Protokoll der Sitzung vom 28.09.2001

(Beifall der Abgeordneten Jutta Schümann [SPD] und Angelika Birk [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN])

Es sind viele Menschen, die sich fragen lassen müssen, wie solche Zustände in den Heimen zustande kommen. Nur eine Gruppe von Beteiligten hat keine Prügel verdient. Darin, liebe Kolleginnen und Kollegen, sind wir uns auch einig. Missstände dürfen nicht dem Personal in der Altenpflege angelastet werden, denn es kann niemanden verwundern, dass die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter unter den gegebenen Voraussetzungen nicht das Soll erfüllen können.

(Beifall bei SSW, SPD und BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

Gefordert wird von diesen Menschen eine optimale medizinische, pflegerische, sozialtherapeutische und

hauswirtschaftliche Versorgung - aber bitte möglichst im Minutentakt und zum Nulltarif. Die berufliche Realität sieht aber ein bisschen anders aus: Hohe Anforderungen, starke psychische Belastungen, wenig soziale Anerkennung, eine geringe Bezahlung, geringe Personalschlüssel, nicht erfüllte Fachkraftquoten und hohe Personalfluktuation sind die Realitäten im Altenpflegebereich.

Die Verbesserung der Pflegequalität fängt somit in den Köpfen der Leute an.

(Beifall im ganzen Haus)

Seit über einem Jahrzehnt sind die Ansprüche an eine professionelle, fachgerechte Pflege gewachsen. Nicht zuletzt die Einführung der Pflegeversicherung und die Entwicklung neuer Konzepte wie die aktivierende Pflege mit dem Vorrang der Rehabilitation vor der Pflege haben die Grenzen dafür verschoben, was man gute fachliche Praxis nennen könnte. Es wäre aber zu einfach, hohe Kriterien für die Pflegequalität festzulegen, um dann dem Personal vorzuwerfen, dass es diese nicht erfüllt. Es ist Sache der Politik, der Träger und der Pflegekassen, dafür zu sorgen, dass diese Menschen auch wirklich die Qualifikation und die Ressourcen bekommen, die sie benötigen, um den Anforderungen an eine moderne Altenhilfe zu entsprechen.

(Beifall bei SSW, SPD und BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

Das Pflegepersonal hat offensichtlich noch nicht ausreichende Gelegenheit dazu gehabt, diesen Zuwachs an Professionalisierung und Qualität nachzuvollziehen, und die Träger haben vielfach nicht die entsprechende Professionalisierung durch Bildungsmaßnahmen gefördert. Die Pflegeversicherung mit ihrer strengen Ökonomie hat auch nicht gerade die Übererfüllung von Fachkraftquoten provoziert. Deshalb ist es gut, dass heute die Aus- und Fortbildung und die Qualitätssicherung ganz oben auf der Tagesordnung stehen. Und daher ist es auch begrüßenswert, dass die Ergebnisse der MDK-Prüfungen von den Beteiligten jetzt nicht in erster Linie für Schuldzuweisungen, sondern zukunftsgerichtet als Grundlage eines Lernprozesses genutzt werden. Alles andere würde die betroffenen Menschen noch mehr belasten und demotivieren und es würde der Attraktivität des Altenpflegeberufs noch mehr schaden.

Im Dänischen sagt man, dass nichts so schlecht ist, dass es nicht für irgendetwas gut ist, und das gilt auch für die Horrormeldungen der letzten Monate über Missstände in den Pflegeheimen unseres Landes. So schlimm die Befunde des MDK sind, so wichtig ist es auch gewesen, dass Fachleute, Politik, Medien und

(Anke Spoorendonk)

Öffentlichkeit ihre Aufmerksamkeit auf die große Bedeutung dieses Bereiches gelenkt haben.

(Beifall bei SSW und BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

Es ist notwendig, dass wir uns darüber klar werden, welche Pflege wir wollen und wie viel wir in menschenwürdige Pflege investieren wollen.

(Beifall bei SSW, BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- NEN und der Abgeordneten Jutta Schümann [SPD])

In diesem Sinne ist die Idee einer Enquetekommission auch grundsätzlich begrüßenswert. Denn wir werden nicht um die Frage umhinkommen, ob es nicht notwendig ist, mehr in die Pflege zu investieren. Es ist nicht nur das Qualitätsniveau in unseren Pflegeeinrichtungen, an dem es hapert. Vor allem die Pflegeversicherung als strukturelle Grundbedingung der meisten Pflegetätigkeiten hier im Lande fördert nicht gerade die Pflegequalität, wenn sie nach der Stoppuhr vorgeht und keine menschliche Zuwendung berücksichtigt.

(Beifall der Abgeordneten Angelika Birk [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN])

Denn es ist fragwürdig, ob sich diese beiden Dinge trennen lassen, wenn es um gute Pflege geht.

Eben diese Aufteilung spiegelt sich aber in den Prüfungen wider. Der MDK hat sich nur die medizinischpflegerische Prozessqualität der Pflege angesehen. Niemand außer den Pflegebedürftigen, dem Pflegepersonal und den Angehörigen bewertet die menschliche Qualität, die persönliche Zuwendung, die in der Pflege stattfindet.

(Beifall des Abgeordneten Werner Kalinka [CDU])

Genauso wichtig wie korrekt geführte Akten ist aber die Lebensqualität der Bewohnerinnen und Bewohner.

(Beifall bei SSW, SPD, CDU und BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

Diese kann nur entstehen, wenn das Pflegepersonal Zeit hat. Natürlich gedeiht kein Mensch in einem Heim, wenn er ausgetrocknet ist oder wegen Bewegungsmangels unter Kontrakturen leiden muss. Das sind Dinge, die eigentlich schon früher aufgefallen sein müssten. Deshalb ist klar, dass die Kreise und kreisfreien Städte als Träger der Heimaufsicht ihre Aufgaben nicht wahrgenommen haben. Sie sind es, die die Kontrolle in den Heimen schon viel früher hätten ausüben müssen.

(Beifall bei SSW, SPD und BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

Diese Kontrollen müssen in Zukunft funktionieren und dafür brauchen wir die Unterstützung unserer Kommunalpolitikerinnen und Kommunalpolitiker.

(Rolf Fischer [SPD]: Aber auch der Angehö- rigen!)

- Das ist richtig. Aber auch unsere Kommunalpolitiker sind gefragt. Sie müssen in Zukunft die gewissenhafte Erfüllung der Heimaufsicht kontrollieren und auf eine bessere Qualifizierung des Personals in diesem Bereich drängen. Der SSW hat aber immer noch Vertrauen in die kommunale Ebene. Deshalb lehnen wir Vorschläge ab, die Heimaufsicht nach dem Heimgesetz zukünftig vom Sozialministerium wahrnehmen zu lassen, wie es die Kollegin Kleiner angeregt hat.

(Beifall bei SSW, SPD und der Abgeordneten Angelika Birk [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- NEN])

Aber nicht nur der Vorschlag der Landesvorsitzenden der Senioren-Union ist problematisch. Auch der vorliegende Antrag hat so seine Tücken.

Wir unterstützen die Pflegequalitätsoffensive des Sozialministeriums und ich möchte hinzufügen: auch der Sozialministerin, weil sie dies persönlich initiiert hat. Aber es ist schon komisch, wenn die Landesregierung jetzt aufgefordert werden soll, sich für die Einrichtung einer Pflege-Enquetekommission des Bundestages einzusetzen. Ich will nicht missverstanden werden: Es ist nicht falsch, wenn sich das Parlament mit der Zukunft der Pflege in unserer Gesellschaft auseinander setzen soll. Diese Art der Bewegung ist schließlich auch dafür verantwortlich gewesen, dass die Pflegeversicherung eingerichtet wurde und dass wir heute so hohe Ansprüche an eine professionelle Pflege stellen. Aber ich finde, eines ist falsch: der Adressat. Wenn die Grünen und die SPD sich so etwas im Bundestag wünschen, dann sollten sie das nicht der Landesregierung mitteilen, sondern vorzugsweise ihren Bundestagsabgeordneten.

(Beifall beim SSW - Angelika Birk [BÜND- NIS 90/DIE GRÜNEN]: Das tun wir auch!)

Auch muss ich darauf hinweisen, dass es im Bundestag schon eine Enquetekommission gibt, nämlich die Enquetekommission „Demographischer Wandel“. Man sollte sich vielleicht überlegen, wie viele Enquetekommissionen man einrichten will und ob sie sich nicht gegenseitig auf die Füße treten.

Vor dem Hintergrund der öffentlichen Debatte zum Thema Pflege muss ich zum Antrag der regierungstragenden Fraktionen sagen: Man kann natürlich die Regierung um etwas bitten. Man kann darum bitten, dass Bemühungen um eine unabhängige Beratung von

(Anke Spoorendonk)

Pflegebedürftigen, von Pflegepersonal und Angehörigen fortgesetzt, ausgeweitet und vernetzt werden. Aber ich erwarte von der Regierung - wie ich sagte: vor dem Hintergrund der öffentlichen Debatte -, dass sie dafür sorgt, dass alle Bürgerinnen und Bürger gut beraten werden. Ich finde, man kann dies ruhig ein bisschen präziser formulieren.

(Beifall beim SSW)

Ein Letztes! Es hat auch schon Anregungen gegeben, der Pflege Verfassungsrang zu verschaffen. Das ist hier ja auch schon ein paar Mal gesagt worden. Gewerkschaften und Wohlfahrtsverbände unterstützen eine Volksinitiative, die zum Ziel hat, die Forderung nach einer menschenwürdigen Pflege in die Landesverfassung aufzunehmen. Für den SSW ist dies aber keine Lösung.

(Beifall bei der FDP)

Darum sage ich - lieber Kollege Garg, das habe ich auch auf der genannten Veranstaltung gesagt -, unsere Erfahrung - das unterstreiche ich hier noch einmal nicht zuletzt aus dem Bereich der Minderheitenpolitik ist, dass sich mit Staatszielbestimmungen unsere Gesellschaft nicht verändern lässt.

(Beifall bei der FDP und vereinzelt bei der CDU sowie des Abgeordneten Lars Harms [SSW] - Glocke der Präsidentin)

Frau Abgeordnete, bitte kommen Sie zum Schluss.

Zu den vorliegenden Anträgen möchte ich beantragen, dass sie alle an den Sozialausschuss überwiesen werden,

(Beifall bei der FDP und des Abgeordneten Lars Harms [SSW])

auch der Antrag von SPD und BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN. Ich hätte mir auch gewünscht, dass der Zusatzantrag von der Fraktion der CDU früher gekommen wäre, aber ich meine, wir können den einen Antrag nicht debattieren, ohne den anderen dabeizuhaben.

(Vereinzelter Beifall bei der SPD und Beifall des Abgeordneten Lars Harms [SSW] - Hol- ger Astrup [SPD]: Sehr richtig!)

Zu einem Kurzbeitrag nach § 56 Abs. 4 unserer Geschäftsordnung hat jetzt der Herr Abgeordnete Dr. Garg das Wort.

Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen! Liebe Kollegen! Liebe Kollegin Spoorendonk, liebe Kollegin Birk, Ihre beiden Anträge veranlassen mich, doch noch einmal einige Sätze dazu zu sagen.

Frau Spoorendonk, Sie haben ganz am Anfang die Pflegekassen angesprochen, die die Kosten immer weiter nach unten drücken würden, sodass es überhaupt nicht mehr zu einer ordentlichen pflegerischen Versorgung komme. Das will ich nicht weiter kommentieren. Ich will nur den einen Satz, den ich von einem Ersatzkassenverband gehört habe, kommentieren, weil der nämlich das zum Ausdruck bringt, was Sie angesprochen haben.

Wenn ich von einem Ersatzkassenverband höre, das Geld müsse aber immerhin für eine Satt- und SauberPflege reichen, dann muss ich Ihnen ganz offen gestehen, dass ich genau dahin nicht will. Ich will eben nicht, dass wir in Zukunft mit fast einem Fünftel der Bevölkerung so umgehen, dass man sagt, die werden schon satt und sauber gepflegt und dafür reicht das Geld aus der Pflegeversicherung. Auf dieser Diskussionsbasis will ich in Zukunft nicht über die Weiterentwicklung in diesem Bereich reden.