Protokoll der Sitzung vom 28.04.2004

Die rot-grüne Bundesregierung hat mit ihren verschiedenen grundlegenden Reformen unter anderem im Bereich der Steuern, der Rente und des Gesundheitswesens einen Reformstau aufgelöst, vor dem sich alle gedrückt haben: die CDU/CSU und die FDP mehr als 16 Jahre lang.

Frau Abgeordnete Strauß, Sie haben heute Morgen in einer Antwort auf Ausführungen des Abgeordneten Hentschel erklärt, dass alles das, was in dieser Republik gut ist, Sie gemacht hätten, weil Sie die längste Zeit an der Regierung waren. Dann müssen Sie sich auch das Folgende anlasten lassen: Die Bürokratie in der Steuergesetzgebung, die Bürokratie, die geschaffen worden ist, wenn irgendetwas erlaubt worden ist, bis man beispielsweise endlich eine Baugenehmigung hat. Sie können sich nicht nur die schönen Sachen aussuchen, wie Sie es heute Morgen getan haben, und uns den Rest vor die Füße karren. Sie waren immer mit dabei - da haben Sie Recht -, entweder in der Regierung oder im Bundesrat; Sie haben immer mitgemacht.

(Beifall bei der SPD)

Mit der Reform der sozialen Sicherungssysteme im Rahmen der Agenda 2010 geht die Bundesregierung einen schmerzhaften, aber unausweichlichen Weg. Das sage ich, obgleich ich weiß, dass es uns Stimmen gekostet hat und vielleicht auch noch Stimmen kosten wird. Aber wir brauchen mehr Beschäftigung und Wachstum und müssen eine dauerhafte Sicherung des Sozialstaats erreichen. Das erreichen wir nur, wenn wir diese Systeme von der falschen Grundanlage befreien, dass wir immer eine wachsende Wirtschaft haben,

(Vereinzelter Beifall bei der SPD)

(Ministerpräsidentin Heide Simonis)

dass immer mehr ein- als ausgezahlt wird, dass wir nicht älter werden und länger Leistungen aus dem System herausbekommen, in das immer weniger eingezahlt wird. Wenn wir das nicht aufheben, dann können wir machen, was wir wollen. Dann können wir Überstundenregelungen und flexible Arbeitszeiten schaffen, dann können wir die Steuern auf null heruntersetzen, wir werden an dem anderen kaputt gehen. Dazu kam aber kein Wort von Ihrer Seite. Where is the beef?

Die Landesregierung hat den Weg der Bundesregierung unterstützt, weil wir ihn im Prinzip richtig gefunden haben. Von Ihnen habe ich dazu gar nicht viel gehört. Sie haben sich nur ausgerechnet, wie viel Gewinne Ihnen das in Stimmen bringt. Sie haben sich hingesetzt und gesagt: Jetzt spielen wir einmal tote Maikäfer, bis die schlimmen Zeiten vorbei sind und die das alles in Ordnung gebracht haben. Dann gehen wir nach vorne und kassieren ein. - Ich glaube, so einfach machen sich das die Wählerinnen und Wähler nicht immer. Immerhin 61 % der Befragten sind fest davon überzeugt, dass Sie es nicht einen Deut besser machen würden als wir. Vielleicht sollten Sie sich doch einmal zur Zusammenarbeit entschließen. Dann kriegten Sie auch bessere Umfrageergebnisse.

(Beifall bei SPD und BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

Die größte Steuersenkung in der Geschichte der Bundesrepublik ist von der rot-grünen Bundesregierung eingeleitet worden.

(Dr. Heiner Garg [FDP]: Für Großunterneh- men!)

- Die Großunternehmen, als ob nicht die FDP genau das an dieser Stelle immer gefordert hätte. Jetzt finde ich es aber langsam witzig. Sie watschen sich hier alle selbst ab in der Meinung, Sie tun mir etwas. Mir tun Sie damit nichts. Ich weiß schon, wer hier welche steuerpolitischen Vorschläge gemacht hat.

(Dr. Heiner Garg [FDP]: Ich will Ihnen gar nichts tun!)

Die Bürgerinnen und Bürger werden in der Zeit von 1998 bis 2005 um fast 55 Milliarden € entlastet. Das sind für die Schleswig-Holsteiner und SchleswigHolsteinerinnen grob gerechnet 1,8 Milliarden € jährlich. Es gibt keinen Bedarf für weitere Steuersenkungen, weil das Steuerniveau nicht unser Problem ist. Die Lohnnebenkosten sind unser Problem. Dazu müssen wir uns noch eine ganze Menge einfallen lassen.

(Beifall bei SPD, BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- NEN und SSW)

Wir können uns weitere Einnahmeverluste auch nicht leisten; denn auch der schlanke Staat muss ein attraktives Bildungssystem, eine gute Sozial-, Wirtschafts- und Verkehrsinfrastruktur mit Steuermitteln finanzieren. Über innere und äußere Sicherheit wollen wir gar nicht reden. Wir sagen ja sonst immer, nur Reiche können sich einen armen Staat leisten. Nicht einmal Reiche können sich das leisten; denn sie brauchen Krankenhäuser, Theater, Polizei, Schulen, Flughäfen, Straßen, Häfen und so weiter. Sie brauchen eine gut ausgebaute Infrastruktur.

(Zuruf: Bürokratie!)

- Ich bin ja dafür, sie abzubauen. Aber wer hat sie denn gemacht? 16 Jahre lang haben Sie ungehindert arbeiten können und niemand von Ihnen ist auf den Gedanken gekommen, einmal etwas vorzulegen, durch das Bürokratie abgebaut wird. Zeigen Sie mir einen einzigen Antrag der CDU/FDP-Regierung, der sich mit dem Abbau von Bürokratie beschäftigt. Das würde ich gern einmal sehen. Herr Wiegard, ich hole es bei Ihnen sogar ab, wenn Sie mir sagen, Sie haben so etwas bei sich liegen. Aber Sie haben da nichts; ich brauche da nicht hinzugehen.

(Beifall bei SPD und BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN - Karl-Martin Hentschel [BÜND- NIS 90/DIE GRÜNEN]: Bei jeder Verände- rung schreien Sie „Halt“! Das kennen wir doch!)

Ich würde gerne vier Punkte aufgreifen, die bei uns in der Steuerreform hohe Priorität genießen. Es muss zum Normalfall werden, dass keine Steuererklärung mehr abgegeben werden muss. Ein Steuersystem muss verständlich sein. Das gilt natürlich nicht für Betriebe, sondern für den normalen Einkommensempfänger. Das Steuersystem muss der demographischen Entwicklung gerecht werden. Das heißt, Familie mit Kindern müssen steuerlich besser berücksichtigt werden.

Nun, Herr Abgeordneter Wiegard, Ihr Rückgriff auf unsere vermeintliche Negierung des Grundgesetzes bedeutet doch, wenn ich es einmal auf Deutsch übersetze: Ihnen ist das kinderlose Ehepaar lieber als die junge allein erziehende Mutter von ein oder zwei Kindern. Sie wollen nur die Familie steuerlich besser stellen. Das kann man ändern. Das Grundgesetz ist von Menschen gemacht und nicht vom Himmel gefallen. Es ist zu einer Zeit gemacht worden, als die Lebenswirklichkeit von jungen Männern und Frauen anders ausgesehen hat als heute.

(Beifall bei SPD, BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- NEN und SSW - Wolfgang Kubicki [FDP]: Wo ist Ihr Antrag?)

(Ministerpräsidentin Heide Simonis)

- Den haben wir in diesem Steuerkonzept drin, das Sie gerade so zerrissen haben.

(Zuruf des Abgeordneten Wolfgang Kubicki [FDP])

- Ich bringe es im Bundesrat ein, damit Sie es ablehnen können, ja? Ich weiß auch, wie man taktisch eine Sache im richtigen Moment einbringt. Wenn Sie hier heute sagen, dass Sie mitmachen, dann bringe ich es ein. Dann bringe ich es mit Ihrer Hilfe ein. Dann sage ich, CDU und FDP in Schleswig-Holstein sind der Meinung, dass die SPD einen guten Vorschlag gemacht hat. Sie aber wollen, dass ich auf den Hintern falle und Sie „Ätsch!“ schreien können. Das mache ich natürlich nicht. Da suche ich mir schon einen besseren Moment aus.

(Beifall bei SPD und BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

Wir wollen, dass die Vereinbarkeit von Beruf und Familie steuerlich unterstützt wird. Das wollen Sie beispielsweise nicht. Jetzt weiß ich auch, warum Sie in Ihrer Partei ein Frauenproblem haben. Sie haben keine Ahnung, wie man mit der Lebenswirklichkeit von jungen Frauen umgeht.

(Beifall bei der SPD)

Wir wollen mit einer umfassenden Steuerreform die Kommunen stärken. Wir haben Vorschläge gemacht, die alle von Ihnen abgelehnt worden sind, obgleich die kommunalen Landesverbände das - die Verbreiterung der Basis; ich brauche das nicht im Einzelnen anzuführen - selbst so gefordert haben.

Das Steuerkonzept der Landesregierung ist bewusst kein ausformulierter Gesetzestext. Es ist ein Eckpunktepapier. Wir werden es im Rahmen der weiteren Diskussion verfeinern. Wir sind für sinnvolle Ergänzungen offen. Es gibt Anstöße in der Diskussion. Wir werden als Erstes einen Gesetzentwurf zur Reform der Erbschaftsteuer im Bundesrat einbringen. Wer in der letzten Zeit Zeitung gelesen und sich nicht nur an seinen Parteiprogrammen festgehalten hat, der wird gelesen haben, dass die Erbschaftsteuer in der Bundesrepublik die geringste in der ganzen Welt ist. In Amerika muss man, wenn man eine Erbschaft macht, bei Sotheby’s oder sonst wo versteigern, damit man die Erbschaftsteuer bezahlen kann. In Deutschland ist das im Vergleich ein Klacks. Insofern ist es doch richtig, wenn man sagt, dass ein großer Vermögensempfänger, der selbst nicht dazu beigetragen hat, ein Stückchen mehr zur Aufrechterhaltung einer sozialen Ordnung in diesem Lande beitragen muss als diejenigen, die weniger haben. Sie tun immer so, als ob wir

die Axt an diese Republik legen würden. Das ist doch Unsinn.

(Beifall bei SPD, BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- NEN und SSW)

Wir wollen die Messlatte sozialer Gerechtigkeit auch mit unserem Steuersystem erhalten. Ich gebe gern zu - insoweit akzeptiere ich da auch die Zwischenrufe -: Bei den bisherigen Vorschlägen konnte man manchmal eine Schieflastigkeit erkennen.

(Zurufe von der CDU: Aha!)

- Ja, natürlich. Sonst würden wir doch gar nicht tätig werden. Wenn alles prima wäre, bräuchte ich kein Gesetz zusammenzubinden. Bis zu 307.000 € kann ein Ehepartner steuerfrei erben, dann kommen noch die Kinder dazu, die unter Umständen erben, ohne Steuern zahlen zu müssen. Das ist schon eine Menge Geld. Dafür muss eine arme Oma lange stricken. Da können Sie nicht behaupten, das Erbe fresse sozusagen das Vermögen derjenigen weg, die etwas geerbt haben.

Meine sehr verehrten Damen und Herren, wir hatten hier schon einmal Beschlüsse auch zum Ehegattensplitting und zur Umgestaltung des Familiengeldes gefasst. Das haben Sie heute mit keinem Wort erwähnt, dass Sie an der Stelle schon einmal ein Stück weiter waren. Ich habe immer ganz stolz verkündet: In Schleswig-Holstein ist der dänische Einfluss so stark, dass er an der Stelle zu einstimmigen Beschlüssen geführt hat. Dieses Lob muss ich wohl zurücknehmen und muss sagen: Es bleibt so, wie es ist. Die rot-grüne Regierung macht sich Mühe, ein System vorzulegen, ein Steuerkonzept vorzuschlagen, das in sich ausgewogen ist, sozial gerechter ist, dem Leistungsgedanken Rechnung trägt, aber auch darauf Rücksicht nimmt, dass manche Menschen nicht mehr leisten können, als sie leisten. Sie machen das nicht.

(Anhaltender Beifall bei SPD, BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und SSW)

Ich darf auf der Tribüne die Bürgerbeauftragte, Frau Wille-Handels, begrüßen. - Herzlich willkommen!

(Beifall)

Bevor wir die Debatte fortsetzen, muss ich auf § 56 Abs. 6 verweisen, der lautet: Überschreitet die Landesregierung die von ihr angemeldete Redezeit, so verlängert sich die Redezeit jeder Fraktion um die Dauer der Überschreitung. - Die festgesetzte Redezeit betrug 15 Minuten, die Überschreitung beträgt 9 Minuten. Insofern hat jede Fraktion eine weitere Rede

(Vizepräsident Thomas Stritzl)

zeit von 9 Minuten. Die erste Wortmeldung liegt mir vor. Das Wort für die Fraktion der FDP hat der Fraktionsvorsitzende, Herr Abgeordneter Wolfgang Kubicki.

Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Es ist doch eine erstaunliche Debatte, die der SchleswigHolsteinische Landtag über ein Diskussionspapier - mehr ist es ja gar nicht - der Landesregierung, das heißt der Ministerpräsidentin und ihres Finanzministers, führt, das in der deutschen Öffentlichkeit mehr oder minder staunend bereits zur Kenntnis genommen worden ist.

(Martin Kayenburg [CDU]: Versenkt!)

Damit hier keine Missverständnisse entstehen, will ich nur zitieren, wie die Mitglieder der regierungstragenden Fraktionen und der Regierung in Berlin, Rot und Grün, öffentlich - nicht hinter vorgehaltener Hand - darauf reagiert haben, Frau Ministerpräsidentin. Hans Eichel - nach meinem Kenntnisstand bis heute noch Bundesfinanzminister, SPD - hat in der „Süddeutschen Zeitung vom 16. März auf Ihre öffentlich vorgetragenen Vorschläge wie folgt reagiert:

„Alles in allem eine richtige Debatte. Allerdings müsse sich jedes Steuerkonzept an seinen Realisierungschancen messen lassen. Wenig hält Eichel auch davon, jetzt schon eine Reform der Erbschaftsteuer anzugehen. Es wäre sinnvoller, ‚mit den Gesetzgebungsarbeiten zu warten, bis das Grundsatzurteil des Bundesverfassungsgerichts vorliegt’.“

Christine Scheel vom 17. März 2004 in den „Kieler Nachrichten“:

„Mehrwertsteuervorschläge beeinflussen die aktuelle Diskussion nicht eben positiv. Es gibt kein Bundesland und keine Fraktion, die das stützt.“

Christine Scheel im „Handelsblatt“ vom selben Tag:

„Das Ganze ist schon verwunderlich, weil ich aus keinem der anderen Bundesländer Unterstützung für ihre Vorschläge sehe.“