Protokoll der Sitzung vom 24.01.2002

In unserem Antrag geht es darum, Beschäftigungsanreize zu schaffen, indem die monatliche Entgeltgrenze auf 630 Euro erhöht wird. Mit der Erhöhung der Geringfügigkeitsgrenze wird ein erster, bescheidener Beitrag dazu geleistet, dass tatsächlich ein funktionierender Niedriglohnsektor entsteht. Gleichzeitig wird aber auch ein bescheidener Beitrag zur Stabilisierung des gegliederten Sozialversicherungssystems geleistet. An diesen Punkt unterscheiden wir uns ganz außerordentlich, Herr Kollege Hentschel.

Wer die umlagefinanzierten Sozialversicherungssysteme im Grunde erhalten will, muss sie infolge der demographischen Entwicklung ergänzen und stabilisieren. Genau eine solche Stabilisierung stellt die von uns geforderte Altersvorsorgepauschale dar: Sie arbeitet nach dem Kapitaldeckungsverfahren, ist privatwirtschaftlich organisiert und entfaltet somit ordnungs- und sozialpolitisch positive Effekte. Sozialpolitisch entscheidend ist dabei für mich, dass der einzelne geringfügig Beschäftigte aus einem solchen System eine zusätzliche Altersversorgung erhält, deren Betrag -

(Ministerin Heide Moser: Zusätzlich?)

- Natürlich zusätzlich! Das ist ein geringfügiges Beschäftigungsverhältnis, Frau Ministerin. Sie wollen mir doch nicht erzählen, dass alle, die ein solches Beschäftigungsverhältnis haben, nur von diesem Beschäftigungsverhältnis leben!

(Ministerin Heide Moser: Nein!)

- Eben. Also ist es zusätzlich; und also erhalten sie eine zusätzliche Altersversorgung. Und deren Betrag ist 15-mal höher, als der aus der gesetzlichen Rentenversicherung. Schon aus diesem Grund würde ich gerne, Herr Kollege Hentschel, sowohl unser Modell als auch Ihre wirren Vorstellungen in der Praxis einmal testen lassen. Mich würde interessieren, ob die Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer bereit sind, zu Lasten ihrer eigenen Altersvorsorge nur noch die Finanzlöcher umlagefinanzierter Sozialversicherungssysteme zu stopfen, oder ob sie nicht lieber selbst etwas für ihre Altersvorsorge tun wollen.

Die Grünen machen es sich zu einfach, wenn sie sämtliche ökonomischen und demographischen Probleme der Sozialversicherung durch eine Abkehr von der Beitragsfinanzierung hin zur Steuerfinanzierung lösen wollen. Für meine Fraktion stelle ich klipp und klar fest: Dänische Verhältnisse wollen wir unter keinen Umständen. Das ist langfristig eine unendlich teuer eingekaufte Mogelpackung, Herr Kollege Harms.

(Lachen beim SSW - Lars Harms (SSW): Ich rede doch gar nicht dazu!)

- Du hast doch schon wieder den Kopf geschüttelt! Das Spannende ist aber doch: Auch die Dänen haben das inzwischen festgestellt. Denn mittlerweile sind die Leistungen ihrer „Folkepension“ so weit abgesenkt worden, dass von dieser Pension nach Abzug der Steuern niemand mehr leben kann und sie einen immer größeren Teil ihrer Altersversorgung durch private Zusatzversicherungen abdecken müssen.

(Beifall bei der FDP - Anke Spoorendonk [SSW]: Das ist falsch!)

Vor diesem Hintergrund kann ich nur an alle appellieren: Wenn wir im Ausschuss über das Modell Grün und über das Modell Blau-Gelb debattieren, dann überlegen Sie sich einmal ernsthaft, vor welchem demographischen Umbruch wir stehen! Überlegen Sie sich einmal ernsthaft, wie umlagefinanzierte Sozialversicherungssysteme überhaupt funktionieren! Die funktionieren nämlich nur bei einer wachsenden Bevölkerung. Wir haben aber eine schrumpfende Bevölkerung. Wenn Sie diese Systeme in ihrem Kern ernsthafterweise erhalten wollen - das wollen wir übrigens auch -, dann wird es allerhöchste Zeit, dass Sie sie durch kapitalgedeckte Elemente stabilisieren - so wie Walter Riester das bereits angefangen hat. Ein erster

(Dr. Heiner Garg)

Schritt dazu wäre eine private kapitalgedeckte zusätzliche Altersvorsorge für die geringfügigen Beschäftigungsverhältnisse. Auf die Ausschussberatungen bin ich sehr gespannt.

(Beifall bei der FDP)

Ich erteile Herrn Abgeordneten Baasch das Wort.

Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Ein total deregulierter Arbeitsmarkt, der für einen großen Teil der Beschäftigten Löhne unterhalb des Existenzminimums bedeuten würde, ist weder sinnvoll noch sozialpolitisch akzeptabel.

(Beifall bei der SPD)

In dieser Frage sind wir uns in diesem hohen Hause sicherlich alle - auch die Grünen und die FDP - einig. In der heutigen Diskussion stellt sich allerdings erneut die Frage, ob geringproduktive und demnach auch nur geringentlohnte Arbeit systematisch - auf Dauer oder zeitlich begrenzt - staatlich subventioniert werden soll. Die Befürworter einer solchen Subventionierung von geringqualifizierter Arbeit führen folgende Argumente an - zum Teil haben wir sie schon gehört -: Erstens. In den Industrien würden ständig Arbeitsplätze in diesem Sektor abgebaut und somit freigesetzte Arbeitskräfte könnten nur mit einfachen Arbeiten und einfachen personenbezogenen Dienstleistungen beschäftigt werden. Zweitens. Zusätzliche Beschäftigung mit einfachen Arbeiten sei auch deshalb notwendig, weil die Qualifikationsanforderungen ständig stiegen und immer mehr Menschen nicht in der Lage seien, diese Anforderungen zu erfüllen. Drittens. Im gegenwärtigen Sozialsystem fehle es an Anreizen für Arbeitslose, eine gering bezahlte Arbeit anzunehmen.

Diesen Argumenten kann man folgende Einwände entgegenhalten: Die Arbeitsplatzlücke ließe sich auch problemlos ohne einen subventionierten Niedriglohnsektor schließen, wenn nur Arbeitszeitverkürzungen und Abbau von Überstunden umgesetzt würden. Es gilt auch, weiterhin die besondere Situation in Deutschland zu berücksichtigen, dass nach der Wiedervereinigung eine hohe Arbeitslosigkeit im Osten eingetreten ist. Außerdem sollte die vorhandene Qualifikation vieler Arbeit Suchender eine Herausforderung für ihre berufliche Qualifikation darstellen. Jedenfalls gibt es im Bildungswesen und vor allem in der Weiterbildung noch viele unausgeschöpfte Möglichkeiten, um die Qualifikation von Arbeit Suchenden zu verbessern.

Die Antwort auf das Problem der gering qualifizierten Arbeitslosen ist nicht, sie zu subventionieren, sondern sie zu qualifizieren und die Anstrengungen in der Bildungspolitik zu verstärken. Dies heißt, es darf auf keinen Fall durch die Subventionierung gering qualifizierter Arbeit dazu kommen, dass arbeitsmarktpolitische Alternativen, die zu anderen langfristig tragfähigen strategischen Ansätzen wie Arbeitszeitverkürzung oder intensive Qualifikation von Arbeit Suchenden führen, vernachlässigt werden.

Liebe Kolleginnen und Kollegen, der Vorschlag von BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN, die gering qualifizierte Arbeit aus Steuermitteln zu subventionieren, ist eine Möglichkeit, die allerdings dazu führt, innerhalb des bestehenden Sozialversicherungssystems die Gewichte zwischen Beitrags- und Steuerfinanzierung zu verschieben. Natürlich würde ein höherer Bundeszuschuss zur Rentenversicherung, ein Regelbundeszuschuss zur Bundesanstalt für Arbeit oder die Finanzierung der Arbeitsmarktpolitik aus steuerfinanzierten Einnahmen ganz durch den Bund ein Weg sein, ein Weg, den die rot-grüne Bundesregierung seit 1998 zum Beispiel zur Entlastung der Rentenversicherungsbeiträge mit der Ökosteuer auch geht. Dem Vorteil, dass durch diesen Weg die Arbeitskosten entlastet werden, steht allerdings der Nachteil gegenüber, dass damit die Abhängigkeit der Sozialversicherung von der Haushaltspolitik des Bundes immer weiter steigen würde. Und neben den politischen Schwierigkeiten der Umsetzung des Sozialversicherungssystems wird dieser Weg auch eine Antwort darauf geben müssen, wie denn die durch die Beitragsfinanzierung begründeten Ansprüche auf die Sozialversicherung umgesetzt werden sollen. Denn genau diese Ansprüche an unsere Sozialversicherung werden durch ein neues Finanzierungssystem aufgeweicht.

Wer wie Karl-Martin Hentschel einfach eine Erhöhung der Mehrwertsteuer auf 19 Punkte vorschlägt, vergisst, dass derartige Steuererhöhungen auch auf die Löhne und Arbeitskosten durchschlagen. Wenn die Sozialversicherungsbeiträge durch indirekte Steuern ersetzt und die Konsumpreise drastisch erhöht werden, wird sich dies auch in den Lohnforderungen der Gewerkschaften und der Beschäftigten generell niederschlagen. Im Übrigen glaube ich, dass der geschichtliche Rückblick von Karl-Martin Hentschel auf die Zeiten des Kaiserreichs, nachzulesen im „Flensborg Avis“ vom 14. Januar 2002, nicht nur hinkt, sondern auch Gefahren birgt.

(Beifall bei SPD, FDP und SSW)

Hentschel behauptet nämlich, dass im Kaiserreich die Arbeiter keine Abgaben gezahlt hätten, sondern nur die Reichen. Wahrscheinlich wünscht er sich zur Un

(Wolfgang Baasch)

terstützung seiner Position und der grünen Wahlchancen das Dreiklassenwahlrecht des Kaiserreichs zurück. Denn dort durften die Arbeiter, die keine Steuern zahlten, auch nicht wählen.

(Beifall bei der SPD - Wolfgang Kubicki [FDP]: Rio Reiser: Wenn ich König von Deutschland wär’!)

Ich finde es prickelnd, uns praktisch in Form eines Workshops zu „Grünen“ Diskussionen aufzufordern. Es bleibt nur der Hinweis darauf, dass mir alleine aus den letzten vier Wochen Zeitungslektüre mindestens vier Vorschläge der Grünen bekannt sind.

(Beifall bei SPD, CDU, FDP und SSW)

Kombilohn, Ausweitung der 325-Euro-Jobs sowie ein Einstiegsgeld für Langzeitarbeitslose sind Diskussionsvorschläge, die gleichberechtigt neben der Mehrwertsteuer-Erhöhung genannt werden. Ich meine, es wäre sinnvoll zu hören, worauf sich die grüne Seite verständigt und was die Grünen denn nun einfordern.

(Beifall bei SPD, CDU, FDP und SSW)

Liebe Kolleginnen und Kollegen, ich komme zum FDP-Antrag. Bei diesem Antrag handelt es sich um die Neuauflage einer Diskussion, die wir bereits im September des letzten Jahres geführt haben, eine Diskussion, die erneut dazu beitragen soll, sozialversicherungsfreie Beschäftigungsverhältnisse akzeptabel zu machen. Dies haben wir damals abgelehnt, und wir halten es auch heute noch für falsch.

(Vereinzelter Beifall bei der SPD)

Wir unterstützen hingegen die Initiative der Bundesregierung mit dem neuen Job-Aqtiv-Gesetz. Mit dem Job-Aqtiv-Gesetz werden neue Kapitel in der Arbeitund in der Sozialpolitik aufgeschlagen. Mit dem JobAqtiv-Gesetz wird die Effektivität der Arbeitsvermittlung gesteigert, die berufliche Qualifizierung wird verstärkt, eine verbesserte Vereinbarkeit von Familie und Beruf wird unterstützt und in noch stärkerem Maße wird das Prinzip „Fördern und Fordern“ verankert. Mit dem Job-Aqtiv-Gesetz sollen alle Beschäftigungsmöglichkeiten genutzt werden, um die Langzeitarbeitslosigkeit zu vermeiden und eine schnelle Wiedervermittlung von Arbeitslosen in den ersten Arbeitsmarkt zu erreichen. Hierzu wird der Arbeit Suchende sehr schnell und sehr qualifiziert beraten, und es wird mit ihm eine Eingliederungsvereinbarung geschlossen,

(Dr. Heiner Garg [FDP]: Darum geht es doch nicht!)

eine Eingliederungsvereinbarung, die auf der einen Seite die Angebote des Arbeitsamtes und der Arbeits

vermittlung enthält und die auf der anderen Seite die Aktivitäten des Arbeitssuchenden verbindlich festlegt. Um Langzeitarbeitslosigkeit zu vermeiden, wird der Einsatz aller arbeitsmarktpolitischen Instrumente für Arbeit Suchende sofort und ohne bisherige Wartezeiten ermöglicht. Dies sind notwendige Neuregelungen, die dazu führen, die Vermittlung von Arbeitslosen noch stärker zu beschleunigen und zielgenau voranzutreiben.

Neben dem Job-Aqtiv-Gesetz wird jetzt bundesweit das „Mainzer-Modell“ ausgeweitet. Dieses Kombilohn-Modell sieht vor, insbesondere gering qualifizierte Empfänger von Arbeitslosen- oder Sozialhilfe gezielt zu fördern. Im Rahmen des „Mainzer-Modells“ sind sozialversicherungspflichtige Arbeitsverhältnisse von mindestens 15 Wochenstunden mit einer Bezahlung nach Tarif beziehungsweise ortsüblicher Bezahlung förderfähig. Die Höchstdauer dieser Subventionierung beträgt 36 Monate. Mit dem „MainzerModell“ wird bundesweit ein Kombilohn-Modell eingeführt, das eine durchaus vernünftige Ergänzung von arbeitsmarktpolitischen Instrumenten sein kann. Allerdings wäre nun zu beobachten, ob es durch die Subventionierung von Niedriglöhnen zu Lohndumping kommt und ob die Arbeitgeber die Subventionierung gering qualifizierter Arbeit für ihre Zwecke ausnutzen, indem sie nämlich genau darauf setzen und dann solches Personal einstellen.

Es wäre wahrscheinlich klüger gewesen, das „Elmshorner Modell“ zur Grundlage für ein bundesweites Kombilohn-Modell zu machen.

(Beifall bei SPD und SSW)

Denn mit dem „Elmshorner Modell“ werden Arbeitgeber animiert, neue Arbeitsplätze zu schaffen. Die Lohnkostenzuschüsse werden genutzt, um die Arbeitgeber dabei zu unterstützen, neue und sich auf Dauer im ersten Arbeitsmarkt etablierende Arbeitsplätze zu schaffen. Gleichzeitig werden die Arbeit Suchenden für diese Tätigkeiten qualifiziert.

Dieser Weg und das neue Job-Aqtiv-Gesetz, das für eine schnellere Vermittlung und eine bessere Qualifizierung und für eine größere Flexibilität steht, wie auch die konsequente Fortsetzung von ASH 2000 mit den regional sehr unterschiedlichen Umsetzungen in Beschäftigungsgesellschaften und Beschäftigungsprojekten sind die richtigen Antworten, um mehr Arbeit zu schaffen und um schneller und besser die Arbeitslosigkeit zu bekämpfen.

Zur weiteren Beratung sind wir natürlich gerne bereit, die Anträge im Ausschuss vertiefend zu beraten. Ich sage aber gleich voraus: Die Sozialversicherungssysteme werden wir nicht durch Beschlüsse des Landta

(Wolfgang Baasch)

ges verändern. Wir können vielmehr nur Anreize schaffen, sich darüber Gedanken zu machen. Aber die Arbeitslosen brauchen ganz dringend genaue Antworten auf die Frage, wie wir ihnen heute und sofort helfen wollen.

(Beifall bei SPD, CDU, FDP und SSW)

Ich erteile der Abgeordneten Frau Strauß das Wort.

Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Herr Kollege Hentschel, ich will wohl wollend zur Kenntnis nehmen, dass Sie auf den Zeitpunkt Ihres Antrages und darauf hingewiesen haben, dass für Sie die Debatte im Kern beendet ist, was den Augenblick anbelangt.

Man muss sagen: Das Schaulaufen um den Arbeitsmarkt ist beendet. Der Kanzler hat entschieden. Herausgekommen ist ein Kombilohn-Modell, das bei hohem Mitteleinsatz und viel Aufwand zwischen 10.000 und 30.000 Arbeitsplätze bringen soll. Was für eine politische Großtat! Nach alter Manier werden Steuergelder hin und her verschoben, ohne dass auch nur ansatzweise grundlegende Verbesserungen am Arbeitsmarkt erreicht werden.

Aber darum ging es dem Kanzler auch nicht. Worum es ging, war der Showeffekt, mit dem einerseits Aktivität vorgetäuscht werden sollte und andererseits vertuscht werden soll, dass überfällige und tief greifende Reformen des Arbeitsmarktes, der Sozialversicherungssysteme und der Steuergesetzgebung weiter auf die lange Bank geschoben werden.

Die Wirkungen sind verheerend. Anstatt gestaltender Politik erleben die Menschen reaktiven Aktionismus, der nicht nur die Arbeitslosenzahlen in die Höhe treibt, sondern auch die Lohnnebenkosten.