Grünen überhaupt möglich sein könnte, lieber Herr Bolte-Richter.

(Beifall von der CDU und der FDP)

Das ist natürlich für Sie eine Herausforderung.

Aber wir müssen uns etwas klarmachen, wenn wir bis 2050 in Richtung Klimaneutralität gehen wollen, und das scheint in Europa mehrheitlich so verankert zu werden: In Deutschland, in Nordrhein-Westfalen

haben wir noch 30 Jahre. Früher bauten wir in diesen Zeiträumen eine Umgehungsstraße. Jetzt wollen wir die gesamte Industrie umbauen. Das wird uns alle zusammen riesig herausfordern.

Dann müssen wir natürlich auch konzeptionell an den Themen arbeiten. Wir müssen programmatisch an den Themen arbeiten.

Die Unternehmen müssen endlich die Rahmenbedingungen in diesem Land bekommen, damit sie neue Technologien schnell umsetzen können, wenn sie für die Unternehmen zukunftsfähig sind, damit wir in zehn Jahren nicht nur eine neue Anlage bauen können, sondern dass wir es schaffen wie Tesla in Brandenburg, dass wir es schaffen wie mit der Brücke in Genua.

Gerade da müssen sich die Grünen bewegen, Herr Bolte-Richter, sonst werden wir diese 30 Jahre niemals nutzen können, um tatsächlich zur klimaneutralen Industrie der Zukunft zu kommen.

(Vereinzelt Beifall von der CDU und der FDP)

Wir werden all diese Rahmenbedingungen, die wir dafür brauchen und die auch für den Stahl wichtig sind, in den Bundesrat einbringen. Da haben Sie mit den von Ihnen mitregierten Bundesländern eine Mehrheit. Dann werden wir mal sehen, wieviel Spielraum Sie zulassen, damit dieser Transformationsprozess wirklich gelingen kann. Bisher stehen Sie da auf der Bremse.

Sie standen auch während Ihrer Regierungszeit hier in Nordrhein-Westfalen auf der Bremse, als es darum ging, für den Industriestandort Nordrhein-Westfalen bessere Bedingungen zu schaffen. Das haben wir hier oft diskutiert. Rückwärtsgewandt haben Sie hier die Debatte geführt.

Wir jedoch haben ein Industriepolitisches Leitbild entwickelt und erklärt: Wir wollen nicht nur der modernste, nein, wir wollen auch der klima- und umweltfreundlichste Industriestandort in Europa werden. Dafür setzen wir uns ein; dafür brauchen wir aber auch die Voraussetzungen.

(Vereinzelt Beifall von der CDU und der FDP)

Sie reden von Schleswig-Holstein. Der Ministerpräsident ist ein freundlicher Mensch. Wenn er zu Gast ist, ist er auch freundlich. Aber Sie müssen sehen: Beim Windausbau ist in Schleswig-Holstein seit 2017 nichts mehr gelaufen.

(Arndt Klocke [GRÜNE]: Was?)

Bei dem Thema „Wasserstoff“ war es doch so: Bevor die EU-Kommission ihre Wasserstoffstrategie vorgestellt hat, war die EU-Kommissarin Kadri Simson nicht in Schleswig-Holstein, sondern sie war hier in Nordrhein-Westfalen und hat bei Shell die weltgrößte PEM-Wasserstoff-Elektrolyse-Anlage besucht, die hier errichtet wird, meine Damen und Herren. Jetzt

erzählen Sie uns doch nicht, dass wir anfangen müssen. Wir sind schon längst dabei. Sie haben es nur noch nicht mitbekommen, Herr Bolte-Richter.

(Beifall von der CDU und der FDP)

Sie haben auch offensichtlich nicht zur Kenntnis genommen, dass wir mit IN4climate schon vor zwei Jahren sehr strategisch mit den Industrieunternehmen gestartet sind – Dietmar Brockes hat es hier angesprochen –, um sie strategisch auf diese Fragen vorzubereiten, um Projekte auch mit der Stahlindustrie und auch mit thyssenkrupp zu überlegen.

Natürlich – und das können wir noch feinziselierter auflisten – sind wir nicht nur in ständigen Gesprächen mit dem Bund, sondern auch mit der Europäischen Kommission. Wir fahren mit den Industrieunternehmen zu den Generaldirektionen und unterhalten uns darüber, weil die Generaldirektionen natürlich ein Verständnis davon gewinnen müssen, wie sich Industrien in welchen Zeiträumen auf die neuen Zielwerte hin transformieren können. Genau das tun wir.

Jetzt komme ich von der Metaebene zur Stahlbranche. Wir waren es doch in Nordrhein-Westfalen, die elf Stahlländer gemeinsam in diese Stahl-Allianz Deutschland geführt haben, insbesondere mit den Kollegen im Saarland. Wir haben den ersten Stahlgipfel mit dem Saarland im vergangenen Jahr organisiert. Wir haben eine Agenda erstellt.

Wir sind dankbar, dass die Bundesregierung mit der Stahlindustrie und den Gewerkschaften jetzt ein umfassendes Handlungs- und Maßnahmenpaket mit vielen Vorschlägen entwickelt hat, das Deutschland auch in Richtung Europa einbringen will, um für bessere Rahmenbedingungen im globalen Wettbewerb und beim Thema „Umbau zur Klimaneutralität“ Sorge zu tragen.

Jetzt haben wir die deutsche Ratspräsidentschaft. Wir gehen davon aus, dass die Bundesregierung dieses Handlungskonzept, das sie mit der Stahlindustrie gemeinsam erarbeitet hat, in die Beratungen in Brüssel einbringt.

Ich weiß nicht mehr, wer von Ihnen gefragt hat, warum wir den Stahlgipfel erst im Dezember machen: Wir wollen doch auf dem Stahlgipfel nicht über neue Forderungen diskutieren. Die liegen doch auf dem Tisch. Wir wollen auf dem Stahlgipfel doch den Repräsentanten der Europäischen Kommission, der Bundesregierung und der Länder die Möglichkeit eröffnen, uns einen möglichst weitreichenden Zwischenstand mitzuteilen, wie wir auf diesem Weg während der deutschen EU-Ratspräsidentschaft vorangekommen sind, um für die Stahlindustrie bessere Rahmenbedingungen zu schaffen. Wir nutzen die nächsten Wochen natürlich und sind dabei, genau diese Prozesse zu begleiten.

Es geht um Chancengleichheit auf dem globalen Stahlmarkt, um das Vorgehen gegen WTO-widrige

Subventionen, um die Verbesserung der Handelsschutzmaßnahmen, um Safeguards und um den Abbau von Überkapazitäten im Rahmen des G20-Dialogs. Das hat im Übrigen, Herr Loose, alles etwas mit Wettbewerb zu tun. Die anderen halten sich doch nicht an die Wettbewerbsbedingungen. Sie reden hier von Marktwirtschaft. Wir sorgen dafür, dass die globale Marktwirtschaft funktioniert. Dafür müssen wir uns einsetzen, meine Damen und Herren.

(Beifall von der CDU und der FDP)

Dann geht es um die Vermeidung von Carbon Leakage, um die Fortführung der kostenlosen Zuteilung von Emissionszertifikaten im EU-Emissionshandelssystem. Es geht auch um Strompreiskompensation. Darum haben wir so heftig gerungen, auch beim Kohleausstieg. Gott sei Dank hat es am Ende wichtige Verbesserungen gegeben.

Es geht darüber hinaus um das Voranbringen der Transformation, um die Schaffung von Leitmärkten für CO2-arme Technologien durch Anreize für die stahlverarbeitende Industrie, um die Einführung von Differenzverträgen, den Ausbau der Wasserstofftechnologie, die Förderung der Umstellungsprozesse von Kohle zu Wasserstoff.

Hier haben wir mit NRW-Mitteln bei thyssenkrupp ein Projekt aufgesetzt. Damit hat sich thyssenkrupp beim Bund erfolgreich für ein Reallabor beworben. Jetzt geht es darum, wie wir solche Projekte ausrollen und welchen Beitrag dazu auch die öffentliche Hand leisten kann.

Herr Loose, wenn Sie hier erzählen, die Autoindustrie investiere nur im Ausland, dann weiß ich nicht, was Sie eigentlich wahrnehmen. Nein, die ausländische Autoindustrie kommt nach Deutschland, um hier zu investieren. Tesla baut eine riesige Anlage in Europa, VW baut die neuen Modelle in Sachsen und an anderen Standorten. Hier wird also investiert. Wir müssen allerdings die Rahmenbedingungen dafür setzen, damit das gelingt, und dann dürfen Sie nicht nur an Technologie von gestern denken, sondern müssen auch für die Technologie von morgen offen sein.

(Beifall von der CDU und der FDP – Zuruf von Christian Loose [AfD])

Jetzt ein letzter Gedanke zum Unternehmen thyssenkrupp. Viele hier im Hohen Haus wissen, dass thyssenkrupp eine Unternehmensgeschichte hat, die sich – wie auch die übrige Wirtschaft – in den letzten Jahrzehnten und Jahrhunderten immer wieder verändert hat. Es hat Fusionen gegeben, es hat aber auch Schließungen von Werken gegeben. Es hat immer wieder auch gute Zeiten gegeben. Man hat auch in manch guter Zeit, die noch gar nicht so lange zurückliegt, vielleicht manch strategischen Fehler begangen, den man nicht hinreichend erfolgreich abzuwenden versucht hat – wie auch immer.

Wir reden hier über die Unternehmensebene, und auf dieser gibt es sowohl positive Entwicklungen als auch Entwicklungen, die man kritisch betrachten kann. thyssenkrupp ist und bleibt für uns das große Stahlunternehmen in Nordrhein-Westfalen. Es ist für uns damit auch systemrelevant, wie der Ministerpräsident zutreffend zum Ausdruck gebracht hat, und dies nicht nur für Nordrhein-Westfalen, sondern auch für Deutschland.

Aber wenn die Politik begleitend mithilft, dass dieses Unternehmen thyssenkrupp und damit die Stahlindustrie und die Wertschöpfungskette Stahl in Deutschland eine Zukunft haben, dann müssen alle zusammenwirken. Dann müssen das Unternehmen, die Unternehmensleitung, die Beschäftigten und auch die Gewerkschaften ihre Beiträge dazu leisten, damit sich ein Unternehmen – auch im Zusammenwirken mit anderen Unternehmen, mit der Branche – so entwickeln kann, dass es zukunftsfest ist.

Dafür ist in den letzten Jahren viel unternommen worden. Wir hatten gehofft, dass sich manches nach dem Verkauf der Aufzugssparte aus sich selbst heraus trägt. Diese Entwicklung ist durch die Pandemie erheblich eingeschränkt worden. Umso mehr sind neue Anstrengungen notwendig.

Es kann allerdings nicht sein, dass der Staat jetzt alleine die unternehmerische Verantwortung übernimmt, und das kann hier eigentlich auch niemand wollen. Vielmehr geht es darum, dass der Staat die Rahmenbedingungen setzt und auf diese Weise gezielt dort hilft, wo die Zukunftsfähigkeit des Unternehmens gewährleistet werden kann, wenn sich das Unternehmen mit einem guten, starken Konzept seine Zukunftsfähigkeit selbst erarbeiten will. – Herzlichen Dank für Ihre Aufmerksamkeit.

(Beifall von der CDU und der FDP)

Vielen Dank, Herr Minister. – Für die Fraktion der SPD darf ich den Abgeordneten Hübner aufrufen und gleichzeitig darauf hinweisen, dass allen nachfolgenden Rednerinnen und Rednern, sofern sie mögen, 2 Minuten 30 Sekunden zusätzlich zur Verfügung stehen.

Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! In der Tat haben wir mit der Aktuellen Stunde zu einem wichtigen Thema aufgerufen, um sich darüber Gedanken zu machen. Ich kann mich daran erinnern, dass wir das schon häufiger gemacht haben.

Natürlich sorgt uns die Situation um thyssenkrupp ganz maßgeblich. Diese kann man selbstverständlich so abgeschichtet beschreiben, wie es der Minister gerade getan hat; er ist vom Großen ins Kleine gegangen.

Thyssenkrupp ist das Unternehmen in NordrheinWestfalen, das hier den meisten Stahl produziert. 16 Millionen Tonnen Rohstahl werden in NordrheinWestfalen produziert. Das sind fast 40 % der deutschen Gesamtproduktion. Über 45.000 Beschäftigte – das ist mehr als die Hälfte aller im Stahlbereich Beschäftigten – sind davon direkt betroffen. Das macht deutlich, über welch großen, wichtigen Bereich wir uns hier unterhalten.

Das macht deutlich – Herr Minister Pinkwart, entschuldigen Sie, dass ich diese Aussage so klar nach vorne stellen muss; ich wollte es eigentlich erst später ansprechen –, wie wichtig dieser Sektor hier in Nordrhein-Westfalen ist. Sie haben in ganz vielen Veröffentlichungen des Wirtschaftsministeriums zum Glück klargestellt, dass dieser Sektor das Rückgrat der nordrhein-westfälischen Industrie ist. Vor diesem Hintergrund ist es so wichtig, dass wir uns über diese Punkte unterhalten.

(Vereinzelt Beifall von der SPD)

Gleichzeitig wagt thyssenkrupp – auch das war schon häufig Gegenstand von Debatten hier – etwas ganz Mutiges. thyssenkrupp will nämlich – das deckt sich mit den Zielen der Europäischen Union – hin zu einer CO2-neutralen Produktion im Stahlbereich kommen. Übrigens, auch andere Unternehmen wollen bis 2050 CO2-neutral werden. Ich erwähne beispielhaft den großen industriepolitischen Player BP, der im Raffineriebereich CO2-neutral werden will – was ein Quantensprung im Flugbereich sein kann, wenn Flugbenzin CO2-neutral produziert werden kann.

Die Umstellung auf Wasserstoff wird der nächste große Schritt sein. Hier werfe ich der Landesregierung vor, dass sie keine vernünftige industriepolitische Perspektive für den Stahlbereich und für den Wasserstoffbereich auf den Weg gebracht hat.