Protokoll der Sitzung vom 27.01.2012

.............................................................................................................................. 1185 Benz, Prof. Dr., Wissenschaftlicher Leiter des Fachbeirats zur Gedenkarbeit in Rheinland-Pfalz der Landeszentrale für politische Bildung......................................................................... 1180 Delfeld, Vorsitzender des Verbandes Deutscher Sinti und Roma – Landesverband Rheinland-Pfalz –........................................................................................................... 1178 Präsident Mertes:......................................................................................................................................... 1175

20. Plenarsitzung des Landtags Rheinland-Pfalz am 27.01.2012

B e g i n n d e r S i t z u n g: 10:32 Uhr.

Begrüßungsansprache des Landtagspräsidenten Joachim Mertes

Meine sehr geehrten Damen und Herren, laut Ihrem Programmheft beginnt die Sitzung heute mit einem Musikstück. Der Winter ist allerdings zurückgekommen, womit alle nicht gerechnet haben, auch nicht die Musiker. Sie sind deshalb noch nicht vollzählig anwesend. Wir werden es nunmehr so machen, dass wir die Musik, mit der wir zunächst beginnen wollten, nachholen werden.

So viel zur Erklärung.

Meine Damen und Herren, seien Sie herzlichst zu dieser 20. Plenarsitzung willkommen geheißen, die wir am Jahrestag der Befreiung des Vernichtungslagers Auschwitz durch die Rote Armee begehen. Es ist eine ständige Übung dieses Parlaments, dass wir an diesem Tag mit einer Plenarsitzung die Menschen würdigen, die ermordet worden sind, die nicht mehr bei uns sein können.

Ich fange damit an, dass ich Ihnen die Einladung zur heutigen Sitzung zeige. Es ist die Fotografie eines jungen Mädchens, das aus einem Waggon herausschaut. Es ist zu einem der bekanntesten Bilder für die Völkermorde der Nationalsozialisten geworden, meine Damen und Herren, liebe Gäste. Lange Zeit war man der Meinung, es wäre ein jüdisches Mädchen. Es ist eigentlich egal, um was für ein Mädchen es sich handelt. Es ist zehn Jahre alt. In dem Fall stellte sich heraus, es war ein niederländisches, ein holländisches Mädchen. Sie war zehn Jahre alt. Als wir die Einladung gemacht haben, bat ich darum, mehr über das Mädchen herauszufinden, ob wir beispielsweise erfahren können, wie es hieß.

Ja, wir können erfahren, wie das Mädchen hieß. Es hieß Anna Maria Steinbach. Ihr Vorname in der Gemeinschaft der Sinti lautete: Settela. Anna Maria Steinbach, keine zehn Jahre alt. 1934 geboren, 1944 ermordet.

Settela war das siebte Kind des Geigers und Händlers Heinrich Steinbach und seiner Frau Emilia. Insgesamt hatten sie zehn Kinder. Emilia Steinbach und all ihre Kinder fielen dem Völkermord zum Opfer. Heinrich Steinbach, der Vater, starb 1946 im Alter von 43 Jahren – so kann man es wirklich sagen – an gebrochenem Herzen.

Meine Damen und Herren, das Parlament gedenkt heute der Opfer des Nationalsozialismus gemeinsam mit der Landesregierung und zahlreichen Gästen.

Ich begrüße Sie, die Damen und Herren Abgeordneten, und freue mich, dass Herr Ministerpräsident Kurt Beck und die Mitglieder der Landesregierung bei uns sind.

Ich begrüße für das Diplomatische Korps den Generalkonsul der Republik Türkei, Herrn Aslan Alper Yüksel, sowie den Vertreter des Generalkonsulats des Staates Israel in München, Herrn Konsul Herzel Edri. Seien Sie herzlich willkommen!

An der Spitze der Vertreter der Sinti und Roma darf ich Herrn Romani Rose, den Vorsitzenden des Zentralrats, unter uns begrüßen sowie die Vertreter des Landesverbandes Rheinland-Pfalz.

Unter Ihnen sind Überlebende des Völkermordes mit ihren Angehörigen. Wenn Sie Ihr kleines schmales Programmheft aufschlagen, werden Sie dort eine Namensliste finden. Meine Damen und Herren, wir begrüßen Sie alle, Überlebende, Verwandte, Nachkommen, hier in diesem Parlament. Ich danke Ihnen, dass Sie an dieser Sitzung teilnehmen, dass Sie das auf sich genommen haben, hierherzukommen.

Ich freue mich, dass ich den Vorsitzenden des Landesverbandes der Jüdischen Gemeinden hier in RheinlandPfalz, Herrn Dr. Peter Waldmann, sowie Frau SchindlerSiegreich, die Vorsitzende der Jüdischen Gemeinde Mainz, begrüßen darf.

Außerdem freue ich mich natürlich, dass Vertreter der Kirchen in Rheinland-Pfalz anwesend sind. Ich begrüße den Beauftragten der Evangelischen Kirchen, Herrn Dr. Posern, und stellvertretend für die Katholische Kirche Herrn Nacke, den Leiter des Katholischen Büros, und natürlich den Mainzer Ehrenbürger Monsignore Klaus Mayer, den wir gestern schon im Dom sahen. Er hat auch schon in diesem Parlament gesprochen. Auch von seinem Schicksal waren wir beeindruckt.

Unter uns sind auch Professor Dr. Karl-Friedrich Meyer, der Präsident des Verfassungsgerichtshofs, und der Bürgerbeauftragte Dieter Burgard, den ich zugleich als Vorsitzenden der Landesarbeitsgemeinschaft der Gedenkstätten und Erinnerungsinitiativen hier begrüßen darf.

Ebenso darf ich auf der Tribüne Christoph Grimm, den ehemaligen Landtagspräsidenten, meinen Vorgänger, begrüßen.

Sie, sehr geehrter Herr Delfeld, sind der Ansprechpartner für einen ganz besonderen Gruß. Wir kennen uns nun schon viele Jahre und haben eine Zusammenarbeit zwischen Ihrem Landesverband, dem Parlament und der Landesregierung immer gemeinsam gepflegt, um einfach miteinander eine neue Zukunft zu finden. Uns ist vieles gelungen, vieles muss noch getan werden. Ich danke Ihnen aber ganz herzlich dafür, dass Sie uns dabei die Möglichkeit gegeben haben, dass wir wieder zueinander finden konnten, lieber Herr Delfeld.

Zu uns gekommen als Redner ist Herr Professor Dr. Wolfgang Benz, der hier vorne sitzt, der ehemalige Leiter des Zentrum für Antisemitismusforschung an der Technischen Universität Berlin und Leiter des Fachbeirats für Gedenkarbeit Rheinland-Pfalz. Ich bin froh, dass Sie da sind und nachher zu uns sprechen werden.

Wir haben viele anerkennende Worte darüber gehört, dass Sie heute zu uns gekommen sind. Herzlichen Dank, dass Sie da sind.

Wir haben für die Einladung zur Sitzung die Fotografie, die ich Ihnen eben zeigte, von Settela Steinbach gewählt, weil sich in dieser Aufnahme alles bündelt: die Grausamkeit, weggeführt zu werden, irgendwo hinzukommen, wo man nicht weiß, was dort ist, was dort geschieht, die Not von Menschen, mit 40 oder 50 vier, fünf Tage oder mehr in einem Güterwagen zu leben, ohne Wasser und ohne Lebensmittel. – Dennoch, trotz all dieser Grausamkeiten hat der Völkermord an Sinti und Roma lange Zeit im öffentlichen Bewusstsein kaum eine Rolle gespielt. Er wurde verleugnet.

Die Geschichte der „Wiedergutmachungszahlungen“ ist beschämend. Meine Damen und Herren, die Vorurteile gegen die Minderheit nach dem Zweiten Weltkrieg wurden im Grunde nicht abgebaut.

1956 hat der Bundesgerichtshof in einem Grundsatzurteil die Behauptung aufgestellt, die rassische Verfolgung der Sinti und Roma hätte erst seit März 1943 stattgefunden. Frühere Verhaftungen seien keine rassisch begründeten Verfolgungen gewesen. Diesen Satz muss man sich als Nichtjurist auf der Zunge zergehen lassen. Das heißt also, es lag etwas anderes vor, der Dauerverdacht, man wäre kriminell oder Ähnliches.

Was mich als jungen Mann zehn Jahre später als Lehrling aufgeregt hat, war, dass die Generation der Täter später auch die Generation der Richter war, dass die gleichen Leute, die als Inspektor oder Oberinspektor bei irgendeiner Stadtverwaltung den Hausrat einer SintiFamilie verkauft und eingetragen haben, Listen für die OFD in Koblenz angefertigt haben, die wir dann später fanden, diejenigen waren, die die Wiedergutmachungsanträge entgegennahmen und dann wieder urteilten, ob man in einem KZ gesessen habe, ob man in einem Arbeitslager als Zwangsarbeiter war oder vielleicht „nur“ in einem Ghetto.

Erst 1963 ist diese Rechtsprechung geändert worden, und 1982 hat Helmut Schmidt als erster deutscher Bundeskanzler erstmals den Völkermord auch öffentlich besprochen.

Meine Damen und Herren, wir haben uns bemüht, aus dieser Diskriminierung Lehren zu ziehen. RheinlandPfalz hat als erstes Bundesland mit dem Verband Deutscher Sinti und Roma – Landesverband RheinlandPfalz – eine Rahmenvereinbarung zum Schutz vor Diskriminierung und zur Förderung der Kultur der Minderheit geschlossen und auch einen Fonds eingerichtet, um diejenigen Opfer zu unterstützen, die bei allen Entschädigungszahlungen durch den Rost gefallen waren, was ich eben versuchte zu beschreiben.

Zur Achtung gehört aber auch, dass wir nicht nur die Opfer unterstützen, sondern auch, dass wir das Leiden in die Erinnerung bringen.

Vor 70 Jahren hat die Wannsee-Konferenz stattgefunden. In unserer Ausstellung sehen Sie all die Gesichter der Verantwortlichen. Es gibt darüber auch einen Film,

der vor Kurzem in ARTE zu sehen war. Ich habe ihn schon vor vielen Jahren gesehen. In ihm wird beschrieben, wie es neben diesem gigantischen Militärapparat, von dem man glaubte, das wäre es, nämlich die Wehrmacht und die Waffen-SS, einen genauso starken zivilen Apparat gab, der die Diskriminierung bürokratisch voll durchgezogen hat, und zwar alles mit beschönigenden Worten wie „Evakuierung“ oder „Sonderbehandlung“. Man kann sich in unserer Zeit gar nicht vorstellen, dass darum gestritten worden ist – das betrifft jetzt die jüdischen Kriegsteilnehmer des Ersten Weltkrieges –, ob man sie sonderbehandeln sollte oder, wenn sie eine bestimmte Stufe des Kriegsverdienstordens hatten, ob man sie dann anders behandelte. Ich nenne dies nur einmal, um die Art der Bürokratie, die dort herrschte, in Erinnerung zu rufen.

Meine Damen und Herren, im KZ Osthofen waren zwischen März 1933 und Juli 1934 auch Sinti interniert. Die Verfolgungen nahmen ständig zu. 1940 sind 100 Mainzer, 90 Wormser und 9 Ingelheimer Sinti – damit wir sehen, es war mitten unter uns – in das württembergische Sammellager Hohenasperg gebracht worden. Allein dieses Wort muss Gruseln auslösen. Es ist eine Burg in Baden-Württemberg, die man als Kerker benutzt hat. Viele Pfälzer sind dort gewesen, auch alle anderen, die man verfolgt hat.

Die Zeitzeugin Augustine Steinbach, die ihre ersten Lebensjahre im Saarland verbracht hatte, war damals neun Jahre alt. Sie wurde in die Klarastraße in Mainz gebracht. Dort waren das Polizeipräsidium und auch das Polizeigefängnis. Sie berichtet uns: „Wir wußten nicht, wo wir hinkommen werden, bis wir dann im besetzten Polen waren. Wir Kinder hatten sogar noch unsere Schulranzen mitgenommen. Die haben wir nicht brauchen können in Polen. Aber wir wussten ja nicht (…) was uns da bevorstand.“

Das würden unsere Kinder heute auch so sagen, wir wussten ja nicht, was uns bevorstand. Man konnte es auch nicht erahnen.

Meine Damen und Herren, deshalb stellen wir stellvertretend jedes Jahr für andere eine bestimmte Opfergruppe in den Mittelpunkt unserer Veranstaltung und unseres Gedenkens. Die Gruppe der Abgeordneten, die das vorbereitet, hat vorgeschlagen, im nächsten Jahr werden das die Zwangsarbeiter sein. Wir wollen damit nicht eine Gruppe der anderen vorziehen. Wir wollen damit nicht aufrechnen, wer mehr leiden musste. Nein, wir wollen nur deutlich machen, wir dürfen von denjenigen, die dort leiden mussten, keinen vergessen.

Vergessen dürfen wir auch nicht diejenigen, die nun als Zeitzeugen immer weniger werden. Meine Damen und Herren, einer war Philipp Benz. Er war der letzte damals noch lebende Angehörige der Lagergemeinschaft ehemaliger Osthofen-Häftlinge und ist am 13. November 2011 im Alter von 99 Jahren verstorben. Er hat uns bei dem Aufbau in Osthofen geholfen. Wir haben ihn vom Landtag aus auch geehrt, mit dem, was man als Landtag dort machen kann. Wir wollten ihn nicht vergessen.

Meine Damen und Herren, nun bitte ich Sie, sich zum Gedenken der Opfer zu erheben.

(Die Anwesenden erheben sich von ihren Plätzen)

Wir denken an Sinti und Roma in ganz Europa, die der verbrecherische NS-Staat entrechtet, verfolgt und in Auschwitz und an vielen anderen Orten ermordet hat.

Wir denken an die vielen Millionen jüdischen Kinder, Frauen und Männer, die Opfer des Antisemitismus und der Rassenideologie des Nationalsozialismus wurden.

Wir gedenken auch der Kommunisten, der Sozialdemokraten, der Mitglieder des Zentrums, aller Angehörigen des bürgerlichen Widerstandes und aller Frauen und Männer, die wegen ihrer Weltanschauung als politische Gegner verfolgt wurden.

Wir denken an Christinnen und Christen aller Konfessionen, die wegen ihrer tätigen christlichen Nächstenliebe verfolgt wurden.

Wir gedenken der Menschen in den besetzten Ländern, insbesondere Mittel- und Osteuropas, die erniedrigt, ausgebeutet und ermordet wurden.

Wir denken an die alten, psychisch Kranken und behinderten Menschen, die Opfer der NSKrankenmorde geworden sind.

Wir denken an die Zwangsarbeiterinnen und Zwangsarbeiter.

Wir denken an die Homosexuellen,

die Kriegsgefangenen und die Opfer der Militärgerichtsbarkeit, auch an die eigenen Opfer der eigenen Militärgerichtsbarkeit

und an alle Opfer der nationalsozialistischen Gewaltherrschaft.

Wir dürfen das nicht vergessen. Wir dürfen das nicht in die Vergangenheit schieben. Vielmehr müssen wir alles tun, damit sich solches auch nicht im Ansatz wiederholt.

Herzlichen Dank. Bitte nehmen Sie Platz.

(Die Anwesenden nehmen wieder Platz)