Protokoll der Sitzung vom 15.09.2005

Gestatten Sie eine Zwischenfrage des Herrn Kollegen Creutzmann?

Aber bitte schön.

Frau Kollegin Kohnle-Gros, das Zitieren einer Wahrheit einer Statistik sagt doch noch nichts darüber aus, wie man denkt. Sie haben Frau Kollegin Morsblech unterstellt, dass sie mit der Statistik, die leider der Wahrheit entspricht, gleichzeitig das Thema nicht angehen will. Halten Sie das für richtig?

Ich habe wörtlich aus dem Zeitungsbericht zitiert. Das ist keine Erfindung von mir. Ich habe wörtlich aus der „Mainzer Rheinzeitung“ vom 18. Juni 2005 zitiert. Die Überschrift lautete: „Abgeordnete Morsblech misstraut der Statistik“.

(Zuruf der Abg. Frau Brede-Hoffmann, SPD)

Nein, ich will es nur einmal sagen.

Sie sagt, gesunkene Toleranz gegenüber Kriminellen wäre der Grund für die gestiegene Zahl. Wenn das ihre Meinung ist, kann ich Ihnen wirklich nicht weiterhelfen. Ich will noch einmal sagen, Weißer Ring, aber auch die Hochschulinstitutionen – übrigens auch die Universität Trier im Land – beschäftigen sich intensiv mit diesen Fragen.

Ich denke, viele Zeitungsartikel haben uns in den letzten Monaten darauf hingewiesen. Ich will gar nicht die ganz schrecklichen Fälle benennen; denn es kann nicht sein, dass sie zum Maßstab der Dinge werden. Im Übrigen will ich an dieser Stelle sagen, ich verabscheue eine Politik, die immer nur dann reagiert, wenn etwas Furchtbares passiert ist. Ich möchte, dass wir das ganze Jahr über an diesen Themen arbeiten, um gewappnet zu sein, wenn wirklich etwas passiert.

(Beifall der CDU)

Es gibt unterschiedliche Vorschläge und Konzepte. Es gibt auch in Rheinland-Pfalz Aktionen gegen Schulschwänzer. Ich will es gar nicht so darstellen, als wenn überhaupt nichts getan würde, damit Sie mich nicht gleich wieder in Stücke zerreißen. Es gibt auch in den Schulen über die Kriminalpräventiven Räte hinaus die unterschiedlichsten Angebote. Es gibt Fachleute, die sagen, das nützt nicht allzu viel. Es ist wichtig, dass man darüber redet. Aber die Situation verändert sich nicht.

Ich will auch die Eltern an dieser Stelle nicht ganz außen vor lassen und aus ihrer Verantwortung entlassen. Wir brauchen in diesen Fragen natürlich auch die Unterstützung der Elternhäuser; denn die Schule allein und staatliche Institutionen werden das nicht lösen können.

(Vereinzelt Beifall bei der CDU)

Es geht mir an dieser Stelle darum, das Eingehen der Landesregierung auf unsere Große Anfrage noch einmal infrage zu stellen. Es geht mir aber vor allem an dieser Stelle darum, dass wir uns mit diesem Thema weiter beschäftigen, auch wenn wir im Augenblick außer der Statistik Gott sei Dank keine konkreten Anlässe haben. Aber das Problem ist da. Das Problem ist ein gesellschaftliches Problem. Es ist unsere Aufgabe, im Landtag darüber zu reden.

Vielen Dank. (Beifall der CDU)

Meine Damen und Herren, ich darf Gäste im rheinlandpfälzischen Landtag begrüßen, und zwar Studentinnen und Studenten der Rechtswissenschaften des Regierungspräsidiums Darmstadt. Seien Sie herzlich willkommen im Landtag! (Beifall im Hause)

Ich teile Herrn Abgeordneten Heinrich das Wort.

Sehr geehrter Herr Präsident, meine sehr verehrten Damen und Herren! Die Wahrscheinlichkeit, Opfer eines Handtaschenraubs zu werden, ist in Rheinland-Pfalz in etwa so hoch wie die Wahrscheinlichkeit, sechs Richtige im Lotto zu gewinnen.

Das ist keine Behauptung von mir, sondern es ist die Aussage eines Polizeibeamten bei einer Veranstaltung des Seniorenbeirats der Stadt Koblenz zum Thema „Kriminalitätsentwicklung in dieser Stadt“. Weil beides so selten vorkommt, ist es immer für eine Schlagzeile gut. Ähnlich verhält es sich mit dem Jugendproblem, erst recht mit Jugendgewalt.

Für Pädagogen und Kriminologen ist Jugendgewalt das, was Überschwemmungen für Klimaforscher darstellen. Medien und Öffentlichkeit interessieren sich für die „bad news“ über die Jugend; denn ähnlich wie zerstörerisches Hochwasser offenbar die Annahmen über die Klimakatastrophe bestätigen, scheint das Ansteigen der Ju

gendgewalt eine Folge des Verlusts von Werten und Traditionen darzustellen.

Meine Damen und Herren von der CDU, dies wollen Sie darstellen: Bei den rheinland-pfälzischen Schulen geht es zu wie in Chicago. – Dabei ist es keineswegs so.

Für eine differenzierte Einschätzung und im Hinblick auf Überlegungen zum Umgang mit Jugendgewalt erweist es sich nämlich als nützlich, beim Thema „Jugendgewalt“ nach Personen, Gelegenheiten und Schauplätzen zu differenzieren.

In der Beantwortung der Großen Anfrage der CDU wird darauf hingewiesen, dass in der polizeilichen Kriminalstatistik auch Delikte gezählt werden, die in Schulen bzw. Schulgebäuden, auf dem Schulgelände und auf dem Weg zur bzw. von der Schule begangen und der Polizei bekannt werden. In der Statistik werden auch Delikte aufgeführt, die nicht im Zusammenhang mit den Schulbeteiligten stehen, wie zum Beispiel Einbrüche in die Schule oder das Beschädigen der Gebäude durch Schulfremde, also auch Graffitischmierereien.

In der Beantwortung wird auch darauf hingewiesen, dass die Veränderung der registrierten Kriminalität maßgeblich vom Anzeigeverhalten der Bevölkerung abhängt. Am Beispiel der Stadt Koblenz lässt sich das eindrucksvoll belegen.

Nachdem der Kriminalpräventive Rat der Stadt eine Aktion zum Kampf gegen Graffiti ins Leben gerufen hat, ist die Zahl der angezeigten Sachbeschädigungen zunächst stark angestiegen. Jetzt, wo die Aktion Erfolge zu verzeichnen hat, geht die Kurve wieder deutlich nach unten.

Ich möchte aber auch feststellen, dass für Gewalt und Kriminalität auch außerschulische Einflüsse von großer Bedeutung sind. Insbesondere das Familien- und Erziehungsklima, das Einbinden in die Gleichaltrigengruppe und das Medienkonsumverhalten spielen eine erhebliche Rolle. Es lassen sich nicht alle diese Einflüsse in der Schule quasi reparieren.

Mit der Beantwortung der Frage 17 sind die vielfältigen Anregungen und Hilfen der Landesregierung aufgelistet, um die Schulen in die Lage zu versetzen, mit dem Thema „Sicherheit an Schulen“ umzugehen. Ich verzichte daher darauf, die vielfältigen Anregungen hier zu benennen.

Es werden Wege aufgezeigt, wie Gewalt und Diskriminierung, Fremdenfeindlichkeit und Rassismus auf unterschiedliche Weise entgegengewirkt werden kann. Fast alle Schulen in Rheinland-Pfalz machen regen Gebrauch von diesen Anregungen und entwickeln eigene, für ihre jeweilige Schule geeignete Konzepte. Dies alles führt dazu, dass Rheinland-Pfalz im bundesweiten Vergleich bei der Anzahl der tatverdächtigen Kinder, Jugendlichen und Heranwachsenden in den vergangenen Jahren im unteren Drittel und somit deutlich unter dem Bundesdurchschnitt liegt. Es gibt also keinen Anlass, die Situation in unserem Land zu skandalisieren.

(Beifall bei SPD und FDP)

Herr Kollege Wiechmann, Sie haben das Wort.

Herr Präsident, meine Damen und Herren! Die Beschäftigung mit dem Thema „Kriminalität und Gewalt an Schulen“ ist nicht neu. Wenn wir als Erwachsene heute auf unsere Schulzeit zurückblicken, dann können wir uns sicher alle auch an handfeste Streitigkeiten erinnern, die es damals gab und die es natürlich heute auch noch gibt.

(Zuruf des Abg. Schwarz, SPD)

Wir müssen dem Thema „Gewalt und Kriminalität an Schulen“ dennoch einen hohen Stellenwert beimessen. Deshalb ist es gut, dass wir heute über dieses Thema reden. Die Problematik machen nicht zuletzt die Zahlen, die die Große Anfrage der CDU-Fraktion ergeben hat, überaus deutlich.

Die Polizei hat im vergangenen Jahr 4.860 Straftaten an Schulen oder auf dem Schulweg registriert. Die Schulhofkriminalität hat im vergangenen Jahr an der Gesamtkriminalität im Land einen Anteil von etwa 1,6 % ausgemacht. Verehrte Kolleginnen und Kollegen von der CDUFraktion, allerdings müssen wir auch konstatieren, dass hiermit Rheinland-Pfalz im Ländervergleich im unteren Drittel liegt, was die Häufigkeit von Straftaten von Kindern und Jugendlichen im Schulalltag im Vergleich zu ihrem Bevölkerungsanteil angeht. Richtig und wichtig ist ohne Zweifel, dass die gestiegenen Fallzahlen deutlich zeigen, dass die anteilige Bereitschaft der jugendlichen Opfer an Gewaltdelikten deutlich zugenommen hat. Das ist zunächst einmal richtig und gut so, Frau Kollegin Kohnle-Gros.

Christian Pfeiffer, ein überaus anerkannter Experte und Leiter des Kriminologischen Forschungsinstituts in Niedersachsen, bringt es auf den Punkt: Nicht die Jugendgewalt ist in den vergangenen Jahren angestiegen, sondern nur ihre in der Statistik dokumentierte Sichtbarkeit. – Diese Interpretation wird durch einen im Mai 2005 vom Bundesverband der Unfallkassen vorgelegten Bericht zur Gewalt an Schulen unterstützt. Seine Grundlagen sind die Meldungen über tatsächliche Auseinandersetzungen unter Schülern.

Die Schulen sind in Deutschland gesetzlich verpflichtet, derartige Unfälle der Schülerunfallversicherung zu melden, wenn Schülerinnen und Schüler infolge der Gewalttat ärztlich behandelt werden mussten. Der Bericht zeigt, dass die Häufigkeit solcher „Raufunfälle“ zurückgegangen ist. Wurden im Jahr 1997 pro 1.000 versicherter Schüler noch 15,6 Vorfälle registriert, waren es im Jahr 2003 nur noch 11,3 Vorfälle. Damit wird klar: Die schwere Gewalt ist – jedenfalls im Bereich der Schulen – zurückgegangen. Dennoch dürfen wir natürlich die Zahlen nicht verharmlosen oder sie einfach vom Tisch wischen. Wir müssen uns insbesondere in den nächsten Jahren dieser Entwicklung stellen. Wir müssen alles tun, um dieser Entwicklung entgegenzuwirken.

Meine Damen und Herren, im Bereich der Jugendkriminalität haben präventive Konzepte den besten Erfolg. Jugendliche müssen die Strategien, die zur Bekämpfung der Jugendkriminalität entwickelt werden, verstehen und umsetzen können. Damit aus jugendlichen Opfern später keine Täter werden, müssen von uns allen, aber insbesondere von den Schulen Wege aufgezeigt werden, wie Konflikte ohne Gewalt gelöst werden können.

(Beifall des BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

Meine Damen und Herren, Gewalttaten Jugendlicher oder Heranwachsender erregen oft die Öffentlichkeit. Straftaten Jugendlicher sind in aller Regel aber kein Einstieg in ein kriminelles Leben, sondern oftmals entwicklungsbedingte Verfehlungen. Wichtig ist eine schnelle und faire Reaktion der Gesellschaft, aber nicht das Wegsperren. Unsere Jugend ist besser als ihr Ruf. Deshalb brauchen wir keine Diskussionen, die immer einmal wieder angefangen werden, heute aber glücklicherweise nicht von Ihnen, Frau Kollegin Kohnle-Gros, zum Beispiel über die Verschärfung des Jugendstrafrechts. Das Jugendstrafrecht hat sich bewährt, ist angemessen, zielführend und modern. Es gibt keinen Grund, ein gutes Recht zu verschlechtern.

Viel sinnvoller sind aus unserer Sicht Maßnahmen, die insbesondere Kinder und Jugendliche selbst mit entwickeln und die aktiv von Kindern und Jugendlichen mit gestaltet werden können. Deshalb brauchen wir mehr gute und vorbildhafte Angebote und eine bessere Vernetzung solcher Angebote an unseren Schulen. Dazu gehören natürlich Mediations- und Streitschlichterausbildungen für Schülerinnen und Schüler sowie mehr Fortbildungsangebote für Lehrerinnen und Lehrer im Bereich der Streitschlichtung und im Bereich des AntiAggressionstrainings, damit gerade auch sie in Konfliktfällen kompetent vermitteln können. Auch sinnvolle Pausen- und Freizeitbeschäftigungen gehören dazu. Wir brauchen einen ganzen Strauß von Maßnahmen, den wir den Schulen anbieten, um solchen Situationen gerecht zu werden.

Wir brauchen vor allen Dingen auch eine Verstärkung der präventiven Faktoren, weil sie sich bewähren und weil repressive Maßnahmen glücklicherweise eher selten vorkommen, sondern die Schulen setzen erfreulicherweise auf pädagogische Maßnahmen und Gespräche mit den Betroffenen.

Meine Damen und Herren, wir brauchen ohne Zweifel eine bessere Integration sozial Benachteiligter schon in unseren Kindertagesstätten, aber auch in unseren Grund- und Hauptschulen, in unseren weiterführenden Schulen und natürlich auch in den berufsbildenden Schulen. Außerdem müssen wir ihnen sinnvolle Freizeitangebote anbieten. Wir müssen alle unsere Anstrengungen weiterhin gemeinsam verstärken, den Opfern zu helfen, gegen die Jugendgewalt eine Kultur des Hinschauens und der Zivilcourage zu organisieren. Das ist sicherlich besser als die Anzeigebereitschaft.

Wir müssen uns insbesondere auch um die Problematik des Schuleschwänzens kümmern. Insbesondere Schuleschwänzen ist ein Verstärkungsfaktor – das sagen uns viele Studien – der Jugenddelinquenz. Insbesondere das

Schuleschwänzen kann durch eine Steigerung der Attraktivität des Unterrichts und des schulischen Angebots verhindert werden. Die Ganztagsschulen in diesem Land sind sicherlich ein richtiger Schritt auf dem Weg in diese Richtung.

Wir müssen uns immer wieder aufs Neue fragen, wie Schule kind- und jugendgerechter gestaltet werden kann, wie wir unsere Schulen und unser Umfeld so gestalten können, dass Kinder und Jugendliche unterstützt werden beim Lernen, bei ihrem Weg durchs Leben und bei Misserfolgen, damit vernünftige Auffangmöglichkeiten geboten werden. Wir müssen uns alle zusammen natürlich auch verstärkt darum kümmern, dass insbesondere Konfliktprävention ein fester Bestandteil des Unterrichts wird, und zwar von allen Unterrichtsfächern.

Ich danke Ihnen.

(Beifall des BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

Frau Kollegin Morsblech hat das Wort.

Herr Präsident, meine Damen und Herren! Mein Vorredner hat es bereits sehr deutlich gemacht: Gewalt und Kriminalität an Schulen sind Themen, mit denen wir uns gesellschaftspolitisch nicht nur heute, sondern mit Sicherheit dauerhaft auseinander setzen müssen. Studien hierüber gehen bis in das 19. Jahrhundert hinein. Das sind Themen, die die Gesellschaften in unterschiedlichen Ausprägungen und Qualitäten beschäftigt haben. Wenn ich mit meinem Vater rede – Jahrgang 1940 –, wenn ich mit Herrn Kollegen Kuhn rede,

(Zurufe aus dem Hause: Jahrgang?)

dann erzählen sie mir von anderen Qualitäten der Gewalt und Kriminalität an Schulen. Der Herr Kollege hat vorhin von Bandenkriminalität und Ausschreitungen berichtet. Mein Vater hat gesagt, er habe das Gymnasium deshalb ohne Abschluss verlassen, weil er sich bedroht fühlte von Waffenbesitz und Gewalttaten an der Schule, denen damals offensichtlich nicht effizient entgegengewirkt wurde. Das sind sehr authentische Sachen, bei denen man sieht, dass das offensichtlich kein neues Problem ist. Die Qualität ist mit Sicherheit heute eine andere.