Protokoll der Sitzung vom 10.12.2003

(Dr. Braun, BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN: Und der Ministerpräsident! Nicht zu vergessen!)

Meine Damen und Herren, natürlich müssen wir die Behindertenpolitik weiterentwickeln. Es freut mich besonders, dass in unserem Land zunehmend Menschen mit Behinderungen gemeinsam mit Politikern, Anbietern und Kostenträgern an einem Tisch sitzen – sozusagen in eigener Sache –, um die Zukunft zu gestalten. Allein dieses Beispiel zeigt, dass sich das öffentliche Bewusstsein gerade im „Europäischen Jahr der Menschen mit Behinderungen“ verbessert hat.

Lassen Sie mich beispielhaft benennen, wie ich mir die Zukunft von Behinderten vorstelle. Derzeit leben noch viele behinderte Menschen in Einrichtungen, die von Betreuungs- und Hilfesystemen geprägt sind. Mehr und

mehr erhalten ambulante Hilfen Vorrang. Das ist ein guter und wichtiger Weg hin zu mehr Integration behinderter Menschen.

(Beifall bei SPD und FDP – Glocke des Präsidenten)

Ich will noch einen Aspekt ansprechen, der in den kommenden Jahren für behinderte Menschen – – –

Herr Kollege Rösch, die Uhr drängt.

Bitte noch einen Satz, der von großer Wichtigkeit ist.

Gerade jetzt, da überall im Land Haushaltsberatungen stattfinden, sind die Kommunen aufgefordert, die Angebote für die Beteiligung behinderter Menschen weiter zu entwickeln – natürlich auf freiwilliger Basis.

(Beifall der SPD und der FDP)

Es spricht Frau Abgeordnete Thelen.

Sehr geehrter Herr Präsident, meine Damen und Herren! Herr Kollege Rösch, Ihre Rede hat uns nicht überrascht. Ihre Rede entsprach dem, was wir erwartet haben, als wir Ihren Antrag gesehen haben. Natürlich ist es legitim, dass wir in der letzten Sitzung dieses Jahres Rückblick auf das „Europäische Jahr der Menschen mit Behinderungen“ halten. Es war sicherlich ein guter Beschluss des Rates der Europäischen Union, das Jahr 2003 zum „Europäischen Jahr der Menschen mit Behinderungen“ auszurufen. Damit soll in ganz Europa auf behinderte Menschen und ihre Interessen aufmerksam gemacht werden. Das Jahr soll dafür stehen, dass Teilhabe verwirklicht, Gleichstellung durchgesetzt und Selbstständigkeit für die Behinderten ermöglicht werden soll.

Zur Bedeutung des Begriffs „Menschen mit Behinderungen“: Menschen sind behindert, wenn ihre körperliche Funktion, ihre geistige Fähigkeit oder ihre seelische Gesundheit mit hoher Wahrscheinlichkeit länger als sechs Monate von dem für das Lebensalter typischen Zustand abweicht und daher ihre Teilhabe am Leben in der Gesellschaft beeinträchtigt ist.

In Rheinland-Pfalz leben ca. 320.000 Menschen mit Behinderungen. Das entspricht einem Anteil von etwa acht Prozent der rheinland-pfälzischen Bevölkerung. Diese Größenordnung ist seit etwa zehn Jahren konstant geblieben.

Sicher ist es richtig, das Augenmerk auf Hilfe zur Selbs thilfe zu legen und die Hilfen, die in der Vergangenheit

Standard waren, weiterzuentwickeln, weg von der stationären Hilfe hin zur ambulanten Hilfe. Die Gesetze, die auf Bundes- und Landesebene hierzu verabschiedet worden sind, sind von allen Fraktionen mit großer Mehrheit getragen worden. Das gilt sowohl für das SGB IX als auch für das Landesgesetz zur Herstellung gleichwertiger Lebensbedingungen für Menschen mit Behinderungen, das wir in großer Gemeinsamkeit getragen haben.

(Beifall bei der CDU)

Die Integration in den Arbeitsmarkt ist wichtig, um selbst für eine Existenz sorgen zu können. Deshalb gibt es ein abgestuftes System. Es gibt den zweiten Arbeitsmarkt in Form der Werkstätten für Behinderte. Ferner gibt es die Möglichkeit der Integrationsfirmen. Selbstverständlich gibt es darüber hinaus die Hilfen aus der Ausgleichsabgabe zur Integration in Unternehmen des ersten Arbeitsmarkts.

Im Landesgesetz zur Gleichstellung behinderter Menschen wird gefordert, weitgehend für Barrierefreiheit zu sorgen. Allerdings haben wir in diesem Gesetz bewusst auf die Setzung von Fristen verzichtet, weil wir uns darüber im Klaren waren, dass es uns nicht möglich sein wird, unter Fristsetzung diese Dinge aufgrund der gegebenen begrenzten Leistungsfähigkeit der öffentlichen Haushalte insgesamt tatsächlich umzusetzen.

(Beifall bei der CDU)

Es ist uns gemeinsam wichtig, Hilfe zur Selbsthilfe zu leisten, also auch diejenigen zu motivieren, es zu tun, auch wenn die Budgets knapp sind.

Wir werden alle darüber nachdenken müssen, wie wir die Leistungen so gestalten können, dass sie von denjenigen, die sie leisten müssen, geleistet werden können. Deshalb möchte ich zum Ende meiner Rede an den Leitspruch erinnern, der lautet: Nichts über uns ohne uns. – Ich möchte dies ein Stück erweitern: Nichts über uns ohne uns, aber auch nicht ohne diejenigen, die letztlich die Finanzen für diese Leistungen zu tragen haben. – Dazu werde ich gleich noch auf ein paar Fes tstellungen zurückkommen.

Danke schön.

(Beifall der CDU)

Es spricht Herr Abgeordneter Dr. Schmitz.

Herr Präsident, meine Damen und Herren! Ich begrüße es, dass wir zum Ende des Jahres Revue passieren lassen, was im „Europäischen Jahr der Menschen mit Behinderungen“ gelaufen ist und was in Rheinland-Pfalz gelaufen ist.

Das waren für die Betroffenen ganz wichtige Zäsuren, die durch die Landesregierung gesetzt wurden. Wir

waren das erste Bundesland, das dieses Recht umgesetzt hat.

Frau Kollegin Thelen erwähnte bereits das Motto des IJMB, das lautet: „Nichts über uns ohne uns.“ Frau Kollegin Thelen, ich kann Ihnen nur beipflichten, das darf nicht über Gebühr geschehen. Das ist die Balance, auf die wir alle gemeinsam achten müssen, für die ich aber auch im Kreis der Betroffenen viel Verständnis vorgefunden habe.

Genau die Diskussion um Fristsetzungen hat gezeigt, wo die Problemlinie verläuft. Natürlich hätten wir uns auch aus menschlichem Mitgefühl, aus bürgerlicher Verantwortung, aus Betroffenheit, aber auch deshalb, weil wir davon überzeugt sind, dass bei Menschen mit Behinderungen enorme Ressourcen für die Gesellschaft schlummern, eine noch stärkere Unterstützung gewünscht. Das ist keine Frage. Aber das steht wie alles andere unter der Überschrift der Finanzierungsmöglichkeiten. Deshalb bin ich sehr froh, dass wir mit Ausnahme von BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN – das ist aber schon ein wenig Tradition – auf freiwillige Lösungen gesetzt haben. BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN war der Meinung, man solle eine nicht fristgerechte Umsetzung als Ordnungswidrigkeit ahnden. Das ist wieder der Hinweis auf die große Staatskeule. Das wird nicht funktionieren; das nimmt die Menschen nicht mit. Das entspricht auch nicht dem, was die Behinderten von der Gesellschaft erwarten.

Vielen Dank.

(Beifall der FDP und bei der SPD)

Ich erteile Herrn Abgeordneten Marz das Wort.

Sehr geehrter Herr Präsident, meine Damen und Herren! Manchmal ist das aus unterschiedlichen Gründen schwierig. Wenn ich mir die Beiträge der Koalitionsfraktionen anhöre, kann ich sagen, sie langweilen mich unsäglich.

(Pörksen, SPD: Ihre Arroganz ist grenzenlos!)

Herr Dr. Schmitz schließt jeden Beitrag mit der Staatskeule. Unter dem vorhergehenden Tagesordnungspunkt hat Frau Ministerin Dreyer einen hinweisenden Satz geprägt, der über all Ihren Reden stehen könnte. Ich habe ihn mir notiert, weil ich ihn so hinweisend fand. Er lautet: Was die Landesregierung tut, ist richtig und wichtig. – Eigentlich könnten wir das oben in Goldbuchstaben hinschreiben. Dann könnten Sie sich zumindest einen Teil Ihrer Reden sparen.

(Beifall des BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der CDU – Zuruf des Abg. Rösch, SPD)

Meine Langeweile muss Sie nicht weiter kümmern, aber das Ganze hat in einem ganz anderen Sinn etwas Be

hinderndes, nämlich es behindert differenzierte Diskussionen. Was sollen wir als Opposition machen, wenn Sie sagen, wir sind nur gut? Das erlaubt eigentlich keine differenzierte Auseinandersetzung, weil dann müssten wir im Reflex sagen, es ist alles nur schlecht.

Ich will jetzt aber ein Beispiel anführen, an dem deutlich wird, dass man das nicht so machen muss. Vielleicht lernen Sie aus diesem Beispiel. Meine Damen und Herren, das Europäische Jahr hat natürlich eine Reihe von Herausforderungen und Chancen mit sich gebracht. Der Hinweis auf das Landesgleichstellungsgesetz ist selbs tverständlich erlaubt; er ist sogar zwingend. Wenn man sich ansieht, welche Chancen und Herausforderungen mit diesem Jahr verbunden waren und verbunden sind, kann man eine differenzierte vorläufige Bilanz ziehen.

Ich will mit etwas Positivem anfangen. Auch wenn wir in Bezug auf das Landesgleichstellungsgesetz weitergehende Vorstellungen hatten, sage ich ganz offen, dass das beschlossene Gesetz ein wirklicher Fortschritt ist. Zu dieser Aussage stehe ich. Natürlich ist das ein Fortschritt und eine Sache, die in die richtige Richtung weist. Ich sage aber auch, es sind nicht alle Chancen genutzt und alle Herausforderungen ergriffen worden. Das wissen Sie auch. Das ist keine Majestätsbeleidigung, sondern das ist eine ganz nüchterne Analyse.

Meine sehr geehrten Damen und Herren, ich nenne Ihnen einige wenige Punkte, bei denen Chancen nicht ergriffen worden sind. Wir haben keinen wirklichen Einstieg in das Thema „Integrative Erziehung“ und „Integrative Bildung“ gefunden, und wir haben ein zu starkes Festhalten am Sonderschulwesen. Das ist keine Integration und weist nicht in die richtige Richtung. Da fehlt die notwendige Konsequenz. Es besteht keine Verpflichtung für die Kommunen, in diesem Bereich stärker aktiv zu werden. Das Gesetz enthält keine ausreichende Regelung zur Barrierefreiheit in der Arbeitsstättenverordnung. Die Barrierefreiheit ist in der Arbeitswelt ein ganz wichtiger Bereich.

Der Arbeitsmarkt ist allgemein angespannt. Natürlich wissen wir, dass Menschen mit Behinderungen in einem ganz besonderen Maß von Arbeitslosigkeit betroffen sind. In diesem Zusammenhang – auch das ist wieder ein differenziertes Urteil – begrüßen wir natürlich die Initiative von Frau Staatsministerin Dreyer, über Integrationsbetriebe wesentlich stärker auf den allgemeinen Arbeitsmarkt einzuwirken. Natürlich ist das eine richtige und wichtige Initiative.

Wir bestärken die Staatskanzlei in ihren Bemühungen, im Bereich der Medienpolitik viel stärker darauf hinzuwirken, dass es auch bei privaten Rundfunkveranstaltern mehr Sendungen für Blinde und Gehörlose gibt.

Natürlich sehen wir die Anstrengungen, die in diesem Bereich unternommen werden. Wir unterstützen diese Anstrengungen und sagen, dass sie noch verstärkt werden müssen.

Eine dauerhafte Integration ist aber keine einseitige Angelegenheit. Manchmal habe ich den Eindruck, es wird so getan, als wäre Integration etwas, das behinderte Menschen zu leisten haben. Die Situation ist um

gekehrt. Integration ist keine Assimilation, Integration in diesem Feld ist die Anpassung der Lebenswirklichkeit an die Bedürfnisse und Notwendigkeiten von behinderten Menschen.

(Glocke des Präsidenten)

Diesen Schritt müssen wir gehen, und zwar nicht nur im Bereich der realen materiellen Welt, sondern auch oben in den Köpfen. Ich sehe, dass es Tendenzen in diese Richtung gibt, aber die notwendigen Konsequenzen fehlen manchmal noch.

(Beifall des BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

Ich erteile Frau Staatsministerin Dreyer das Wort.