Protokoll der Sitzung vom 13.12.2007

Europa für die Bürgerinnen und Bürger – Der Vertrag von Lissabon aus rheinland-pfälzischer Sicht – Antrag der Fraktionen der SPD, CDU und FDP – Drucksache 15/1725 –

Das Wort hat Herr Abgeordneter Klöckner.

Herr Präsident, werte Kolleginnen und Kollegen! Heute ist ein besonderer Tag für Europa. In der portugiesischen Hauptstadt Lissabon wird heute der am 19. Oktober paraphierte Vertrag von den Staats- und Regierungschefs der 27 Staaten der Europäischen Union unterzeichnet. Bis zum 1. Januar 2009, spätestens jedoch bis zu den Wahlen zum Europäischen Parlament im Juni 2009, soll er in Kraft treten.

Es ist besonders begrüßenswert und ein außergewöhnlicher Glücksfall, dass der gemeinsame Antrag von SPD, CDU und FDP mit dem Titel „Europa für die Bürgerinnen und Bürger – Der Vertrag von Lissabon aus rheinlandpfälzischer Sicht –“ just an diesem Tag der Vertragsunterzeichnung im Landtag diskutiert wird. Übrigens ist der Vertrag während unserer Ausschusssitzung in Brüssel

vom 27. November bis 29. November so abgestimmt worden.

Dieser gemeinsame Antrag ist auch ein sichtbares Zeichen für die große Übereinstimmung in Sachen Europa über die Partei- und Fraktionsgrenzen hinweg. Wie wichtig ein Zusammenstehen der demokratischen Parteien ist, haben die Bilder von der gestrigen Unterzeichnung der Europäischen Grundrechtecharta im Straßburger Europaparlament gezeigt.

Die rund 60 vorwiegend rechtsextremen Parlamentarier aus Großbritannien, Polen, Frankreich, Italien und Dänemark haben mit ihrem Verhalten eine Ideologie offenbart, die zeigt, wie es der EU-Abgeordnete Graham Watson ausdrückte, warum diese Grundrechtecharta so bedeutend und notwendig ist.

Spätestens nach dem Scheitern der Referenden über eine Europäische Verfassung in Frankreich und in den Niederlanden ist die Europäische Union in eine Krise geraten. Es bestand höchster Handlungsbedarf, um neue vertragliche Grundlagen zu schaffen. Gerade die deutsche Präsidentschaft hat hierzu entscheidende Vorarbeiten geleistet.

Zwar sind nicht alle Wunschvorstellungen Deutschlands in Erfüllung gegangen, wie dies zum Beispiel der Bundesrat in seinem Beschluss vom 12. Oktober 2007 auch zum Ausdruck gebracht hat. Ich erinnere an die Tatsache, dass die Symbole der EU, die Flagge, die Hymne, der Leitspruch, der Euro und auch der Europatag, nicht mehr im Vertrag genannt werden.

Alles in allem hat der Vertrag von Lissabon eindeutig die Handlungsfähigkeit sowohl der Europäischen Union als auch ihrer Organe nach innen und außen gestärkt. Der langjährige französische Ministerpräsident und Außenminister Aristide Briand sagte einmal, ein Kompromiss ist dann vollkommen, wenn alle unzufrieden sind.

Ich glaube nicht, dass es sich im vorliegenden Falle des Reformvertrags um einen im Briandschen Sinne vollkommenen Kompromiss handelt; denn trotz aller Unzulänglichkeiten im Einzelnen hat er doch eine Grundlage geschaffen, auf der die weitere Entwicklung Europas aufbauen kann. Ich pflichte in diesem Zusammenhang voll und ganz der Aussage von Kurt Beck bei, der sagte: Der Reformvertrag ist ein großer Erfolg für Europa und zeugt von der Zukunftsfähigkeit des europäischen Einigungswerkes. –

In jedem Falle wird die Europäische Union mit In-KraftTreten des Vertrages demokratischer und bürgernäher. Nicht nur das Europäische Parlament wird in seinen Rechten gestärkt, auch die nationalen Parlamente wie Bundestag, Bundesrat und die Landtage erfahren eine Stärkung.

Eine zentrale Bedeutung kommt dem SubsidiaritätsFrühwarnsystem zu. Durch das Klagerecht am Europäischen Gerichtshof bei Verstößen von EU-Rechtsakten gegen das Subsidiaritätsprinzip sind die Rechte ausgeweitet und damit langjährige Forderungen erfüllt worden. Auch der Ausschuss der Regionen erhält jetzt ein Klage

recht bei Verletzung seiner Mitwirkungsrechte oder des Subsidiaritätsprinzips.

Die Mitglieder des Europaausschusses haben während ihrer Sitzung in Brüssel auch über die Möglichkeiten gesprochen, wie sich der Landtag in diesem Frühwarnsystem einbauen kann. Ich rege an, interfraktionell innerhalb des Ausschusses für Europafragen eine informelle Gesprächsebene zu schaffen, die sich dieser Aufgabe widmet.

Meine Damen und Herren, gerade Rheinland-Pfalz nicht nur als quasi geografischem Mittelpunkt Europas kommt eine besondere Bedeutung als Motor im europäischen Getriebe zu. Schon früh hat unser Land die notwendigen Akzente gesetzt. Seit mehr als 40 Jahren unterhalten wir partnerschaftliche Beziehungen zu Frankreich und speziell zur Region Burgund, und nach der Öffnung Osteuropas wurden bereits 1991 Verbindungen zur Woiwodschaft Oppeln geknüpft. Mit Mittelböhmen, Oppeln und Burgund zusammen ist das sogenannte „ViererNetzwerk“ entstanden, innerhalb dessen ein reger Austausch gerade auch unter jungen Menschen besteht.

Eine große Bedeutung kommt dem Ausschuss der Regionen zu. In diesem Ausschuss werden aktuelle Vorlagen der Europäischen Union mit regionalem Bezug behandelt. Themen wie die Lissabon-Strategie, das Grünbuch Energie, lebenslanges Lernen, Kultur, die Reform der Weinmarktordnung, Postdienste, Sozialleistungen und vieles mehr stehen auf der Agenda und fließen in die regelmäßige Stellungnahmen des Ausschusses der Regionen ein. Der Ausschuss der Regionen nimmt eine wichtige Mittlerrolle zwischen den Bürgerinnen und Bürgern einerseits und den europäischen Institutionen andererseits ein und sorgt für eine stärkere Einbeziehung der lokalen und regionalen Gebietskörperschaften.

In der Großregion Saarland, Lothringen, Luxemburg, Rheinland-Pfalz, in der Wallonie, in der deutschsprachigen Gemeinschaft sowie der französischen Gemeinschaft Belgiens wird Europa tagtäglich gelebt. Für viele Menschen ist es heute eine Selbstverständlichkeit, beispielsweise in Deutschland zu wohnen, in Luxemburg zu arbeiten und in Lothringen einzukaufen. Natürlich sind auch andere Konstellationen denkbar.

Sicherlich eine der wichtigsten Veranstaltungen unter der Federführung des Ausschusses der Regionen sind die „Open Days“ in Brüssel. Diese Europäische Woche der Regionen und Städte findet seit 2003 alljährlich statt. Die ursprüngliche Idee, der Vertretung ein Forum für ihre Arbeit in Brüssel zu bieten und das Knüpfen von Kontakten zu fördern, hat sich im Laufe der vergangenen Jahre zu einem echten Erfolgsmodell entwickelt. Im Anfangsjahr 2003 mit zehn Regionalbüros in Brüssel gestartet, steigerte sich die Teilnehmerzahl stetig von Jahr zu Jahr bis auf heute sage und schreibe 212 Regionalbüros. An 150 Workshops und Seminaren haben zuletzt 5.500 Menschen teilgenommen. Diese Workshops bieten den Regionalvertretungen die Gelegenheit, praktische Erfahrungen und aktuelle Projekte zu erörtern. Durch die persönlichen Kontakte und den Austausch von Erfahrungen bei der Umsetzung regionaler Politik wird eine

Vernetzung gefördert, und ein Europa von unten kann so weiter wachsen.

Inzwischen haben alle Teilnehmerinnen und Teilnehmer auch die Werbewirksamkeit für die eigene Region erkannt. Für Rheinland-Pfalz und die Partnerregionen aus dem „Vierer-Netzwerk“ sowie der Großregion sind die „Open Days“ jedenfalls ein festes Datum zur Pflege der Kontakte mit weiteren Regionen.

In diesem Jahr standen die „Open Days“ unter dem Motto: „Mehr Wachstum und Beschäftigung – Die Regionen machen’s möglich“. Rheinland-Pfalz widmete sich zusammen mit der Großregion in zwei Workshops der internationalen Zusammenarbeit sowie dem Standortmarketing und der Standortentwicklung. Die „Open Days“ sind aus der Brüsseler Szene nicht mehr wegzudenken, und ich denke, dafür gebührt Herrn Dr. KarlHeinz Klär und seinem Team ein großes Dankeschön!

(Beifall der SPD)

Meine Damen und Herren, die meisten von uns erleben in der Diskussion mit Schülerinnen und Schülern am Europatag, aber auch in Gesprächen mit den Menschen vor Ort, wie tief noch Ressentiments und Vorbehalte gegenüber Europa bestehen. Für viele ist Europa weit weg. Ein erkennbares Informationsdefizit reduziert Europa auf einen fernen Bürokratiemoloch, der lebensfremde Entscheidungen trifft.

Im Rahmen des Mainzer Mediendisputs hatte ich die Gelegenheit, mit 16 Jungjournalistinnen und -jungjournalisten über Europa zu diskutieren. Dabei habe ich meine Kritik zum Ausdruck gebracht, dass die BrüsselBerichterstattung oftmals nur auf dem Niveau von Boulevard-Journalismus funktioniert: Wo kein Skandal ist, wird oft einfach nicht berichtet.

So wird von Europa auch in Zukunft eher das Bild eines Bürokratiesumpfes bestehen bleiben als das einer lebendigen, politischen Größe. Meine Gesprächspartner sind meistens völlig verblüfft, wenn ich ihnen sage, dass für das Europa der 480 Millionen Menschen nicht mehr Bedienstete tätig sind als für die knapp 1 Million Einwohner der Stadt Köln, und darunter sind noch ca. 60 % im Übersetzerdienst.

Meine Damen und Herren, Europa ist mehr als eine wirtschaftliche Größe. Rheinland-Pfalz profitiert ökonomisch von der Europäischen Union, und wirtschaftlich erbringt es unseren Bürgerinnen und Bürgern einen finanziellen Mehrwert. In der neuen Förderperiode hat Rheinland-Pfalz über 30 % mehr Mittel aus dem Europäischen Fonds für Regionalentwicklung – EFRE – erhalten. Hiermit unterstützt das Land die Schaffung von mehr und besseren Arbeitsplätzen, die Förderung von Innovationen für mehr Wachstum und die Förderung regionaler Entwicklungspotenziale.

Im Zeitraum von 2000 bis 2006 sind insgesamt EUFördermittel in Höhe von rund 600 Millionen Euro geflossen, also 85 Millionen Euro pro Jahr. 65 % aller Ausfuhren des Landes gehen in EU-Staaten, 71 % beträgt der Anteil am gesamten Import des Landes. Diese Zah

len zeigen die enge wirtschaftliche Verknüpfung und den hohen Stellenwert Europas für Rheinland-Pfalz.

Aber neben dieser sicherlich nicht unwichtigen ökonomischen Dimension sind andere Aspekte mindestens ebenso bedeutend. Dank der Europäischen Union können wir den Herausforderungen der Globalisierung begegnen. Sie ermöglicht uns eine verbesserte Interessenwahrung auf der Weltbühne. Eine gesicherte Energieversorgung ist eine ebenso wichtige Aufgabe wie die Vereinbarung hinreichender Mindeststandards im Sozial- und Umweltbereich.

Eine der größten Errungenschaften des vereinten Europas ist die Friedenssicherung, die seit über 60 Jahren ein friedliches Zusammenleben ehemals verfeindeter Völker ermöglicht hat. Wir haben die einmalige Chance, eine lebendige Wertegemeinschaft zu erhalten und weiter zu gestalten, die auch unseren Kindern und Enkeln eine Zukunft in Frieden und Wohlergehen ermöglicht.

Von Jacques Delors, der von 1985 bis 1995 Präsident der Europäischen Kommission war, stammt der Ausspruch: „Europa ist wie ein Fahrrad. Hält man es an, fällt es um.“

Sorgen wir also gemeinsam dafür, dass das Fahrrad Europa ständig in Bewegung bleibt.

Vielen Dank.

(Beifall der SPD)

Das Wort hat nun Herr Kollege Dr. Enders.

Herr Präsident, meine sehr verehrten Damen und Herren! Das Jahr 2007 war für Europa gleichzeitig ein Jahr der Feierlichkeiten, aber auch ein Jahr der tiefen Krise. Dabei lagen die Lähmung des politischen Europas durch mangelnde Einigkeit und die Freude über den 50. Jahrestag des Bestehens der Römischen Verträge erstaunlich dicht beieinander.

Erst spät in diesem Jahr gelang es, maßgeblich dank der deutschen Europapolitik unter Führung von Bundeskanzlerin Angela Merkel, einen Konsens unter den 27 Mitgliedstaaten zu erreichen. Vorausgegangen war das Scheitern der sogenannten neuen EU-Verfassung an Volksbefragungen. Dies war um so heikler, als erst durch diese Abstimmungsergebnisse vielen Politikern in Europa deutlich wurde, dass zu viele Menschen der rasanten Entwicklung des politischen Europas nicht mehr folgen konnten oder es zu diesem Zeitpunkt vielleicht auch gar nicht wollten.

Seien wir ganz offen: Die Krise Europas ist eine Vertrauenskrise. Hätten wir nämlich in allen 27 Staaten die Bürgerinnen und Bürger gefragt, so bin ich überzeugt, dass es noch mehr ablehnende Ergebnisse gegeben

hätte. Dass schließlich alle bestehenden Regelungen und die angedachten Reformen einer eingehenden Prüfung unterzogen wurden, war die logische Folge einer europäischen Politik, die nur allzu oft in den vergangenen Jahrzehnten ein gutes Stück weit an den Wünschen und Sorgen der europäischen Bürger vorbeigezogen war.

Es war die deutsche Ratspräsidentschaft unter der Bundeskanzlerin, die die Mammutaufgabe auf sich nahm, mit den 27 Regierungen mit allen ihren politischen Strömungen so viele Konsenspunkte für einen Neuanfang der Institution Europa zu finden, dass am Ende schließlich alle Regierungen ein Ja wichtiger als ein Nein zu Europa fanden.

(Beifall der CDU)

Diese Früchte konnten dann in Lissabon geerntet werden.

Wir, die Rheinland-Pfälzer bzw. Rheinland-Pfalz ist dabei auf den ersten Blick in einem Europa von Skandinavien bis Sizilien, vom Atlantik bis zum Baltikum nur ein kleiner Flecken. Und doch sind wir genauso Europa wie die Menschen in Paris, Berlin, Rom oder ganz im Süden auf Kreta.

Dass aber bei vielen Europapolitikern und -beamten beim Blick auf das Ganze der fast 500 Millionen Bewohner Europas der Blick auf das Einzelne, auf das Wesentliche verbaut blieb, war sicherlich ein entscheidender Grund dafür, dass die Bürger in Umfragen zu Europa nur an normierte Weintrauben, fehlgeleitete Investitionen, Subventionen und an unkontrollierte Einwanderung oder sinkende Löhne erinnert wurden. Dieser fehlende Blick auf den Bürger führte meines Erachtens dazu, dass eine Mehrheit der Europäer einem Europa als Institution heute noch kritisch und ohne viel Vertrauen gegenübersteht. Wenn Sie einmal im Land fragen, wer denn die Abgeordneten des Europäischen Parlaments sind, so werden Sie bei vielen Bürgern keine Antwort bekommen, weil sie die Damen und Herren der unterschiedlichen Parteien namentlich gar nicht kennen, vielleicht auch aufgrund von mangelndem Interesse.

Unser Antrag, der gemeinsame Antrag für ein Europa der Bürgerinnen und Bürger, den wir heute abschließend beraten, ist sicherlich ein Mosaikstein im großen Schmuckbild Europas, und er kann dazu beitragen, dass in Rheinland-Pfalz auch durch Berichterstattung Europa den Bürgerinnen und Bürgern verständlicher, sinnvoller und auch unterstützungswürdiger wird.

Nicht wenige der Reformen, die heute als Vertrag von Lissabon in die Geschichte eingehen, dienen genau dem Zweck, nämlich die Verwaltung und die Regierung Europas demokratischer und bürgernäher zu machen. Herr Kollege Klöckner hat das eben auch schon entsprechend erwähnt.

Es sind nämlich die Regionen wie Rheinland-Pfalz, die dieses Europa ausmachen. Weltoffen und bodenständig sollte man sein, aber auch traditionell und dynamisch. Ich denke, wir Rheinland-Pfälzer sind bereit zu geben

und zu nehmen, reicher zu werden an Kultur und Toleranz und an wirtschaftlichen Möglichkeiten.

Deswegen begrüßt die CDU-Fraktion, dass die Vielfalt der Regionen in Europa künftig ein höheres Gewicht gegenüber der Einfalt mancher europäischen Regierungs- und Regelungswut bekommt.

(Beifall der CDU)