Protokoll der Sitzung vom 24.01.2002

Die Rentenversicherung leistete allein 33 Milliarden DM West-Ost-Transfer und 24 Milliarden DM Kriegsfolgelasten. Dazu kamen weitere Leistungen wie Kindererziehungszeiten, Renten nach Mindesteinkommen und so weiter im Wert von fast 80 Milliarden DM.

Auch aus dem Arbeitslosengeld wurden für West-OstTransfer, Ausbildung, Umschulung, ABM, Vorruhestand und so weiter fast 60 Milliarden DM geleistet, die nichts mit dem Versicherungscharakter zu tun haben, sondern staatliche Sozialleistungen sind.

Geht man davon aus, dass in vielen Staaten, auch so liberalen wie USA und Großbritannien, die medizinische Grundversorgung und eine Grundrente für Bedürftige vom Staat gezahlt werden, dann kann man mit Fug und Recht behaupten, dass zirka ein Drittel der Leistungen der Sozialkassen versicherungsfremd sind. Diese Sozialleistungen - das ist der eigentliche Skandal - werden bei uns überwiegend von Arbeitern und Angestellten mit unteren und mittleren Einkommen finanziert. Dagegen sind die Selbstständigen, die Beamten und die oberen Einkommensgruppen davon befreit und an der Finanzierung dieser sozialen Lasten nicht beteiligt. Es ist geradezu absurd, dass in unserem Staat die unteren Einkommensschichten mit 40 % Abzügen vom Lohn für die Finanzierung von Sozialleistungen herangezogen werden, die hohen Einkommen aber davon befreit werden. Das ist sozial ungerecht.

(Beifall der Abgeordneten Angelika Birk [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN])

Das verhindert die Entstehung von Millionen Arbeitsplätzen im Dienstleistungssektor, wie sie es in anderen Ländern gibt. Das treibt Millionen Menschen in die Schwarzarbeit, um die Lohnnebenkosten zu sparen. Und das schwächt unser Steuer- und Sozialsystem. Nur, diejenigen, die brav ihr Einkommen versteuern, sind dabei die Dummen.

Meine Damen und Herren, deshalb habe ich den Antrag gestellt, für die Sozialversicherung wie bei den Steuern einen Freibetrag und eine Progressionszone einzuführen. Das ist keine Lohnsubvention und kein Kombilohn. Es ist nichts weiter als die dringend gebotene Freistellung der unteren Einkommen von der Finanzierung von Sozialleistungen.

Ein solches System ist besser als das der FDP, das hier vorgeschlagen ist, die die Geringfügigkeitsgrenze verdoppeln will. Denn dann haben wir wieder eine Grenze und es lohnt sich wieder nicht für die Menschen, die mehr verdienen wollen, mehr zu arbeiten,

(Karl-Martin Hentschel)

weil sie plötzlich Steuern und Sozialabgaben bezahlen müssen. Sie erklären nicht, wie dann diese Menschen aus diesem Minieinkommen noch eine eigene private Altersversicherung aufbauen sollen, ohne im Alter doch wieder bei der Sozialhilfe zu landen. Wer soll die Krankenkasse bezahlen?

Das vorgeschlagene Modell ist auch besser als die Flickmodelle, wie sie jetzt auf Bundesebene von unserem Koaltionspartner gewollt sind. Denn das sind wieder Modelle, die nur denen nützen, die schon länger arbeitslos gewesen sind. Neue Arbeitsplätze werden aber auch dadurch auf Dauer nicht geschaffen. Die Dummen sind dann wiederum die, die bisher ehrlich die Steuern gezahlt haben und nicht bereits ein halbes oder ein Jahr arbeitslos sind.

Meine Damen und Herren, eine Freistellung, wie ich sie vorschlage, ist nicht kostenlos zu haben; sie muss gegenfinanziert werden. Herr Garg, auch Ihr Modell muss gegenfinanziert werden. Sie sagen nur nicht, wie. Das nenne ich feige.

Wenn ich als Gegenfinanzierung die Verbrauchsteuern vorschlage, dann aus gutem Grund und mit guter Unterstützung. Ich weiß für dieses Modell um die Unterstützung von vielen im Unternehmerverband Schleswig-Holstein, mit denen ich das diskutiert habe, ich weiß für dieses Modell um die Unterstützung der Handwerkskammern Schleswig-Holsteins, von denen beide Präsidenten das Modell öffentlich unterstützt haben, ich weiß auch - das hat mich sehr gefreut - um die Unterstützung des schleswig-holsteinischen Wirtschaftsministers, der auch in diese Richtung ein Interview gegeben hat.

Eine Freistellung, wie ich sie vorschlage, ist nicht kostenlos zu haben - also wie? Die Gegenfinanzierung kann nur aus Verbrauchsteuern erfolgen, und das aus gutem Grund. Die Verbrauchsteuern belasten den Konsum, also alle.

(Wolfgang Kubicki [FDP]: Vor allem die Ge- ringverdiener, Herr Hentschel!)

Das heißt, alle werden an der Finanzierung des Sozialsystems beteiligt. Das ist gerechter als das bisherige System. Die Verbrauchsteuern haben einen weiteren Vorteil: Sie sind außenhandelsneutral, sie belasten nicht den Export wie alle anderen Steuerarten, sie belasten aber den Import, also auch die im Ausland produzierten Produkte, die hier konsumiert werden. Das ist volkswirtschaftlich sinnvoll.

(Wolfgang Kubicki [FDP]: Sie belasten die unteren Einkommen überproportional!)

Außerdem sind die Verbrauchsteuern sozial gut gestaffelt, jedenfalls wesentlich besser als unser jetziges Sozialsystem.

(Wolfgang Kubicki [FDP]: Wie das denn?)

Der größte Ausgabenfaktor für niedrige Einkommen, die Miete, ist steuerfrei. Der zweite große Faktor, das Essen, hat einen reduzierten Mehrwertsteuersatz. Schließlich kann die soziale Differenzierung der Mehrwertsteuer auch durch einen dritten Mehrwertsteuersatz weiter ausgebaut werden wie in Skandinavien.

Meine Damen und Herren, wer der Theorie nicht glaubt, kann sich in der Praxis anschauen, wie eine solche drastische Senkung der Lohnnebenkosten im unteren Einkommensbereich funktioniert. In Dänemark hatte sie in der Mitte der 90er-Jahre die Folge, dass innerhalb von fünf Jahren eine Halbierung der Arbeitslosigkeit erreicht wurde, ein Ergebnis, das uns schon von zwei Kanzlern tapfer versprochen wurde.

Ich habe die hier dargestellten Überlegungen an verschiedenen Stellen vorgestellt; ich habe das schon erwähnt. Ich bin auf Zustimmung gestoßen. Das ermutigt mich, die Diskussion über dieses Modell weiter zu führen. Ich weiß, dass es in allen Parteien Menschen gibt, Wirtschaftsexperten, Sozialexperten, die darüber nachdenken, eine solche Veränderung des Sozialversicherungssystems vorzunehmen. Ich wünsche mir, dass wir in der Debatte über diesen Antrag über Parteigrenzen hinweg einen Denkprozess einleiten, der zu einer wirklichen Reform in Deutschland führen kann. Ich würde mich freuen, wenn wir das im Ausschuss weiter beraten und in den nächsten Jahren vielleicht auch erfolgreich zu einer Reform in Deutschland kommen würden.

(Beifall der Abgeordneten Angelika Birk [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN], Jutta Schümann [SPD] und Anke Spoorendonk [SSW])

Bevor ich das Wort erteile, will ich Gäste begrüßen. Auf der Tribüne haben sich Schülerinnen und Schüler der Gustav-Johannsen-Skole Flensburg mit ihren Lehrkräften eingefunden. Herzlich willkommen!

(Beifall)

Ich erteile jetzt das Wort Herrn Abgeordneten Dr. Garg.

Herr Präsident! Liebe Kolleginnen! Liebe Kollegen! Sehr geehrte Frau Ministerpräsidentin, ich fand es sehr

(Dr. Heiner Garg)

charmant, dass Sie gestern angekündigt haben, die Wahlversprechungen von Edmund Stoiber würden bis zur Bundestagswahl auf ein weißes Blatt Papier passen. Ich fand das nicht nur charmant, sondern ich fand auch, dass Sie den Mund sehr voll genommen haben, weil nämlich Ihr eigener Bundeskanzler acht Monate vor seiner angestrebten Wiederwahl auf eine stolze Bilanz blicken kann, auf eine Bilanz mit 4,5 Millionen Arbeitslosen bereits im Februar, Lohnnebenkosten in Höhe von 41 %, Anstieg der Schwarzarbeit in noch nie gekannter Höhe, Haushaltsdefizit von 2,5 % des Bruttoinlandsprodukts und einem Wirtschaftswachstum von gerade 0,6 % im Jahre 2001. Dann haben wir noch so einen fantastischen Debattierclub, der sich „Bündnis für Arbeit“ nennt und bisher außer heißer Luft überhaupt nichts produziert hat.

(Martin Kayenburg [CDU]: So ist das!)

Dafür aber werden die Gewerkschaften in Zeiten des niedrigsten Wirtschaftswachstums seit 1993 die höchsten Tarifsätze fordern. Das ist alles in allem eine Politik gegen Arbeitslose.

(Beifall bei FDP und CDU)

Liebe Kolleginnen, liebe Kollegen, es werden mit sehr ruhiger Hand rund 1 Million Arbeitsplätze durch eine völlig verfehlte Arbeitsmarktpolitik vernichtet, um sie dann kurz vor der Bundestagswahl durch ein gigantisch teures Subventionsprogramm in Form des so genannten „Mainzer-Modells“ wieder neu schaffen zu wollen. Insoweit finde ich es in der Tat bemerkenswert, Frau Ministerin Moser, dass Sie bei der bundesweiten Einführung des so genannten „MainzerModells“ vor überzogenen Erwartungen an die Effekte von Kombilohn-Modellen für den Arbeitsmarkt insgesamt gewarnt haben.

(Beifall bei der FDP - Zuruf der Ministerin Heide Moser)

- Sie können die Leckerli stecken lassen, weil wir uns in anderen Punkten nicht so sonderlich einig sind. Wir stimmen aber darin überein, Frau Ministerin, dass Kombilohn-Modelle einen zusätzlichen Beitrag zur aktiven Arbeitsmarktpolitik darstellen - ein Allheilmittel sind sie allerdings nicht. Der flächendeckende bundesweite Einsatz des „Mainzer-Modells“ für einen zuvor vollkommen zerschlagenen Arbeitsmarkt ist ein solches Armutszeugnis, wie es bisher keine Vorgängerregierung - gleich welcher Zusammensetzung abgeliefert hat.

Sinnvolle aktive Arbeitsmarktpolitik zeichnet sich dadurch aus, dass sie auch auf regionale Besonderheiten eingeht. Die Absicht, das so genannte „MainzerModell“ flächendeckend einführen zu wollen, ist

nichts als eine unendlich teure arbeitsmarktpolitische PR-Kampagne des Bundeskanzlers.

(Beifall bei FDP und CDU)

Wenn man, liebe Kolleginnen und Kollegen, lieber Kollege Hentschel, tatsächlich einen Niedriglohnsektor dauerhaft schaffen will, dann gehört eben auch dazu, die Gesetzesgrundlage für die geringfügigen Beschäftigungsverhältnisse sofort zu ändern. Lieber Kollege Hentschel, es kommt selten genug vor, dass die Grünen vernünftige Eingebungen haben. Vielleicht lag es auch an der Weihnachtszeit, dass Oswald Metzger, die derzeitige 325-Euro-Regelung als das bezeichnete, was das Gesetz schon immer war: eine „Missgeburt“. Seine Warnung vor „Denkverboten" zu Gunsten größerer Beschäftigungschancen für gering Qualifizierte, bei der Lockerung des Kündigungsschutzes, bei der Gestaltung befristeter Beschäftigungsverhältnisse und bei der Teilzeitarbeit fand ich bemerkenswert. Auch die Äußerung Metzgers gegenüber „dpa“ am 18. Januar 2002, dass „Staatsfinanzen sich ohne eine Arbeitsmarktreform nicht sanieren lassen“, lässt nur den Schluss zu, dass die Grünen mittlerweile FDP-Papiere verteilen.

(Wolfgang Kubicki [FDP]: Sehr gut!)

Herr Kollege Hentschel, dazu würde aber auch gehören - ich zitiere immer noch Herrn Metzger -, dass die Beiträge der Sozialversicherung auf mindestens 39,5 % gesenkt, am Arbeitsmarkt weniger Bürokratie herrscht und betriebsnahe Tariflösungen gefunden werden. Dazu konnte ich in Ihrem Beitrag allerdings nichts erkennen. Ihr Modell lässt weder weniger Bürokratie noch mehr Flexibilität bei Tarifabschlüssen durchblicken. Sie können ja so tun, als ob Sie das alles nicht interessiert; es wäre nur ganz sinnvoll, dass Sie wenn Sie sich als Sozialexperte hinstellen - ab und zu auch einmal darüber nachdenken -

(Wolfgang Kubicki [FDP]: Nein! Das ist zu viel verlangt!)

- Ja, Kandidat Kubicki, ich weiß, dass das zu viel verlangt ist. Es wäre aber ganz nett, wenn er sich wenigstens hinterher überlegen würde, was er da vorhin für einen Unsinn erzählt hat.

(Wolfgang Kubicki [FDP]: Sehr gut!)

Das Gesetz zur Neuregelung der geringfügigen Beschäftigungsverhältnisse vom 24. März 1999 ist volkswirtschaftlicher Blödsinn.

(Beifall bei der FDP)

Seine Urheber und Claqueure können auf eine wahrhaft stolze bisherige „Bilanz“ blicken: Abgesehen von der Tatsache, dass sicherlich einige geringfügig Be

(Dr. Heiner Garg)

schäftigungsverhältnisse zu Teilzeit- bzw. Vollzeitjobs zusammengefasst wurden, sind unter dem Strich netto rund 1 Million geringfügige Beschäftigungsverhältnisse per Gesetz vernichtet worden. Dafür hat diese „Missgeburt“ vor allem der Schwarzarbeit zu einer noch nie da gewesener Hochkonjunktur verholfen. Und damit wir wissen, über welche Dimensionen wir reden: Bundesweit wird - so das Institut für Angewandte Wirtschaftsforschung aus Tübingen - der Wert der Schwarzarbeit im Jahr 2002 auf rund 350 Milliarden Euro beziffert. Das sind 16,5% des Bruttoinlandprodukts.

Das Gesetz ist wirtschaftsfeindlich, weil in vielen Branchen auf Nachfragespitzen nicht mehr flexibel reagiert werden kann. Spitzenzeiten werden schlichtweg durch Überstunden, die Sie ja immer so anprangern, ausgeglichen. Diese „Missgeburt“ ist aber vor allem arbeitnehmerfeindlich, weil vielen Frauen und Männern genau die Beschäftigungsform genommen wurde, die von ihnen gewünscht wurde, um sich etwas hinzu zu verdienen. Insbesondere Frauen und Männer mit geringeren Qualifikationen haben zuvor von diesen Beschäftigungsverhältnissen profitiert. Der Wunsch, dass sich durch die Neuregelung der geringfügigen Beschäftigungsverhältnisse die soziale Absicherung der Beschäftigten erhöht, hat sich als schlichte Nullnummer erwiesen. Nicht die einzelnen Beschäftigten erfuhren ein Plus an sozialer Absicherung, sondern lediglich die maroden Sozialkassen.

(Beifall bei der FDP)

In unserem Antrag geht es darum, Beschäftigungsanreize zu schaffen, indem die monatliche Entgeltgrenze auf 630 Euro erhöht wird. Mit der Erhöhung der Geringfügigkeitsgrenze wird ein erster, bescheidener Beitrag dazu geleistet, dass tatsächlich ein funktionierender Niedriglohnsektor entsteht. Gleichzeitig wird aber auch ein bescheidener Beitrag zur Stabilisierung des gegliederten Sozialversicherungssystems geleistet. An diesen Punkt unterscheiden wir uns ganz außerordentlich, Herr Kollege Hentschel.