Protokoll der Sitzung vom 09.09.2010

vorbeigeht; denn das Problem wird nicht durch den Einsatz einer Chipkarte gelöst.

Frau Thelen, wenn Sie meinen, dass Teilhabeleistungen bei Sportvereinen, Musikvereinen usw. über Kartenlesegeräte und Geldautomaten eingefordert werden können, ist es mir neu, dass all diese Gruppierungen über Kartenlesegeräte verfügen. Da aber die dadurch entstehenden Kosten vonseiten des Bundes übernommen werden sollen, lassen wir uns überraschen.

Die Familienministerin des Bundes hat aber gleich reagiert und zum Ausgleich für die erwarteten Kosten das Elterngeld für Hartz-IV-Empfängerinnen und -empfänger gestrichen. Damit werden ungefähr die Kosten kompensiert, die im Raum herumgeistern. Man geht von Mehrkosten von 20 Euro pro Monat und Kind aus. Die zu erwartenden 480 Millionen Euro werden mit den 440 Millionen Euro, die ungefähr eingespart werden könnten, ausgeglichen. Dies erfolgt mit dem etwas vagen Argument, das Elterngeld habe etwas mit Beruf zu tun.

Allerdings beziehen weiter die Männer oder Frauen in höheren Positionen, die gar nicht arbeiten gehen, wie zum Beispiel die Frauen von Professoren und Bankern, Elterngeld, obwohl sie gar nicht arbeiten. Das ist eine absolute Ungleichbehandlung der Hartz-IV-Empfänger. Frau Schneider, das ist das System der schwarz-gelben Bundesregierung, nämlich bei denen, die haben, noch ein bisschen draufzulegen, und bei denen, die sozial schwach gestellt sind, noch etwas zu nehmen, auf dass die Schere in Deutschland immer weiter auseinanderklafft. Das ist das System schwarz-gelb, das wir ganz klar anprangern.

(Beifall bei der SPD)

So kann man nicht mit den Menschen umgehen. Ich kann Ihnen sagen, die SPD hat ihre Hausaufgaben gemacht; denn die SPD will die Anforderungen des Bundesverfassungsgerichts in vollem Umfang umsetzen. Es geht nämlich darum, den tatsächlichen Bedarf zuzüglich des Teilhabeanspruchs, der bei dieser Entwicklung neu ist, abzudecken. Das bedeutet, wir können in diesem Fall nicht von einem starren Regelsatz ausgehen, sondern es muss im Grunde genommen von drei Stufen ausgegangen werden.

Zum einen muss der sogenannte Regelbedarf aktuell festgestellt werden. Darauf müssen aber zusätzliche Einzel- und Sonderbedürfnisse aufgesattelt werden, die jeweils individuell berechnet werden müssen, da sie die nicht in starre Sätze hineinpressen können. Dann muss natürlich auch noch eine Förderung der soziokulturellen Teilhabe durch die Infrastruktur erfolgen. Es ist einfach viel zu wenig, das nur mit einer Chipkarte wegzuschieben.

Es geht um einen gerechten Mix von Geld und Sachleistungen, die aber so gestrickt sein müssen, dass es zu keiner Stigmatisierung und zu keiner Diskriminierung kommt. Man darf nicht sagen können, hier ist das Chipkartenkind, bei dem klar ist, die Eltern sind Hartz-IVEmpfänger, und hier ist das Kind der etwas Bessergestellten. Außerdem muss man auch einen Blick auf die Eltern haben, die mit ihrem Einkommen gerade über

dem sogenannten Hartz-IV-Regelsatz liegen; denn auch die und deren Kinder haben genauso ein Anrecht auf die Teilhabe. Auch die haben in der Regel große Schwierigkeiten, die Teilhabe ihrer Kinder in der Richtung zu finanzieren. Deshalb erwarten wir vernünftige und klare Lösungen, die den Anforderungen entsprechen.

Bedenken Sie noch einmal: Es geht nicht darum, dass hier irgendein Almosen verteilt wird.

(Glocke des Präsidenten)

Die Eltern und Kinder haben einen Rechtsanspruch.

Schönen Dank.

(Beifall der SPD)

Für die CDU-Fraktion hat Frau Kollegin Thelen das Wort.

Sehr geehrter Herr Präsident, meine Damen und Herren! Ich habe den Eindruck, hier werden die Dinge vermischt, um eher Nebelkerzen zu werfen als zur Aufklärung beizutragen. Das sollten wir an der Stelle vermeiden.

Ich will deshalb zur Klarstellung noch einmal auf die Ausgangslage eingehen. Die Ausgangslage war gegeben und begründet durch die Einführung der HartzGesetze unter Rot-Grün, wo es eine Neuberechnung der Regelsätze gegeben hat. Man hat hier in dem Erwachsenenregelsatz den Part Bildung herausgenommen mit der Begründung, diese Dinge würden über Maßnahmen der ARGEn für die Erwachsenen finanziert. Dann werden die Regelsätze, wie es schon seit vielen Jahrzehnten, auch schon früher in der Sozialhilfe üblich war, als prozentualer Anteil des Erwachsenenregelsatzes festgelegt. Dabei hat man nicht berücksichtigt, dass vorneweg der Bildungsanteil herausgefallen ist.

Das hat dann zu dem angesprochenen Urteil des Bundesverfassungsgerichtes vom 9. Februar 2010 geführt und natürlich dem Gesetzgeber einen ganz klaren Auftrag erteilt: Nachfolgende Änderungen sind bis zum 1. Januar 2011 umzusetzen. Kinder und Jugendliche haben je nach Alter und Entwicklungsstufe besondere Bedürfnisse, die bei der Förderung im SGB II in Zukunft berücksichtigt werden müssen. Das Gericht hat entschieden, dass der Bund eine Fürsorgepflicht für die Kinder von Langzeitarbeitslosen hat, die er ab diesem Stichtag zwingend erfüllen muss.

Die Berechnung der Regelsätze, das heißt das Basisgeld für Erwachsene und Kinder, muss zukünftig transparent sein. Es muss besser als bisher und nachvollziehbar sein, auf welcher Grundlage der Bedarf bestehen wird. Die Höhe der Leistungen im SGB II muss regelmäßig aktualisiert und überprüft werden. Dafür sollen Preissteigerungen und Lohnentwicklungen maß

gebend sein und nicht mehr wie bisher der aktuelle Rentenwert.

Interessant ist es – Frau Sahler-Fesel, das sollten Sie noch einmal in der Urteilsbegründung nachlesen –, das Bundesverfassungsgericht ist sich sehr wohl bewusst, dass die kompletten Daten durch die Erhebungsverfahren über das Statistische Bundesamt erst im Herbst dieses Jahres vorliegen werden, weil man ganz transparent mit einer Einkommens- und Verbrauchsermittlung entsprechender Haushalte – – – Insgesamt wird das Einnahme- und Ausgabeverhalten von 60.000 Haushalten in Deutschland überprüft, um wirklich zu konkreten Erkenntnissen zu kommen, welche Bedürfnisse Haushalte haben. Man schaut insbesondere auf die Haushalte mit geringerem Einkommen. Es wird Regelsätze ausschließlich an den Bedürfnissen von Kindern orientiert geben werden, wenn die Fakten vorliegen.

Von daher sollten wir erst einmal ein wenig Geduld haben. Wichtig ist, dass man den richtigen Weg beschreitet. Ich denke, es ist eindeutig, dieser Weg ist richtig. Es gibt vom Bundesverfassungsgericht neben diesen Festlegungen kinderorienterter Bedarfssätze auch die ausdrückliche Aufforderung, den besonderen Kinderbedarf, den Kinder zum Beispiel im Lernförderbereich, im Teilhabebereich, Teilhabe an Kultur, Sport, Vereinsleben oder auch Anspruch auf Teilhabe an einem Mittagessen, Anspruch auf Schulmaterialien haben, dieses in besonderer Weise über diesen Basiswert, der, wie ich eben erläutert habe, neu ermittelt wird, zu gewährleisten.

Da stellt sich jetzt die Frage: Wie machen wir das am vernünftigsten, welchen Weg kann es dafür geben? Fakt ist, der Basiswert wird in Geld ausgezahlt. Die neue Idee von Ministerin von der Leyen ist, diesen darüber hinausgehenden Bedarf sehr individuell zu ermitteln, was nach unserem Dafürhalten richtig ist, weil ich nur dann zu entsprechenden Angeboten kommen kann, und dieses Geld, das ermittelt wird, nicht in Bargeld zur Verfügung zu stellen, sondern auf eine Chipkarte zu laden, und zwar auf dieser Chipkarte in verschiedenen Börsen, wo ich ganz konkret für den Bereich Lernförderung und für den Bereich Teilhabe einen Topf aufladen kann. Ich glaube, wir sind heute mittlerweile alle so im Umgang mit Geldkarten geübt – vieles wird mit Geldkarten bezahlt –, dass das auch mit Diskriminierung nichts zu tun hat.

Fakt ist allerdings auch, dass die Bundesregierung zunächst vom Bundesverfassungsgericht den Auftrag hat, für die Kinder, die unter den Leistungsbereich von SGB II und XII fallen, dies so zu regeln. Das heißt nicht, dass es nicht auch Angebote für die Kinder, die Sie zu Recht angesprochen haben, von Familien mit nur geringfügig darüberliegendem Einkommen geben kann. Hier denken wir, dass es gute freiwillige Möglichkeiten gibt. Das machen heute schon Städte wie Stuttgart vor, wo 50.000 Kinder seit etwa zehn Jahren solche Geldkarten von der Stadt bekommen, mit der sie den Zoobesuch finanzieren können, mit der sie kulturelle Angebote oder auch Vereinsmitgliedschaften wahrnehmen können.

(Frau Spurzem, SPD: Hat jeder Verein ein Lesegerät?)

Ich sehe keine Probleme, dass sich das auch praktisch umsetzen lässt. Man hat einmal überschlagen: Die Kosten der Hardware-Ausstattung liegen nachher bei unter 3 Euro pro Gerät. Ich denke, auch das können wir leisten, wenn wir damit eine Gewährleistung im Sinne der Kinder sicherstellen können.

Vielen Dank.

(Beifall der CDU und der FDP)

Für die FDP-Fraktion spricht Herr Kollege Dr. Schmitz.

Herr Präsident, liebe Kolleginnen und Kollegen! Bitte keine Panik, bitte keine Polemik und bitte keine Politik, die auf Angst und Neid basiert.

Zur Klarstellung: Hartz IV – Frau Kollegin Thelen hat es angesprochen – ist nicht von Schwarz-Gelb eingeführt worden – Frau Sahler-Fesel, Sie erinnern sich vielleicht noch –, es war Rot-Grün. Das von Ihnen beklagte jetzt gegebenenfalls rückgeführte Elterngeld für Hartz-IVBezieher gab es nicht, als Schwarz-Gelb von Rot-Grün übernommen hat. Sie beklagen letztlich zwei Legislaturperioden und äußern sich sehr negativ zu den Ergebnissen dieser zwei Legislaturperioden. Da sind wir relativ nah beieinander.

Aber wir sollten die Kirche im Dorf lassen und jetzt nicht, wenn am 20. September der Gesetzentwurf vorliegt, den „wilden Max“ im Parlament spielen. Das erweckt den Eindruck, dass man den nur so lange spielen kann, wie es noch keine realen Diskussionsbasen gibt. Sie stochern in etwas herum, was es noch gar nicht gibt. Sorry, ich muss es so klar zum Ausdruck bringen.

(Vereinzelt Beifall bei der FDP)

Worum geht es in der Entscheidung? Kollegin Thelen hat es im Detail beschrieben. Es geht natürlich um Kinder und Erwachsene in den Berechnungsgrundlagen und in der Sicherstellung von Transparenz. Aber es geht in der Diskussion und auch in dem, was das Bundesverfassungsgericht einfordert, vor allem um Chancengerechtigkeit für Kinder, vor allem um soziale Integration von Kindern und vor allem um die Sicherung der Teilhabe von Kindern.

Diese Ziele sind doch unsere gemeinsamen Ziele. Wir sollten nicht so tun, als ob eine Partei oder eine politische Richtung das Monopol auf diese Ziele hat. Das ist für die Menschen nicht mehr nachvollziehbar; das ist doch am Rande des Lächerlichen. Wir streiten nur da- rum, wie wir diese Ziele am besten erreichen; und da haben wir in der Tat unterschiedliche Auffassungen.

Ich beziehe mich jetzt vor allem auf die Diskussion des über das Basispaket hinausgehenden Zuschusssystems. Sie sprechen von einer Chipkarte. Das ist der Begriff, der in der Presse auftaucht. Offiziell habe ich

diesen Begriff in der Diskussion noch nicht wahrgenommen. Aber sei es drum. Sie bauen einen Berg von Problemen auf. Sie sagen, die Zeit läuft davon. Wir haben gestern darüber diskutiert, wie schwierig es ist, wenn eine Landesregierung eine Vorlage, die vergleichsweise banal ist, am Abend vorher einbringt. Sie waren ja in der Ausschusssitzung. Also über den Faktor Zeit kann man immer streiten. Die Zeit läuft erst einmal noch nicht davon. Der 1. Januar 2011 ist der Umsetzungszeitpunkt, und ich bin optimistisch, dass zu diesem Zeitpunkt etwas vorliegen wird. Ich bin auch ziemlich sicher, dass es nicht diese berühmt-berüchtigte Chipkarte sein wird, die zum 1. Januar 2011 vorliegen wird. Ich bin durchaus mit Ihnen einer Meinung, das wäre zu schnell, das jetzt in allen Verästelungen hinzubekommen. Das hat aber auch niemand behauptet. Sie bauen diesen Popanz auf. Sonst habe ich das noch von niemandem gehört.

(Staatsministerin Frau Dreyer: Ach!)

Die Diskussion – Frau Ministerin, auf Ihr erstauntes „Ach“ hin – zu den Kartelesegeräten erinnert mich fatal an eine Diskussion, die wir im Kollegenkreis geführt haben, als es darum ging, die Abrechnung nicht mehr händisch vorzunehmen, sondern über Lesegeräte und über EDV. Das war für 30 % bis 40 % der Kollegen nicht zumutbar. Es gab einen Wust von Bedenken. Als dann 0,7 % Bearbeitungszuschlag für händische Abrechnung eingeführt wurden, hatten ein Quartal später alle flächendeckend Lesegeräte für kleines Geld. Also wir wollen und sollen die Kirche im Dorf lassen.

(Beifall der FDP)

Meine Damen und Herren, ich komme zu noch einem wichtigen Punkt.

Frau Ministerin, ganz konsistent sind Sie in Ihrer Argumentation nicht. Ihre Argumentation folgt oft – ich erlaube mir, das so festzuhalten – parteipolitischen Mustern. Ich finde, das ist der Sache nicht angemessen. Sie äußern sich absolut unterschiedlich, wenn es um ein Landesprogramm geht, mit dem Schulmittel gefördert werden, wenn es um ein Betreuungsgeld geht, das von Bundesseite aus angestoßen wird, und wenn es um die Diskussion geht, ob das Geld – nicht das Basisgeld, sondern die zusätzlichen Maßnahmen – gießkannenartig an alle oder zielgerichtet dort bezahlt werden soll, wo die Chancengerechtigkeit von Kindern gefördert werden kann. Vielleicht können Sie diese Disparitäten in Ihrem Redebeitrag auflösen. Ich würde mich freuen, wenn Sie darauf eingehen.

Meine Damen und Herren, auf alle anderen Punkte, zum Beispiel die Vorteile eines Systems, das keine Gießkanne ist, komme ich im zweiten Teil zurück.

Ich danke Ihnen.

(Beifall der FDP)

Das Wort hat Frau Staatsministerin Dreyer.

Herr Präsident, meine sehr geehrten Herren und Damen Abgeordnete! Ich möchte zunächst noch einmal auf den Kern des Urteils des Bundesverfassungsgerichts eingehen und feststellen, dass das Bundesverfassungsgericht nur die Ableitung der Einkommens- und Verbrauchsstichprobe (EVS), die damals zur neuen Berechnungsgrundlage gemacht worden ist, kritisiert hat.

Die Sozialminister fast aller Bundesländer haben seit vielen Jahren dafür plädiert, dass es zu einem eigenständigen Regelsatz kommt. Damit konnten wir uns nicht durchsetzen. Das war für uns in Rheinland-Pfalz damals Anlass, das Schulstarterpaket in den Bundesrat mit einzubringen, was den Zweck hatte, dass Kinder mit wenig Geld in die Lage versetzt werden, im Schuljahr jeweils Schulmaterialien zu kaufen.

Das Schulstarterpaket ist auch umgesetzt worden. Das Bundesverfassungsgericht sagt dazu, dass das vom Inhalt her eine gute Sache ist, systematisch aber schwierig. Es ist nicht umsonst, dass im Bildungs- und Teilhabepaket der Frau von der Leyen das Schulstarterpaket wieder auftaucht.

Was ist der Kern? Ich habe es vorhin schon einmal gesagt. Der Kern des Urteils des Bundesverfassungsgerichts ist, dass Artikel 1 einmal wieder konkretisiert wird. Das ist schon lange nicht mehr gemacht worden. Die Würde des Menschen ist unantastbar. Darum geht es. Darauf lässt sich das Bundesverfassungsgericht sehr umfassend ein. Es definiert die Würde des Menschen in unserer Gesellschaft, indem es sagt, dass jeder Mensch einen Teilhabeanspruch und einen Anspruch auf das Existenzminimum hat.

Das Bundesverfassungsgericht artikuliert das als Rechtsanspruch. Jeder Mensch hat einen Anspruch darauf, dass die Lebensverhältnisse so gestaltet werden. Ich nehme Bezug auf die allgemeine Debatte und sage das in Richtung FDP, auch wenn es heute gar nicht thematisiert worden ist. Es definiert das Thema „Lohnabstand“ ganz neu. Früher hat man versucht, den Lohnabstand so herzustellen, dass man gesagt hat, die unteren Einkommensgrenzen müssen einen gewissen Abstand zu dem haben, was als Existenzminimum definiert wird.