Protokoll der Sitzung vom 20.06.2002

(Beifall des Abgeordneten Dr. Ekkehard Klug [FDP])

Das ist so, obwohl die Bezahlung dort - auch wenn ich dafür nun nicht werben will - erheblich niedriger ist als in Deutschland.

Davon können wir uns wirklich eine Scheibe abschneiden. Vor allen Dingen können wir uns deswegen eine Scheibe abschneiden, weil das, was ich gemeint habe, das Lern- und Leistungsklima, in dieser Gesellschaft dort stimmt, weil man in diesem kleinen Volk, mit dem wir uns wahrlich nicht vergleichen können, weiß, dass Bildung die einzig wirkliche Chance ist, dass sie die einzige wirkliche Ressource ist, die sie haben. Daraus resultieren diese Anstrengung und diese Leistungsbereitschaft.

(Beifall des Abgeordneten Dr. Ekkehard Klug [FDP])

Aber es gibt auch dort Probleme. Diese wurden mir jedenfalls bei meinem Besuch nicht verschwiegen. Es gibt ein großes Auseinanderfallen der Leistungen zwischen den einzelnen Schulen wegen der unterschiedlichen Finanzkraft der Kommunen. Ferner möchte ich Folgendes nennen: 15 % der Schüler gehen nach der 9jährigen Gesamtschule weder auf das Gymnasium noch in eine berufliche Bildung. Diese Probleme wurden offen dargestellt; das fand ich sehr sympathisch.

Ich sage nicht, dass wir unsere Ziele schon erreicht haben; ich stelle mich hier auch nicht hin und sage: Wir machen alles richtig. Aber ich glaube, dass der Weg, den wir eingeschlagen haben, grundsätzlich richtig ist.

(Vereinzelter Beifall bei der SPD)

Wir setzen auf mehr Eigenständigkeit und mehr Eigenverantwortung bei gleichzeitiger Kontrolle von außen. Wir haben ein, so glaube ich, wirklich effizientes Maßnahmenbündel zur Qualitätssicherung vorgelegt. Dessen Umsetzung steht noch am Anfang. Aber der Weg ist richtig. Auch glaube ich, dass es zunehmend wichtiger wird, dass sich die Schulen für ihr Umfeld öffnen. Schauen Sie sich einmal die regionalen PISA-Foren an, die sich jetzt eigenständig bilden, die zum Teil eigene Ergebnisse vorlegen. Das ist gesellschaftliches Engagement für Schule. Ich glaube, das müssen wir wecken;

(Beifall bei SPD und BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

wir müssen die Eltern und das Umfeld von Schule mit einbeziehen. Wir dürfen nicht immer nur auf die Lehrer und den Unterricht schauen.

Nun zu dem Antrag. Er enthält viele Vorschläge, die zu diesen Zielen führen. Teilweise setzen wir sie schon um; teilweise sind sie in dem Antrag nicht enthalten. Bei einem Teil dieser Vorschläge ist wirklich eine intensive Diskussion mit Experten erforderlich. Etwa bedarf die Einführung von landesweiten oder länderübergreifenden Standards einer sorgfältigen fachlichen Vorarbeit: Aufgabenpools müssen erstellt werden; Testaufgaben müssen geeicht werden, damit eine Vergleichbarkeit überhaupt gegeben ist. Dieser Aufgabe stellt sich Schleswig-Holstein nicht erst seit heute; siehe die Hauptschulstandards. Das ist das wohl umfassendste und gründlichste Vorhaben der nächsten Jahre. Ich halte es zugleich für das wichtigste, um Qualität und eine Verbesserung der Leistung nachhaltig zu erzielen. Das ist ein Perspektivenwechsel hin zu mehr Leistungsorientierung und Leistungskontrolle. Dazu bekenne ich mich hier ausdrücklich.

(Beifall bei der FDP und vereinzelt bei der SPD)

Die einzelnen Punkte des Antrags kann ich wegen der Zeitknappheit nur kursorisch kommentieren. Die Zusammenarbeit zwischen vorschulischen Einrichtungen und Grundschule muss verbindlich geklärt werden. Wir arbeiten unter schwierigsten Haushaltsbedingungen - das muss ich natürlich ehrlicherweise hier auch sagen - daraufhin, feste Grundschulzeiten zu ermöglichen. Das wird nur mit Ressourcenverlagerung gehen. Das Ziel ist nicht mehr Betreuung; das Ziel ist mehr Lernzeit und mehr Förderung in der Grundschule.

(Beifall bei der SPD und vereinzelt bei der CDU)

Im Zusammenhang mit der Orientierungsstufe will ich ganz klar sagen: Wir überprüfen die Schullaufbahnentscheidungen, wie sie bei uns ablaufen. Wir streben eine höhere Verbindlichkeit, aber auch gleichzeitig eine höhere Durchlässigkeit an. Das klingt fast wie die Quadratur des Kreises. Das ist auch ein schwieriges Unterfangen. Aber daran müssen wir arbeiten. Dabei ist die Beratungspflicht nur ein Element.

Zur Hauptschule. Wir dürfen es nicht zulassen, dass die Hauptschule weiter entwertet wird.

(Beifall bei SPD, CDU und FDP)

Wir haben Hauptschulstandards vorgelegt, die ab dem kommenden Schuljahr verbindlich sein werden. Wir

(Ministerin Ute Erdsiek-Rave)

werden die Hauptschulprüfung einführen und vor allem arbeiten wir an einer besseren Kooperation zwischen Hauptschulen und beruflichen Schulen.

Ich möchte Sie, Herr Dr. Klug, auffordern, das Sitzenbleiben hier nicht zu einem Hauptpunkt zu machen. Wenn Sie ehrlich sind, dann müssen Sie sowohl aus PISA als auch aus den praktischen Erfahrungen an den Schulen den Schluss ziehen, dass das pure Sitzenbleiben weder die Qualität der Leistung noch die Motivation verbessert, im Gegenteil.

(Beifall bei SPD, BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- NEN und SSW - Dr. Ekkehard Klug [FDP]: Reden Sie einmal mit den Schulleitern, was die davon halten!)

Wir müssen uns schon ein wenig anstrengen und uns etwas anderes einfallen lassen. Einfach nur zu sagen: „Das Sitzenbleiben muss als pädagogische oder sonstige Maßnahme erhalten bleiben“, das ist mir, mit Verlaub, bildungspolitisch ein bisschen zu mager.

(Vereinzelter Beifall bei der SPD)

Nun zu der Frage der Sprachvermittlung und der Integration. Dazu ist hier heute wenig gesagt worden. Es ist ein sozialer Sprengsatz erster Güte, wenn wir uns um die Kinder von Migranten nicht besser kümmern, als wir das bisher in Deutschland insgesamt getan haben. Da kann sich kein Bundesland herausstehlen. Wir müssen schon lange vor der Anmeldung für die Schule eine Sprachstandsfeststellung vornehmen. Wir müssen daraus dann natürlich auch Konsequenzen ziehen. Die Schulanmeldung ist übrigens der einzige Zeitpunkt, an dem man außerhalb des Kindergartens an alle Kinder und Eltern herankommt. Die Eltern, die ihre Kinder nicht in den Kindergarten schicken, kommen über die Schulanmeldung das erste Mal mit Schule, mit Erziehung überhaupt in Verbindung. Diesen Zeitpunkt müssen wir nutzen und dann daraus auch Konsequenzen ziehen.

Frau Ministerin, denken Sie etwas an Ihre Redezeit.

Frau Präsidentin, ich komme zum Schluss. - Zu den Ganztagsangeboten kann ich mich dann hier nicht weiter äußern. Aber eines will ich doch loswerden: Herr Dr. Klug hat ja dankenswerterweise das Programm der Bundesregierung begrüßt. Ich appelliere dann auch an die Union - Sie haben ja in Ihrer Politik im letzten Jahr einen Perspektivenwechsel vollzogen; das erkennen wir ja durchaus an -: Reden Sie doch einmal mit Ihren Kollegen in den anderen Bundeslän

dern und sorgen Sie dafür, dass es eine breite Unterstützung gibt und dass es den gemeinsamen Willen gibt, mit dem Geld, das jetzt kommen soll, auch etwas zu tun. Was soll denn jetzt dieser Hickhack im Wahlkampf um diese Frage? Das ist doch wirklich absurd.

(Beifall bei der SPD und vereinzelt bei BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

Es gibt viel zu tun, für die schwächeren Schüler und auch für unsere Leistungsspitze - da gebe ich Ihnen vollkommen Recht -, und zwar in allen Schularten. Ich will aber auch ein wenig zur Besonnenheit mahnen. Schule ist ein komplexes soziales System, bei dem man nicht einfach einen Hebel umlegen oder das eine oder andere hinzufügen kann, und schon übermorgen ist alles prima. Am Jahresende werden wir die landesspezifische PISA-Auswertung bekommen, also die für Schleswig-Holstein. Ich bin sicher: Die Debatten darum und um die Konsequenzen, die wir daraus ziehen müssen, werden uns so schnell nicht loslassen. Ich muss Ihnen ehrlich sagen: Ich bin wirklich froh darüber, weil Bildung und die Diskussion um die Grundlagen endlich den Stellenwert in der öffentlichen Debatte bekommen haben, den sie verdienen.

(Beifall bei SPD und BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und der Abgeordneten Anke Spoo- rendonk [SSW])

Lassen Sie mich bei allem Verständnis für die Schwierigkeit mancher Materie doch darum bitten, dass in der Vorbereitung der Landtagssitzung realistische Redezeiten angemeldet werden.

(Lothar Hay [SPD]: Das liegt am Ältesten- rat!)

- Dessen Mitglied Sie sind, Herr Abgeordneter Hay.

(Beifall bei der FDP)

Ich erteile jetzt nach § 56 Abs. 6 das Wort dem Herrn Abgeordneten Hentschel.

Sehr geehrte Damen und Herren! Sehr geehrte Frau Präsidentin! Ich möchte auf einen Punkt eingehen, der mir in der Debatte zentral erscheint, wobei ich sicherlich zugeben möchte, dass die Diskussion über PISA noch Jahre dauern wird. Das muss sie auch. Ich bin froh darüber, dass wir endlich eine solche Diskussion führen. Man baut ein Bildungssystem nicht von heute auf morgen um. Ein Punkt, der mir aufgefallen ist und der mich persönlich extrem überrascht hat, als ich mir die internationale Studie durchgelesen habe - ich wür

(Karl-Martin Hentschel)

de mir wünschen, dass andere, die zu diesem Thema reden, sich das Buch, diese ausführliche Dokumentation auch selber einmal zu Gemüte führen -, ist das Thema leistungshomogene oder leistungsheterogene Gruppen.

(Vereinzelter Beifall bei BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

Dieses Thema ist das Kernthema bei der Frage: Ist das dreigliedrige Schulsystem leistungsfähig oder nicht? Es ist ja im internationalen Vergleich ausgesprochen überraschend, dass alle Länder, die auf den ersten zehn Spitzenplätzen liegen, eine Gesamtschule oder, besser gesagt, eine einheitliche Schule haben. Das ist keine Gesamtschule nach deutschem Typ; ich will den Begriff nicht missbrauchen. Diese einheitliche Schule, die sie haben, geht etwa bis zum 15., zum 16. Lebensjahr. Dieses Ergebnis ist überraschend. Man fragt sich: Warum ist das so? Was ist eigentlich das Problem? Was können die Ursachen sein?

Mir ist Folgendes aufgefallen: Unser System, wenn ich es mit Finnland und den Dingen, die ich dort gesehen habe, vergleiche, ist sehr stark davon geprägt, dass Schüler, mit denen in der Schule Probleme auftreten, nicht gefördert und betreut werden, sondern dass man sie sitzen lässt oder dass man eine Querversetzung auf eine andere Schule vornimmt, vom Gymnasium auf die Realschule, von der Realschule auf die Hauptschule. Diese Erfahrungen, die immerhin ein Drittel aller Schüler machen, sind extrem negativ. Sie nützen nach den Aussagen von Fachleuten nichts und bringen die Schüler nicht weiter. Vielmehr demotivieren sie sie lediglich und sie beschädigen die Schüler in Bezug auf ihr späteres Verhältnis zu Bildung.

Ferner möchte ich noch die Theorie nennen, die wir immer gehabt haben, von der ich persönlich auch immer geglaubt habe, dass sie richtig ist - auch aus Gesprächen mit Lehrern -, die besagt, dass Klassen, die homogen sind, die also etwa einen Leistungsstand haben, die Kinder besser fördern können als Klassen, die einen unterschiedlichen Leistungsstand aufweisen.

(Vereinzelter Beifall bei BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

Es gibt aber nun erstaunliche Erfahrungen dieser internationalen Studie, die sich auf Länder beziehen, die heterogene Klassen haben. In Finnland kann man das sehr gut sehen. Dort sitzen alle Leistungsgruppen, vom Sonderschüler bis zum Gymnasiasten, bis zum 16. Lebensjahr in einer Klasse. Es bleibt niemand während dieser ganzen Zeit sitzen.

(Sylvia Eisenberg [CDU]: Mit einer Förde- rung, nach der Sie sich nur die Finger lek- ken!)

Ich betone: Es bleibt niemand in der ganzen Zeit sitzen.

Das Problem ist nicht, dass in Finnland mehr Stunden Unterricht erteilt werden. Finnland hat erstaunlicherweise weniger Schulstunden als Deutschland. Das hat mich auch überrascht. Das Problem ist nicht, dass die Schulen in Finnland besser ausgestattet sind. Diejenigen, die ich gesehen habe, waren nicht besser ausgestattet als deutsche Schulen. Das Problem ist nicht, dass die Lehrer besser bezahlt werden. Die Lehrer bekommen dort ein Drittel weniger Gehalt als bei uns. Das Problem ist auch nicht, dass eine hohe Leistungsorientierung im Gegensatz zu uns existiert. Es ist vielmehr so, dass es in der Regel bis zum sechsten Schuljahr und teilweise sogar noch darüber hinaus gar keine Zeugnisse gibt.

In Finnland herrscht ein völlig anderes Klima an den Schulen. Eltern, Schüler und Lehrer arbeiten gemeinsam daran, dass ihre Kinder erfolgreich ins Leben gehen. Das hängt mit der Gesamtstruktur der Schulen zusammen. Es hängt damit zusammen, dass keine Schule schwache Schüler abschieben kann. Kein Lehrer kann sich darüber beklagen, dass seine Schüler nichts taugen. Alle gemeinsam haben nur ein Ziel, nämlich die Kinder, die sie nun einmal haben und die in der Klasse sind, gemeinsam zu fördern und voranzubringen. Über einen ganz erstaunlichen Effekt wird immer wieder berichtet: Die starken Schüler bringen die schwachen Schüler voran. Das heißt, die schwachen Schüler lernen von den starken Schülern. Sie motivieren sich gegenseitig. Die starken Schüler werden motiviert, weil sie gut sind. Starke Schüler, die nicht ganz an der Spitze sind - Schüler, die bei uns zum Beispiel im Gymnasium die Letzten sind -, gehören dort aber zu den guten Schülern und werden mehr motiviert, als es bei uns der Fall ist. Die Frage der gegenseitigen Motivation ist also sehr wichtig.

Sie haben allerdings in der Tat Recht, wenn Sie sagen, dass die Fördermaßnahmen anders sind. In Finnland ist es so, dass es zusätzliche Fördermaßnahmen gibt. Wenn die Schüler schwach sind, bleiben sie nicht sitzen und sie werden auch nicht auf eine andere Schule abgeschoben. Man überlegt vielmehr, welche zusätzlichen Fördermaßnahmen man ergreifen kann, um die Schüler weiterzubringen. Dies setzt allerdings auch - dessen müssen wir uns ebenfalls bewusst sein eine völlig andere Art von Unterricht voraus. Kein normaler Lehrer in Deutschland - mit Ausnahme von einigen Grundschullehrern oder Hauptschullehrern, die auf dem Lande noch Klassen mit mehreren Jahrgangsstufen haben - ist es gewohnt, heute noch Kinder mit sehr unterschiedlichem Leistungsniveau gemeinsam zu unterrichten, einen Unterricht zu gestalten, der für alle

(Karl-Martin Hentschel)