Protokoll der Sitzung vom 20.06.2002

Der Autor des Artikels weist auf eine weit verbreitete Einstellung in der Bundesrepublik hin, der zufolge eine anspruchsvollere Bildung für leistungsschwache Schüler nicht möglich und auch nicht nötig sei. Sie sei nicht möglich, weil die einzelnen Schülerinnen und Schüler von Natur aus - ich zitiere immer noch sinngemäß - mit ungleichen und weitgehend bildungsresistenten Begabungen ausgestattet seien. Von daher - so sagt er - sei die Teilung der Kinder ab der 4. Klasse angeblich nach Eignung - nur folgerichtig.

Nun könnte man einwenden, was diese Vorführung des deutschen Bildungswesens solle, wenn doch PISA belege, dass Schulsysteme mit ganz unterschiedlichen Strukturen gute schulische Leistungen hervorbrächten, warum weiterhin an dem gegliederten Schulsystem

(Anke Spoorendonk)

herumnörgeln, wenn doch beispielsweise Bayern anscheinend so gut abschneide.

Dazu wegen der Kürze der Zeit drei Feststellungen.

Erster Punkt. Wenn Bildung auch unter dem Motto „gleiche Bildungschancen“ erörtert werden soll, dann kommt man nicht darum herum, wesentliche Eckpfeiler des gegliederten Schulsystems infrage zu stellen.

(Beifall des Abgeordneten Konrad Nabel [SPD])

Damit stellt man auch das Schulsystem in Bayern infrage, möchte ich hinzufügen.

(Beifall beim SSW und vereinzelt bei der SPD -Martin Kayenburg [CDU]: Gut, dass Sie nicht über Mathematik reden!)

- Ich sage jetzt etwas zum Schulsystem.

(Zuruf des Abgeordneten Martin Kayenburg [CDU])

Ich möchte trotzdem noch Folgendes hinzufügen. Diese Fragen werden mit Problemen der Lernpsychologie zusammenhängen. Mir ist keine fachlich untermauerte Stellungnahme bekannt, die belegt, wieso es gerechtfertigt ist, Kinder nach der 4. Klasse zu trennen.

(Beifall bei SSW, SPD und BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

Zweiter Punkt. Wenn man sich - wie in SchleswigHolstein und wie es auch vom SSW mitgetragen wird für mehr Autonomie im schulischen Bereich einsetzt, wenn man also Hierarchien abbauen will, dann sollte man diesen Schritt auch wirklich zu Ende denken. Das heißt, dort, wo man sich auf regionaler Ebene auf die Einführung einer sechsjährigen Grundschule einigt, wo Eltern, Schulträger und Schule dies wollen, sollte es auch möglich sein, dies so einzuführen. Wer also, wie aus dem vorliegenden Antrag hervorgeht, eine Stärkung der Grundschule will, muss auch gewillt sein, die Grundschulzeit zu verlängern.

(Beifall beim SSW)

Aus dem Änderungsantrag des SSW zu dem vorliegenden Antrag der Regierungsfraktionen geht hervor, dass die Schulen der dänischen Minderheit mit ihrer schulartunabhängigen Orientierungsstufe, das heißt mit einer praktisch sechsjährigen Grundschule, gute Erfahrungen gemacht haben. Man braucht eben nicht nach Finnland zu reisen, um zu sehen, was mit anderen Strukturen erreicht werden kann.

Dritter Punkt. Nach der Sommerpause werden wir uns wieder mit der Unterrichtssituation hier im Land befassen. Dabei wird es wieder um Unterrichtsausfall

und um Lehrerstellen gehen. Daher zum wiederholten Mal: Vor dem Hintergrund fehlender Ressourcen muss die Frage gestellt werden - das muss auch erlaubt sein -, wie lange wir es uns noch leisten können, fünf Schularten aufrecht zu erhalten. Zum wiederholten Male füge ich hinzu: Die ungeteilte Schule, die wir wollen, ist nur so gut, wie man sie macht. Ihr Vorteil ist, dass Handlungspläne schnell umgesetzt und Herausforderungen schnell aufgegriffen werden können, weil es eben nur eine Schule für alle gibt. Wer etwas verändern will, kann gleich damit anfangen und braucht nicht erst zu fragen, was denn eigentlich die Aufgabe einer bestimmten Schulart ist.

(Glocke der Präsidentin)

Zum Schluss - ich komme wirklich zum Schluss - noch eine Anmerkung zum Antrag der regierungstragenden Fraktionen. Wir werden in gewohnter Weise die konstruktiven Schritte - sie sind konstruktiv; so sehen wir das - mittragen. Wir werden im Ausschuss das Weitere besprechen können. Der Antrag enthält einige positive Ansätze, die wir gern verwirklicht sehen wollen.

(Beifall bei SSW, SPD und BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

Mir liegen drei Wortmeldungen nach § 56 Abs. 4 der Geschäftsverordnung vor. Ich werde zunächst diese Wortmeldungen aufrufen.

Zunächst Herr Abgeordneter Dr. Höppner!

Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Gestatten Sie mir, zu den von der Kollegin Eisenberg und dem Kollegen Dr. Klug gemachten Bedenken hinsichtlich der Versetzungsproblematik in den oberen Klassen der Hauptschule Stellung zu nehmen. Wenn Sie unseren Antrag mit etwas Sorgfalt und nicht mit innerer Sperre etwas intensiver gelesen hätten

(Beifall bei BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

und alle von uns dargelegten Entwicklungsschritte im Bereich der Grund- und Hauptschulen in ihrem Zusammenhang bewertet hätten, müssten Sie feststellen, dass es nach diesen Regelungen möglich ist, dass ein Hauptschüler seinen Hauptschulabschluss nach insgesamt 12 Schulbesuchsjahren machen kann. Er hat nämlich drei Jahre in den Klassen 1 und 2, drei Jahre in der Orientierungsstufe und drei Jahre in der Ausgangsstufe 8 und 9 Zeit.

(Martin Kayenburg [CDU]: Keine Leistungs- anforderungen! Das ist Spitze!)

(Dr. Henning Höppner)

Nach diesem Modell hat ein Hauptschüler die Möglichkeit, das Ziel eines Hauptschulabschlusses nach genauso langer Zeit wie bisher zu erreichen. Der Verzicht auf die Zurückstufung in den Jahrgangsstufen 7, 8 und 9 ist sinnvoll. Das bestätigen uns Hauptschulpädagogen. Er ist der sehr viel geeignetere Weg, einem schwächeren Hauptschüler zu einem Schulabschluss zu verhelfen.

(Zuruf der Abgeordneten Roswitha Strauß [CDU])

Dies widerspricht in keiner Weise den Bemühungen der Hauptschulen um Gewinnung eines Leistungsprofils und verhindert nicht die Einführung von Hauptschulabschlussprüfungen oder vergleichbaren Abschlussqualifikationen.

Uns allen ist doch hinreichend bekannt, dass eine Vielzahl von Hauptschülern nach einer bedenklichen Schulkarriere mit Schrägversetzungen und Klassenwiederholungen aufgrund der Schulbesuchsregelung der Hauptschule maximal das Ziel der Klasse 7 erreicht. Das hat bekanntermaßen zur Folge, dass es ein Schülerklientel gibt, das in seiner Schulzeit keine Chance hat, den Unterrichtsstoff der Klassen 7 und 8 überhaupt kennen zu lernen.

Wir sind der Auffassung, dass es pädagogisch sehr viel mehr Sinn macht, den leistungsschwächeren und den langsameren Schülern mehr Zeit zu geben, anstatt sie immer wieder zurückzusetzen und von vorn anfangen zu lassen.

(Beifall bei SPD, BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- NEN und SSW - Jürgen Weber [SPD]: Sehr gut!)

Zeit geben, liebe Kolleginnen und Kollegen, ist auch Förderung. Sitzenbleiben ist leider immer noch ein pädagogisches Zwangsprinzip, das von Eltern und Schülern eher als eine Form der Disqualifikation betrachtet wird. Wir haben hierfür die besseren Alternative. Es gibt überhaupt keinen wissenschaftlichen Zusammenhang - nach der PISA-Studie ohnehin nicht mit einem Nachweis darüber, dass das Sitzenbleiben ein unverzichtbares Element der Förderung von Leistungsschwachen sein muss. Das ist auf keinen Fall der Fall.

(Beifall bei SPD, BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- NEN und SSW)

Zu einem weiteren Kurzbeitrag nach § 56 Abs. 4 der Geschäftsordnung erhält der Herr Abgeordnete Dr. Klug das Wort.

Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Kollegin Anke Spoorendonk favorisiert die sechsjährige Grundschule. Ich erlaube mir, aus einem Forschungsbericht, im letzten Jahr vom Max-Planck-Institut für Bildungsforschung in Berlin veröffentlicht, zu zitieren. Da heißt es:

„Bei einem Vergleich der Schulleistungen in Mathematik, Englisch und Deutsch zeigten sich beträchtliche Leistungsnachteile bei den Kindern, die eine sechsjährige Grundschule (Berlin und Bremen) besucht hatten im Unterschied zu den Übergängern nach Klasse 4 in den anderen Bundesländern. Diese Unterschiede hatten sich auch am Ende der 7. Klasse noch nicht ausgeglichen.“

Wenn man sich den Befund des Berliner Max-PlanckInstituts - das ist ja das Institut, das auch die PISAStudie auswertet - einmal anschaut, dann kann man das Projekt „Sechsjährige Grundschule“, das Frau Kollegin Spoorendonk so toll findet, nicht befürworten.

(Beifall bei der FDP und vereinzelt bei der CDU)

Es ist auch kein Gegenbeweis, dass die dänische Minderheit bei ihren Schulen damit gute Erfahrungen gemacht hat. Mit einer Finanzierung in Höhe von 100 % der Kosten, die bei vergleichbaren staatlichen deutschen Schulen entstehen, sowie mit den Mitteln, die diese Schulen vom Königreich Dänemark bekommen, ist natürlich eine Ausstattung möglich, die vergleichbar positive Ergebnisse zeitigt. Eine solche Ausstattung sollten Sie mal für alle über 1.100 öffentlichen Schulen in diesem Land gewährleisten! Dann würde der Landeshaushalt aber endgültig platzen.

Zum nächsten Punkt, dem Antrag. Ich kann das Anke Spoorendonk nicht ersparen, obwohl sie mir schon finstere Vergeltung angedroht hat.

(Heiterkeit)

Sie beantragen, dass der Schleswig-Holsteinische Landtag die Landesregierung auffordert, im Schulgesetz eine Öffnungsklausel zur regionalen Einführung sechsjähriger Grundschulen zu schaffen. Diese Forderung des SSW möchte ich damit beantworten, dass ich darauf hinweise, dass im Zweifelsfall der Landtag als Gesetzgeber Gesetzesänderungen schafft. Wir sind als Fraktion und, Anke Spoorendonk, als einzelne Abgeordnete hinsichtlich der Gesetzesänderungen antragsberechtigt.

(Anke Spoorendonk [SSW]: Jawohl, Herr Professor!)

(Dr. Ekkehard Klug)

Man muss also nicht abwarten, bis die Regierung etwas schafft. So viel zum Thema politische Bildung in diesem Zusammenhang.

(Beifall bei der FDP - Anke Spoorendonk [SSW]: Ja! Vielen Dank!)

Da ich noch eine Minute Redezeit habe, möchte ich wenn auch nur stichwortartig - zwei Punkte ansprechen, die aus meiner Sicht in der bisherigen Debatte auch im Hinblick auf Konsequenzen aus der PISAStudie - noch nicht deutlich genug geworden sind. Zum einen geht es darum, wie wir erreichen, dass die Verantwortung der Eltern in größerem Umfang von allen wahrgenommen wird, als es bisher der Fall ist. Wir wissen, dass sich ein Teil der Eltern in der Erziehung ihrer Kinder in den ersten Lebensjahren und im Vorschulbereich nicht hinreichend für die Förderung der Kinder einsetzt. Natürlich hat das vielfach auch mit sozialen Problemen zu tun. Es stellt sich daher die Frage, in welchem Umfang der Staat über Fördermöglichkeiten, über Information und Beratung sowie über andere Hilfestellungen tätig werden kann, um zu erreichen, dass nicht bereits in den ersten Lebensjahren Entwicklungschancen verbaut werden, die die Schule dann gar nicht mehr ausgleichen kann.

Neben diesem zentralen Punkt, um den es nach meiner Auffassung in der Diskussion um PISA gehen muss, ist der zweite der Folgende: Wie gestalten wir die Ganztagsangebote aus? Es ist ja erfreulich, dass der Bund Gelder gibt. Ich möchte mich aber wirklich sehr dafür einsetzen, dass es für die Länder Spielräume in der Ausgestaltung gibt. Es kommt sehr stark darauf an, welches Ganztagskonzept man umsetzt und wo man bei diesen Maßnahmen ansetzt. Darüber haben wir schon verschiedentlich diskutiert und wir sollten uns dieses Thema dann, wenn das Angebot aus Berlin ganz konkret auf dem Tisch liegt, noch einmal vornehmen.