Protokoll der Sitzung vom 10.05.2001

men die älter werdenden Menschen mit Behinderung irgendwann in die Situation, dass sie körperlich oder geistig abbauen und zunehmend pflegebedürftig werden. Wie bei allen anderen Pflegebedürftigen besteht dann bei ihnen natürlich auch der Wunsch, so lange wie möglich Zuhause gepflegt zu werden, statt in eine Pflegeeinrichtung umzusiedeln. Dieses Recht gestehen prinzipiell alle Beteiligten den Menschen mit Behinderung zu. Allerdings gibt es erhebliche Probleme, weil die praktische Umsetzung alles andere als gesichert ist. Da ambulante Pflegedienste nicht in Einrichtungen der Behindertenhilfe tätig werden dürfen, muss die Einrichtung selbst ein solches pflegerisches Angebot vorhalten. Anderenfalls müssen die älteren Menschen anderswo stationär gepflegt werden, was weniger wünschenswert ist.

Eine optimale Versorgung der Pflegebedürftigen kann nur erfolgen, indem man Mischeinrichtungen einrichtet, die sich sowohl aus der Eingliederungshilfe als auch aus der Pflegeversicherung finanzieren. Innerhalb der Einrichtungen der Behindertenhilfe müssen eigenständige, in sich geschlossene Teilbereiche eingerichtet werden, die mit der Pflegeversicherung abrechnen. Voraussetzung für eine solche Regelung ist, dass das Verhältnis von Eingliederungshilfe und Pflegeversicherung endlich vernünftig geregelt wird. Das haben meine Vorrednerinnen und Vorredner auch schon gesagt. Deshalb möchte ich hier nicht alles wiederholen.

(Beifall im ganzen Haus)

Weitere Wortmeldungen liegen nicht vor. Ich schließe die Beratung.

Es ist beantragt worden, die Antwort der Landesregierung zur abschließenden Beratung dem Sozialausschuss zu überweisen. Wer so beschließen will, den bitte ich um das Handzeichen. - Gegenstimmen? Enthaltungen? - Das ist einstimmig so beschlossen.

Ich rufe Tagesordnungspunkt 10 auf:

Rechte und Pflichten von Arbeitslosen

Antrag der Abgeordneten des SSW Drucksache 15/898

Antrag der Fraktion der CDU Drucksache 15/934

Antrag der Fraktionen von SPD und BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN Drucksache 15/939

Wird das Wort zur Begründung gewünscht? - Das ist nicht der Fall.

(Vizepräsidentin Dr. Gabriele Kötschau)

Ich eröffne die Aussprache. Frau Abgeordnete Hinrichsen hat das Wort.

Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren Kollegen! Ich weiß fast nicht, ob man lieber hoffen soll, dass es kaltes Kalkül oder einfach nur töricht war, als der Bundeskanzler Karfreitag in Deutschlands größter Boulevardzeitung auf entsprechende Anfrage hin verkündete, dass es kein Recht auf Faulheit in unserer Gesellschaft gibt und dass die Arbeitsämter Sanktionsmöglichkeiten konsequenter anwenden müssten.

(Beifall des Abgeordneten Jürgen Weber [SPD])

Der Kanzler hat sich auf jeden Fall einer Wortwahl bedient, die leicht missverstanden werden kann und die sehr viele Menschen verletzt und verärgert hat. Deshalb besteht für den Landtag aller Anlass, einige Dinge klarzustellen.

(Beifall bei SSW und BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

Erstens: Arbeitslose Menschen sind in aller Regel nicht arbeitslos, weil sie faul sind. Sie sind arbeitslos, weil es zu wenig Arbeit in Deutschland gibt.

(Beifall der Abgeordneten Anke Spoorendonk [SSW])

Es mag irritieren, dass Hunderttausende Arbeitsplätze leer stehen, während Millionen Menschen arbeitslos sind. Darauf bezog sich ja die Kanzleräußerung. Der Grund hierfür ist aber nicht die Bequemlichkeit der Arbeitslosen, sondern eine falsche Arbeitsmarktpolitik, die mehr verwaltet, als dem Einzelnen gezielt und flexibel zu helfen. Des Kanzlers Worte sind aber leider missverständlich gewesen.

Zweitens: Eine gute Arbeitsmarktpolitik besteht nicht aus Drohungen, sondern aus einer gesunden Mischung von Rechten und Pflichten.

(Beifall der Abgeordneten Anke Spoorendonk [SSW] und Monika Heinold [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN])

Das haben uns mehrere Nachbarländer eindrucksvoll vorgemacht.

Wir haben aber leider den Eindruck, dass in der deutschen Diskussion seit längerem die Pflichten überwiegen. In diesem Sinne ist das Kanzlerwort zur Osterzeit nur ein trauriger Höhepunkt, der unter anderem auch in dem Änderungsantrag der CDU seine Fortsetzung findet.

(Beifall der Abgeordneten Anke Spoorendonk [SSW])

Ich gestehe gern ein, dass es leichter ist, Pflichten anzumahnen, als Arbeit anzubieten. Während Pflichten relativ kostengünstig eingeführt werden können, kosten Rechte wie Bildung, Qualifizierung oder Beschäftigung richtig viel Geld. Trotzdem bringen Pflichten ohne Rechte nicht viel mehr als Beifall an den Stammtischen oder eine Schlagzeile in der „Bild“Zeitung. Solange wir ein Millionenheer von Arbeitslosen haben, sollten wir unser Hauptaugenmerk nicht auf jene Minderheit richten, die ihren Pflichten nicht nachkommt. Das lenkt nur vom Ziel ab und bringt uns auf den falschen Weg.

Eines ist ganz sicher nicht der richtige Weg: Arbeitslose zu bestrafen, weil sie arbeitslos sind. Eben dies scheint gerade bei der CDU in Mode zu sein.

(Dr. Heiner Garg [FDP]: Was?)

Wenn man einmal die etwas widersprüchlichen Äußerungen von Merz über Schnieber-Jastram bis Wadephul sortiert, dann kommt man zu Folgendem: Die Union möchte jetzt mit ganz unrealistischen Forderungen den großen familienpolitischen Weihnachtsmann spielen und dies gern auf dem Rücken der Arbeitslosen und Sozialhilfeempfänger austragen.

(Beifall bei SSW und BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

Friedrich Merz postuliert zwar, dass das jetzt von Christdemokraten vorgeschlagene Modell etwas ganz anderes sei als Schröders Faulenzerdebatte, in Wahrheit steckt aber in der gebetsmühlenartigen Wiederholung des Lohnabstandsgebots genau derselbe Vorwurf.

(Beifall bei SSW und BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

Wer sagt, dass die Arbeitslosen weniger Hilfe haben sollen, weil dann erst wieder der Anreiz zur Arbeit stimme, setzt voraus, dass die Arbeitslosen lieber in der Hängematte liegen und „Stütze kassieren“, statt zu arbeiten.

(Dr. Heiner Garg [FDP]: Quatsch!)

Immer mehr Bundesbürger erzögen ihre Kinder lieber mit der Sozialhilfe als mit einer bezahlten Arbeit, sagt Herr Merz. Dabei wird dann zynisch über die Tatsache hinweggegangen, welches soziale Elend mit der längerfristigen Arbeitslosigkeit folgt. Es geht hier eben nicht um ein eiskaltes ökonomisches Kalkül zulasten der Gemeinschaft, sondern darum, dass Menschen psychisch zugrunde gehen, weil sie sich und ihre Kinder nicht aus eigener Kraft versorgen können. Ar

(Silke Hinrichsen)

beitslosigkeit geht mit sozialem Rückzug, Alkoholismus, Scheidungen und Gewalt einher, weil die Menschen damit nicht fertig werden.

Woher nimmt man in der CDU eigentlich die Unverfrorenheit, den Leuten einerseits permanent zu erzählen, dass nur die eigene Leistung zähle, dass nur ein ganzer Mensch sei, wer einen guten Job hat, und andererseits die Menschen fertig zu machen und ökonomisch noch mehr zu beschneiden, wenn sie unverschuldet keine Arbeit finden? Eben dies ist auch die Folge des Änderungsantrages des Kollegen Geerdts. Daher können wir dem CDU-Antrag nicht zustimmen.

Der Weg zum Erfolg verläuft ganz woanders. Das immer gern als Erfolgsmodell zitierte dänische System der aktivierenden Arbeitsmarktpolitik zum Beispiel zeichnet sich vor allem durch ein zentrales Element aus: durch eine individuelle Hilfe, die Rücksicht auf individuelle Besonderheiten der einzelnen arbeitslosen Person nimmt. Dies ist auch der richtige Kontext, um über Sanktionen zu sprechen. Nur im Einzelfall und vor Ort kann entschieden werden, bei welcher arbeitslosen Person die Pflichten eines Arbeitslosen vielleicht etwas deutlicher herausgestellt werden müssen und ob ein Job für die einzelne Person wirklich zumutbar ist.

(Beifall beim SSW)

Der SSW hat insofern Vertrauen in die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter der Arbeitsämter und Sozialämter. Wir sind überzeugt, dass die bereits bestehenden Möglichkeiten der Sanktionierung konsequent und mit Bedacht angewendet werden beziehungsweise angewendet werden sollten, und wir sind davon überzeugt, dass sie am flexibelsten die im Einzelfall richtige Maßnahme ergreifen. Deshalb können wir auch dem SPD-Antrag nicht zustimmen.

Was wir jetzt brauchen, sind nicht zentral vorgegebene schärfere Pflichten, sondern erst einmal Angebote. Nur wer eine faire Chance bekommt und diese ablehnt, darf für Sanktionen infrage kommen - wobei wir wieder beim Verhältnis von Rechten und Pflichten wären. Erst wenn jemand das Zuckerbrot ablehnt, sollte man die Peitsche herausholen. Dafür muss man aber erst einmal ein Zuckerbrot anbieten.

(Beifall bei SSW und BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

Drittens: Trotz allem erkennen wir gern an, dass die Landesregierung und die Bundesregierung grundsätzlich auf dem richtigen Weg sind, was die Rechte der Arbeitslosen betrifft. Eine Arbeitsmarktpolitik, die den Wert der Arbeit Suchenden auf dem Arbeitsmarkt durch Beschäftigung und Qualifizierung erhöht, ist die richtige Zielrichtung.

Dies kann nur optimal funktionieren, wenn Arbeitsverwaltung und Arbeitslose gemeinsam realistische und individuelle Perspektiven für die oder den Einzelnen entwickeln und verbindliche Absprachen treffen. Wir begrüßen daher die Pläne der Bundesregierung, individuelle Eingliederungspläne einzuführen. Allerdings muss auch hier beachtet werden, dass Pflichten nur eingeführt werden können, wenn auch Rechte gewährt werden. Die Ziele in den Eingliederungsplänen müssen realistisch sein, ansonsten sanktioniert man am Ende nur wieder die unfreiwillige Arbeitslosigkeit.

Wir können daher auch der Idee der Ministerin Moser einiges abgewinnen, die Arbeitslosen allgemein dadurch einzuordnen, ob und inwieweit eine Arbeit im ersten Arbeitsmarkt realistisch ist. Es gibt Menschen, die andere Formen der Unterstützung brauchen. Manche brauchen professionelle Hilfen anderer Art und manche brauchen erst einmal eine Kinderbetreuung, insbesondere eine Ganztagskinderbetreuung.

(Beifall bei SSW und BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

Diese Menschen regelmäßig zu kontrollieren, ohne ihnen auch für diese anderen Probleme ein Angebot zu machen, wäre absolut sinnlos.

Diese Eingliederungspläne werden aber natürlich nur funktionieren, wenn dann auch wirklich entsprechende Angebote der Beschäftigung, der Weiterbildung und der Qualifizierung gemacht werden. Eine aktivierende Arbeitsmarktpolitik heißt eben, dass man in die Menschen investiert, statt sie nur zu alimentieren.

Die Bundesregierung und die Landesregierung sind hier auf dem richtigen Weg. Sie müssen jetzt den Beweis antreten, dass sie dafür auch genug Ressourcen frei machen können.

(Beifall der Abgeordneten Anke Spoorendonk [SSW])