Protokoll der Sitzung vom 28.09.2001

Woran es hapert - da stimme ich mit dem MDK überein -, ist die Umsetzung in die Praxis. Hierfür bedarf es einer qualitativen Aufwertung der Ausbildung von Pflegefachkräften und den entsprechenden Führungskräften.

Noch eines ist für die Beurteilung der Gesamtsituation wichtig: Die Strukturen in der Pflege haben sich in den letzten 10 bis 15 Jahren erheblich verändert. Die Anzahl der Dementen in unserer Gesellschaft nimmt zu und die Menschen gehen erst dann in stationäre Einrichtungen, wenn es gar nicht mehr anders geht. Dadurch haben sich die Altersstrukturen verändert und die Verweildauer hat sich verringert. Das könnte bedeuten, dass diejenigen, die heute in eine Pflegeeinrichtung kommen, doch eher kommen, um in Würde sterben zu können, und nicht die Absicht haben, noch jahrelang in den Einrichtungen zu verweilen. Ausnahmen mag es geben, vor allem bei Angebotsformen wie Tagespflege oder Kurzzeitpflege.

Ich frage mich: Haben wir uns auf die veränderten Gegebenheiten seit der Einführung der Pflegeversicherung schon ausreichend eingestellt? Wir müssen darüber diskutieren, ob wir teilweise für die stationäre Pflege Konzepte und auch die Qualität von Hospizen übernehmen müssen. Dies wird zwangsweise auch zu einem Mehr an Personal führen. Hier muss sich die Gesellschaft fragen lassen, was ihr ihre pflegebedürftigen Mitmenschen wert sind. Eine Gesellschaft muss sich auch daran messen lassen.

(Beifall bei SPD und SSW)

Noch etwas zur Personalbemessung: Ich bin voller Spannung, was das Modellprojekt PLAISIR im Kreis Segeberg ergeben wird. Dieses in Kanada entwickelte Personalbemessungssystem in der Pflege wird uns Anfang nächsten Jahres hoffentlich mehr Aufschluss darüber geben, inwieweit die Personalausstattung in unseren Pflegeeinrichtungen angemessen ist. Meine bisherige Wahrnehmung ist, dass durch den aus betriebswirtschaftlichen Gründen vorgenommenen Personalabbau und durch ein Mehr an Aufgaben in der Pflege - hier sei beispielhaft die Pflegedokumentation genannt - zu wenig Personal vorhanden ist, um die Pflegequalität zu bieten, die wir - den Bericht des MDK vor Augen - doch wohl alle wollen, denn wir alle könnten eines Tages in die Situation kommen, pflegebedürftig zu sein.

Ein Letztes zur Analyse der Situation in der Pflege: Selten habe ich in Berufen so engagierte Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter angetroffen, die ohne Rücksicht auf ihre private Situation oder gar ihre Gesundheit so viel Einsatz zeigen. Schon etwas spöttisch wird hinter vorgehaltener Hand gesagt: „Die leiden unter einem Helfersyndrom.“ Dies muss anders werden. Pflegekräfte brauchen Zeiten, in denen sie wieder zu sich selbst finden können,

(Beifall bei BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und der Abgeordneten Anke Spoorendonk [SSW])

in denen sie regenerieren, um sich wieder mit vollem Einsatz den ihnen anvertrauten Menschen widmen zu können. Schon lange wird über die Einführung der Möglichkeit eines Sabbatjahres nachgedacht. Warum wird das nicht endlich umgesetzt?

Wir brauchen noch mehr Professionalität. Für mich bedeutet das auch, über das Anforderungsprofil von Pflegefachkräften nachzudenken. Wir müssen über eine qualitativ hochwertige Ausbildung von Leitungskräften in der Pflege nachdenken. Ich bin der Ansicht, dass die in § 80 SGB XI vorgegebene Stundenzahl bei weitem nicht ausreichend ist.

(Andreas Beran)

Lassen Sie mich noch auf Folgendes hinweisen. Das Beispiel des Alten- und Pflegeheims Stockelsdorf, bei dem behandelnde Ärzte die Kurzprüfungen durch den MDK als infame Angriffe nach Stasi-Manier empfanden - siehe „Lübecker Nachrichten“ vom 9. August 2001 - kann nur erschrecken. Es muss doch auch Aufgabe von Ärzten sein, die ihre Patienten in Pflegeeinrichtungen betreuen, den Zustand ihrer Patienten in den Häusern aufmerksam im Blick zu haben, statt Front gegen derartige Prüfungen zu machen.

(Beifall bei SPD, BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- NEN und der Abgeordneten Anke Spooren- donk [SSW])

Die Zeit reicht leider nicht, in der gleichen Intensität auf den Bericht der Landesregierung über die Heimaufsicht einzugehen. Sicherlich werden wir im Sozialausschuss die Zeit finden, ihn gebührend zu erörtern. Einiges lässt sich in Kürze jedoch schon sagen: Der vorliegende Bericht und auch das ab dem 1. Januar 2002 geltende neue Heimgesetz zeigen einen dringenden Handlungsbedarf. Auch hier muss das vorhandene Personal verstärkt und weiter qualifiziert werden. Der Bundesgesetzgeber wertet die Bedeutung der Heimaufsichten auf. Dort wird künftig zur Hauptsache die Verantwortung für die Kontrolle liegen, die dann einmal jährlich durchzuführen ist. Die Heimaufsicht hat dann die Verantwortung für die Koordinierung aller Kontrollorgane. Ich frage mich: Sind die Kreise darauf bereits vorbereitet? Der vorliegende Bericht lässt eher vermuten, dass dies nicht der Fall ist.

Nun gibt es Forderungen, die Verantwortung der Heimaufsicht von den Kreisen auf das Land zu verlagern. Ich erteile diesen Überlegungen eine klare Absage. Immer wieder diskutieren wir in diesem Parlament über die Delegation von Aufgaben und darüber, den Kommunen mehr Kompetenzen einzuräumen. Immer dann, wenn es ernst wird, meinen einige, von diesem Kurs wieder abrücken zu müssen. Lassen Sie uns hier klar auf Kurs bleiben, denn sonst werden wir, was die Delegation von Aufgaben angeht, nicht mehr ernst genommen.

Ich fasse zusammen: Die Bestandsaufnahme durch die Berichte zeigt uns, dass wir vor allem in das Personal mehr investieren müssen, und zwar durch eine bessere Ausbildung, durch ein Mehr an Fort- und Weiterbildung und durch eine Intensivierung der Beratung.

(Beifall bei SPD, BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- NEN und der Abgeordneten Anke Spooren- donk [SSW])

Genau geprüft werden muss darüber hinaus, ob es zu einer Verstärkung an Personal kommen muss. Die

gesetzlichen Instrumente sind vorhanden, es bedarf keiner weiteren Regelungen, aber einer Unterstützung bei der Umsetzung der vorhandenen Theorie in die Praxis. Ein gutes Instrumentarium hierfür ist die Pflegequalitätsoffensive des Landes.

Ich danke Ihnen für Ihre Aufmerksamkeit, beantrage für die SPD-Fraktion Abstimmung über den Antrag „Qualität in der Pflege“ und Überweisung aller weiteren Unterlagen, die uns vorgelegt worden sind, in den Sozialausschuss zur weiteren Beratung.

(Beifall bei SPD, BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- NEN und der Abgeordneten Anke Spooren- donk [SSW])

Ich erteile dem Herrn Abgeordneten Dr. Garg das Wort.

Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Frau Kleiner, Sie haben eigentlich den Nagel auf den Kopf getroffen, wenn Sie sagen, dass die beiden Berichte, die uns vorliegen, nur den Anstoß geben können, eine endlich zu führende Debatte auch tatsächlich ehrlich und offen zu führen. Ich will heute versuchen, einen Beitrag dazu zu leisten, eine längst überfällige Debatte über ein Problem zu führen, das aus meiner Sicht das Problem der Zukunft für uns darstellen wird, nämlich: Wie gehen wir in einer älter werdenden Gesellschaft mit unseren pflegebedürftigen Menschen um, wie wollen wir dieses Problem überhaupt in den Griff bekommen? Das wird die gesellschaftspolitische Herausforderung der nächsten Jahre und Jahrzehnte sein.

(Beifall bei FDP und CDU)

Liebe Kolleginnen, liebe Kollegen, wir reden immer wieder vom demographischen Wandel. Das wird meistens auch von mir einfach so hingeschleudert. Ich will zur Erinnerung kurz darstellen, was dieser demographische Wandel eigentlich bedeutet. Das heißt nämlich, dass bis zum Jahre 2030 über ein Drittel unserer Bevölkerung 60 Jahre alt und älter ist. Das heißt, das Gesicht unserer Bevölkerung wird wesentlich älter und wir müssen uns darauf einstellen. Es ist schon fast zu spät, aber man soll ja die Flinte nicht vorzeitig ins Korn werfen.

Gleichzeitig mit dieser so genannten Überalterung der Gesellschaft nimmt der Anteil der hochbetagten Menschen in unserer Gesellschaft weiter zu. Das sind die 80 Jahre alten und älteren Menschen. Natürlich steigt dank medizinischen Fortschritts auch die Lebenserwartung weiter an. Trotzdem haben wir es gerade bei der Gruppe der 80 Jahre alten und älteren Menschen

(Dr. Heiner Garg)

mit dem Problem zu tun, dass zunehmend degenerative Hirnprozesse einsetzen, insbesondere in Form vaskulärer Syndrome oder seniler Demenzen vom Typ Alzheimer. Darauf müssen wir uns einstellen.

Mit dieser demographischen Veränderung der Bevölkerung geht eine Veränderung der soziodemographischen Struktur einher, das heißt die zunehmende Tendenz zur Singularisierung unserer Bevölkerung, sprich die Zunahme der Einpersonenhaushalte, die Erhöhung der Frauenerwerbsquote, womit natürlich der Wegfall des so genannten Töchter-Mütter-Pflegepotenzials einhergeht. Das heißt, es brechen familiäre Versorgungsstrukturen weg und dieses Wegbrechen familiärer Versorgungsstrukturen muss durch den Aufbau professioneller Versorgungsstrukturen aufgefangen werden.

(Beifall bei der FDP sowie der Abgeordneten Karl-Martin Hentschel [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN] und Anke Spoorendonk [SSW])

Liebe Kolleginnen, liebe Kollegen, die gesellschaftsund sozialpolitische Antwort der 90er-Jahre auf dieses Problem hieß umlagefinanzierte Pflegeversicherung. Ich finde es im Moment erstaunlich, wenn ich vor Sozialverbänden eine Versicherung verteidigen muss, die ich in dieser Form eigentlich nie wollte. Heute habe ich bei Diskussionen manchmal das Gefühl - egal, ob das der Sozialverband Deutschland oder die Arbeiterwohlfahrt ist -, alles Übel liegt in der Pflegeversicherung. Ich stelle mich dann hin und sage: „So schlimm ist das alles nicht. Die Pflegeversicherung hat auch ihre guten Seiten.“

Das Kernproblem der Pflegeversicherung - hier müssen wir ehrlich miteinander umgehen - liegt darin, dass sie sich nie am tatsächlichen Pflegebedarf der Menschen orientiert hat. Aus diversen nachvollziehbaren Gründen, insbesondere aus diversen finanziellen nachvollziehbaren Gründen, hat man sich den Finanzbedarf der Pflegeversicherung mehr oder weniger zurechtgelogen. Man hat sich nie am tatsächlichen Pflegebedarf der Menschen orientiert.

(Beifall bei FDP, BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- NEN und SSW)

Hätte man sich am tatsächlichen Pflegebedarf orientiert, dann wäre die Pflegeversicherung schon heute finanziell am Ende. Sie brauchen bloß einen Blick auf die §§ 14 und 15 SGB XI zu werfen, dann wissen Sie, wie hier getrickst wurde, um diesen Baustein sozialpolitischer Handlung ins Leben zu rufen.

Es liegt also unter anderem auch an dem Problem: Wie definieren wir Pflegebedürftigkeit? - Wir haben hier schon des Öfteren über die Abgrenzungsproblematik gesprochen. Die Demenzkranken fallen beispielsweise

durch die Definition der Pflegebedürftigkeit, die sich ausschließlich an körperbedingten Funktionsdefiziten orientiert, bis heute aus den Regelungen heraus. Das heißt, sie erhalten nicht die Pflege, die tatsächlich notwendig ist. Hier erübrigt sich dann auch jeder Kommentar zum Beschluss des Bundeskabinetts, 2,50 DM am Tag mehr für die Pflege von Demenzkranken aufwenden zu wollen.

Frau Ministerin, liebe Kolleginnen und Kollegen, wir sind bereit, uns einer ernsthaften und konstruktiven Diskussion dieser Problematik zu stellen. Wir müssen als Allererstes die Frage beantworten, ob wir uns weiterhin vor der Frage drücken wollen, dass der demographische Umbruch, den ich eingangs kurz skizziert habe, natürlich Konsequenzen für die zukünftige Verteilung des Bruttoinlandprodukts haben wird. Jede gesellschaftliche Veränderung hat sich in der Verteilung des Bruttoinlandproduktes niedergeschlagen. Selbstverständlich wird sich auch diese Überalterung auf die künftige Verteilung des BIP niederschlagen. Das heißt nicht, dass die Beiträge zur umlagefinanzierten Pflegeversicherung steigen müssen. Das heißt aber, dass wir uns endlich der Frage stellen müssen: Wie viel wollen wir in einer älter werdenden Gesellschaft insgesamt für Gesundheits- und Pflegeleistungen ausgeben?

(Beifall bei FDP, BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- NEN und SSW)

Wenn ich unsere Mitarbeit anbiete, dann möchte ich natürlich auch, dass in Zukunft mit konkreten Alternativvorschlägen oder Anregungen seitens der Oppositionsfraktionen etwas ehrlicher umgegangen wird.

(Beifall bei der FDP)

Wir haben am 10. Mai 2000 einen Änderungsantrag zur Änderung des Landespflegegesetzes eingebracht. Ich wollte damals den § 7 Abs. 1 um folgende Nummer 4 ergänzen: „Maßnahmen zur Sicherstellung und Kontrolle der Qualität der Pflege“.

Liebe Frau Ministerin Moser, Sie haben damals gesagt - ich zitiere aus dem Plenarprotokoll -:

„Herr Dr. Garg, um Maßnahmen zur Sicherstellung der Qualität der Pflege nach dem Landespflegegesetz zu fördern, brauchen wir keine Gesetzesänderung. Der einleitende Satz des § 7 des Landespflegegesetzes reicht völlig aus.“

Liebe Frau Ministerin Moser, in der jetzt anstehenden Änderung des Landespflegegesetzes im vorgelegten Gesetzentwurf wird der § 7 wie folgt geändert:

„4. Maßnahmen zur Sicherung und Weiterentwicklung der Pflegequalität.“

(Dr. Heiner Garg)

- Das hätten wir eineinhalb Jahre früher haben können!

(Beifall bei FDP und CDU - Wolfgang Ku- bicki [FDP]: So ist es!)

Zur Ehrlichkeit gehört natürlich auch, dass wir bei der Pflegequalitätsoffensive, gegen die wir nicht quer schießen - ich begrüße sie ausdrücklich -, wie es der Staatssekretär Alt in einer vergangenen Sozialausschusssitzung getan hat, ganz klar zugeben, dass es sich natürlich nicht um zusätzliche Mittel handelt, die in diese Pflegequalitätsoffensive fließen, sondern dass diese Mittel bereits 1996 bereitgestanden hätten, um Investitionen in die Pflegeinfrastruktur zu tätigen. Dass diese Mittel endlich vernünftig ausgegeben werden, begrüße ich. Aber bitte tun wir draußen nicht so, als ob die schleswig-holsteinische Landesregierung zweistellige Millionenbeträge zusätzlich ausgäbe! Sie tun das nicht; aber es gibt Leute, die das tun.

(Beifall bei der FDP)

Frau Ministerin, wir sind offen und gesprächsbereit bei allen Punkten, bei denen es um die Qualifizierung und Ausbildung des Personals in den Einrichtungen geht. Wir sind offen und gesprächsbereit, wenn es um die Steigerung der Attraktivität des Altenpflegeberufes geht, wenn es um Coaching-Programme für die Pflegeeinrichtungen geht oder wenn es um Fortbildungsmaßnahmen bei den Pflegedienstleistungen geht. Das ist eine Selbstverständlichkeit, wenn man eine höhere Professionalisierung in diesem Bereich fordert.

(Beifall bei der FDP)