Protokoll der Sitzung vom 29.08.2002

Wir sehen, dass eine Stabilisierung der hoch Stressgefährdeten – so kann man das nennen – in der häuslichen Pflegesituation – die Vermeidung von Heimübersiedlungen – in den Vordergrund tritt, fördernde Impulse für die Versorgungslandschaft gefordert sind, wir neu definieren müssen, wie Leistung und Qualität hier aussehen, wir den Begriff Normalität neu formulieren müssen und die Gestaltung des Lebensraums, in dem ein Kranker mit seinen Einschränkungen leben kann, mehr in den Vordergrund tritt.

(Beifall der SPD und der FDP)

Das sind Veränderungen hinsichtlich dessen, was wir an Zielen haben.

Ich komme noch einmal zu Ihrem Antrag. Bei aller Sympathie für die Fleißarbeit – das ist ein großer Antrag – sind wir – das können Sie verstehen – im Punkt 6 anderer Meinung. Diesem widersprechen wir energisch. Sie behaupten, die derzeitige Bundesregierung und die Landesregierung hätten den gesellschaftlichen Stellenwert und die Zukunft der Pflege nicht erfasst.

(Zurufe der Abg. Schweitzer und Pörksen, SPD)

Ich glaube, die Fakten sprechen eine andere Sprache. In nur dreieinhalb Jahren hat die Bundesregierung eine erhebliche Zahl von Initiativen bis zu fertigen Gesetzen geführt, zum Beispiel das Heimgesetz, das Pflegequalitätssicherungsgesetz, das Altenpflegegesetz, das im Moment von Bayern zum Ruhen gebracht wurde, und die Ergänzungsgesetze zum Pflegeversicherungsgesetz. Das alles ist in dreieinhalb Jahren erfolgt, nachdem

16 Jahre vorher nicht so viel passiert ist. Auf das Pflegeversicherungsgesetz gehe ich am Schluss noch ein.

Auch das Land kann seit 1991 durchaus auf eine Reihe von Erfolgen zurückblicken. Wir haben zurzeit – das ist eine konsequente Fortsetzung dieser Politik der Landesregierung seit 1991 – die Pflegeoffensive „Menschen pflegen“ der Sozialministerin in der Diskussion. Ich will dem nicht vorgreifen. Das wird wahrscheinlich später noch entsprechend erläutert. Auf jeden Fall ist diese Einschätzung, die Sie vorbringen, nicht zutreffend.

Ich will dies an einem weiteren Beispiel erläutern. Sie haben in Ihrem Antrag erwähnt, dass Hessen eine Imagekampagne gestartet hat. Hessen leidet natürlich darunter, dass durch die Politik der CDU-Landesregierung in Hessen von 1996 etwa 3.500 Plätzen in der Altenpflegeausbildung noch gerade 2.700 Plätze übrig geblieben sind. Dann muss man natürlich Imagekampagnen laufen lassen.

(Beifall der SPD)

Wir sind uns einig, dass die wachsende Nachfrage nach professionellen Pflegekräften dazu führen muss, dass wir gemeinsame Anstrengungen unternehmen. Das will ich nicht abstreiten. Ich wäre froh gewesen, wenn im Vorfeld der Überlegungen zur Pflegeversicherung die Offenheit und das Interesse an den Menschen, die pflegebedürftig sind, und an den Pflegenden so groß gewesen wäre, wie es jetzt ist; denn die Pflegeversicherung trägt in sich bereits Probleme, an denen wir heute noch reparieren, dass nämlich der Pflegebedürftigkeitsbegriff des deutschen Sozialrechts nicht den gerontologischpflegewissenschaftlichen Ansatz verfolgt, sondern lediglich von verrichtungsbezogenen Kriterien ausgegangen ist. Das führt zu all diesen Problemen mit dem MDK. Damit sind wir damals hinter den allgemein anerkannten Stand in der pflegewissenschaftlichen Diskussion zurückgefallen.

Ich will etwas zitieren, was damals 1993 eine Bundeskonferenz zur Qualitätssicherung für Pflegebedürftigkeit veröffentlicht hat. Ich zitiere mit Genehmigung des Präsidenten: „Die Verfasserinnen und Verfasser dieses Memorandums wollen in der Öffentlichkeit dafür werben, die längst überfällige Neuordnung der Sicherung bei Pflegebedürftigkeit nicht lediglich als Finanzierungsproblem aufzufassen und politisch zu behandeln. Wir sind der Auffassung, dass die Neuordnung der Kostenträgerschaft bei Pflegebedürftigkeit ein zentraler Baustein eines sozialpolitischen Gesamtkonzepts zur quantitativen und qualitativen Verbesserung in der pflegerischen Versorgung der Bevölkerung sein muss, um über diesen Weg die Lebenslage der vielen pflegebedürftigen Behinderten und älteren Menschen wie auch ihrer professionellen und nicht professionellen Pflegepersonen entscheidend zu verbessern.“

Ich habe zu diesen Leuten gehört, die damals versucht haben, Minister Blüm auf einen Weg zu bringen, der die Qualitätsanforderungen mit berücksichtigt hätte. Es ist nicht gelungen. Ihr Antrag zeigt viele dieser Probleme auf, die dadurch entstanden sind.

Die SPD-Fraktion wird mit Ihnen über diesen Antrag und die Folgerungen, die uns ins Haus stehen, gern weiter diskutieren.

(Glocke des Präsidenten)

Wir stimmen einer Überweisung an den zuständigen Ausschuss zu.

Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit.

(Beifall der SPD)

Für die Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN erteile ich Herrn Kollegen Marz das Wort.

Herr Präsident, meine sehr verehrten Damen und Herren! Der Satz, dass die Pflege eine Zukunftsaufgabe ist, ist kein leeres Gerede, sondern ergibt sich zwingend unter anderem aus der demographischen Entwicklung und aus der Tatsache, dass glücklicherweise immer mehr Menschen älter werden und damit leider immer mehr Menschen im hohen Alter möglicherweise gepflegt werden müssen.

Deshalb müssen wir uns dieser Aufgabe widmen. Von daher ist es nie verkehrt, dazu einen Antrag zu stellen. Es kommt natürlich immer darauf an, was in einem solchen Antrag steht und ob er uns weiterbringt oder nicht.

Ich möchte zu Beginn noch einmal an die Situation im Bereich der häuslichen Pflege erinnern, weil der Kollege Dröscher auch schon etwas darauf eingegangen ist. Die Familienangehörigen, die das übernehmen, sind in aller Regel Frauen. Wenn prognostiziert wird – ich stimme Ihnen zu, dass man sich nicht so sicher sein kann –, dass wir Probleme im häuslichen Bereich bekommen, ist das sicherlich richtig.

Es mag sein, dass das an sich ändernden Strukturen im familiären und sozialen Umfeld liegt. Es liegt zum Teil auch daran, dass Familienangehörige diese Aufgabe einfach nicht mehr aushalten. Wir sollten verhindern, dass diese Menschen ins moralische Abseits geraten. Es ist hochgradig verständlich, dass es Menschen gibt, die das nicht mehr aushalten.

Wenn wir die Probleme sehen, die in der Pflege auf uns zukommen, ist es nicht falsch, sich auch antragsmäßig in den Parlamenten damit zu beschäftigen. Es ist auch nicht falsch, Berichte abzufordern; denn Berichte können in der Regel zu einer sachlichen Auseinandersetzung beitragen.

Sehr verehrter Kollege Rosenbauer, wenn man solche Anträge schreibt, sollte man nicht Entwicklungen ausblenden, die es gerade in den vergangenen Jahren gegeben hat. Das haben Sie leider getan. Sie haben sowohl auf Landesebene als auch auf Bundesebene Entwicklungen ausgeblendet.

Ein kleines Beispiel auf Landesebene: Es kommt nicht so häufig vor, dass wir Regierungsmitglieder lobend erwähnen. Sie sehen, wir können das auch. Frau Ministerin Dreyer hat aus Anlass ihrer 100-Tage-Bilanz die Pflege an erster Stelle erwähnt. Das fand ich bemerkenswert. Das lässt mich hoffen, was die Prioritätensetzung angeht.

(Beifall der SPD, der FDP und des BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

Ich habe keinen Anlass, am guten Willen zu zweifeln. Das sollte man nicht ignorieren. Man sollte auch nicht die Entwicklungen ignorieren, die es in den vergangenen dreieinhalb Jahren auf Bundesebene gegeben hat, zum Beispiel die Reform der Altenpflegeausbildung. Diese wurde bereits erwähnt.

Erwähnt wurde nicht, dass das nach zehn Jahren Diskussion den Bundesrat und den Bundestag passiert hatte und endlich 16 unterschiedliche Lösungen auf Landesebene für eine einheitliche Regelung abgelöst hat. Das ist ein wichtiger zentraler Punkt, wenn man Pflegekräfte gewinnen will. Was passiert dann? Bayern blockiert das Ganze. Nun hängt das. Diese Regelung kann nicht in Kraft treten, weil Bayern dachte, es müsste vor dem Bundesverfassungsgericht klagen.

(Beifall des Abg. Dr. Schmitz, FDP)

Die Blockierer aus derselben politischen Familie verlangen uns ab, einem solchen Antrag zuzustimmen, was aus vielerlei Gründen schwer fällt, auf die ich allerdings nicht im Einzelnen eingehen will.

Ich will Ihnen nur ein Beispiel nennen. Sie verlangen uns ab, die Landesregierung zu kritisieren. Sie wissen, das tun wir gern, wenn sie es verdient hat. Sie hat es häufig genug verdient. In diesem Fall ist es nicht so einfach, wie das in Ihrem Antrag aussieht. Sie versuchen – das fällt schon schwerer – uns abzuringen, dass wir auch noch die Bundesregierung kritisieren, was aufgrund Ihrer Motivlage vielleicht verständlich, aber aufgrund der Sachlage keineswegs gerechtfertigt ist.

Gänzlich unmöglich wird aber eine Zustimmung zu einem solchen Antrag, wenn Sie uns abverlangen, dass wir auch noch die Landesregierung in Hessen für eine zweitklassige, dürftige Imagekampagne in diesem Bereich loben. Das ist nun wirklich zu viel.

(Beifall bei dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

Herr Kollege Rosenbauer, Sie haben in Ihrem Antrag die Novellierung des Heimgesetzes ausgeblendet. Das neue Heimgesetz ermöglicht eine Stärkung der Interessenvertretungen in den Heimen, eine Stärkung der Selbs tbestimmung der Heimbewohner. All das findet bei Ihnen offensichtlich nicht statt. Dreieinhalb Jahre politischer Entwicklung in diesem Bereich sind an Ihnen relativ spurlos, zumindest was die Erkenntnis angeht, vorübergegangen.

Die Qualität der ambulanten Dienste ist durch das Pflegequalitätssicherungsgesetz verbessert worden. Auch das müssen Sie zur Kenntnis nehmen. Die Pflegediens t

verträge werden heute wesentlich strenger gefasst, als das in der Vergangenheit der Fall war. Bei Ihnen keine Spur von Anerkennung, nur Kritik.

Zusätzliche Hilfen für Demenzkranke. Sie haben die Demenzkranken selbst erwähnt. Auch hier im Rahmen einer sachlichen Auseinandersetzung muss man alle Teile nennen. Wenn man alle Teile nennt, erst dann gewinnt man Glaubwürdigkeit, um auch Kritik zu üben. Wenn Sie aber einzelne Teile ausblenden, verlieren Sie diese Glaubwürdigkeit.

Ich sage nicht, dass nicht noch wesentlich mehr getan werden muss. Ich habe eingangs gesagt, dass noch ein Riesenproblem auf uns zu kommt, dass wir noch sehr viel werden tun müssen, auch aus gesellschaftlichen Kostengründen, um dieses Problem in den Griff zu bekommen. Keiner hat heute ein Patentrezept.

Wir müssen das System der ambulanten, der teilstationären und der stationären Pflege überdenken und weiterentwickeln. In der heutigen Konstellation wird das in Zukunft so, wie das heute ist, nicht mehr funktionieren. Wir müssen aber auch die Unterbringung von Menschen in Heimen oder ähnlichen Einrichtungen weiterentwickeln. Es geht nicht mehr. Die Bedürfnisse, das Lebensgefühl auch alter Menschen hat sich selbstverständlich verändert, die nicht mehr auf maximal 12 Quadratmetern wohnen wollen und in Zwei- oder Drei-BettZimmern, sondern die Individualität muss natürlich auch ein Menschenrecht sein und zum Tragen kommen.

Wir müssen uns auch – es gibt dazu bereits Versuche – mit Menschen aus anderen Ländern, anderer ethnischer und kultureller Herkunft im Alter auseinander setzen. Das ist ein Problem, dass uns zunehmend zuwächst. Dem müssen wir uns auch im Rahmen dessen, was Integration bedeutet, widmen und im Rahmen dessen, was Pflege bedeutet. Wir haben deshalb auf Bundesebene gefordert, für die kommende Legislaturperiode eine Enquete-Kommission „Menschen in Heimen“ einzusetzen. Ich denke, es ist der richtige Zeitpunkt, um grundsätzlich über diese Fragen nachzudenken.

Wir müssen uns aber auch – ich habe das eingangs erwähnt, weil ich das für sehr wichtig halte und weil das sehr häufig etwas unter den Tisch fällt – der Frage der Pflegenden stärker widmen, der Unterstützung nicht nur der Profis, sondern auch der Laien, um Ihnen Ihre Aufgabe und Ihren Beruf nicht nur leichter, sondern auch erträglicher zu machen.

(Beifall bei dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

Der Respekt, der diesen Menschen gegenüber entgegen gebracht wird, ist mehr als berechtigt, wenn man sich vorstellt oder erlebt, was diese Menschen, seien Sie Profis oder Laien, tagtäglich leisten.

Wir müssen uns schließlich auch der Frage widmen – das betrifft nun wieder den familiären Bereich bzw. das soziale Umfeld –, wie Pflege und Berufstätigkeit miteinander zu vereinbaren sind. Wir haben nicht nur das Problem, wie Kindererziehung und Berufstätigkeit miteinander zu vereinbaren sind, sondern wir werden auch zunehmend das Problem bekommen, wie Pflege im

häuslichen Bereich und Berufstätigkeit miteinander zu vereinbaren sind.

Meine sehr verehrten Damen und Herren, an einigen Beispielen konnte ich, glaube ich, zeigen, wie kurz die CDU mit ihrem Antrag leider gesprungen ist. Ich denke, es herrscht Einverständnis, dass wir diesen Antrag natürlich zum Anlass nehmen, erneut im sozialpolitischen Ausschuss über die Problematik zu diskutieren. Ich hoffe, dass wir in dieser Diskussion auch weiter kommen und zu substantiellen Verbesserungen gegenüber dem kommen, was die CDU heute vorgeschlagen hat, damit wir in der Sache tatsächlich auch weiterkommen.

Ich danke Ihnen.

(Beifall bei dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

Für die FDP-Fraktion hat Herr Abgeordneter Dr. Schmitz das Wort.