Protokoll der Sitzung vom 02.04.2003

Ich erteile der Frau Ministerpräsidentin das Wort.

Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Es herrscht Krieg. Schon seit fast zwei Wochen ist Krieg im Irak. Bilder der Zerstörung, Bilder der Opfer gehen um die Welt und werden uns abends in unsere Wohnstuben geliefert. Fakten über das verbrecherische Regime des Saddam Hussein erschrecken uns. Aber wir fühlen, dass im Moment nicht das Regime den Preis bezahlt, sondern das irakische Volk. Die Hilfsorganisationen sind hilflos. Dutzenden von Organisationen mussten den Irak bereits vor dem Krieg verlassen und können heute nicht helfen. Die anlaufende Versorgung durch das Militär ist unzureichend und nicht fachkundig.

Ich hatte das Gefühl, dass wir alle uns einig waren: Der Kriegs ist die falsche Antwort. - Die Mehrheit der Deutschen ist auch dieser Meinung.

(Ministerpräsidentin Heide Simonis)

Es gab keinen Grund, den Abrüstungsprozess im Irak abzubrechen. Es gab noch Hoffnung auf eine friedliche Abrüstung. Die Inspektoren waren mit ihrer Arbeit noch nicht am Ende; nein, es sah sogar so aus, als hätten sie ihren Auftrag immer erfolgreicher ausführen und ihn auch zu Ende bringen können, wenn man ihnen die Zeit gelassen hätte.

(Beifall bei SPD, BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- NEN und SSW)

Ich halte den Angriff auf den Irak für nicht von der Resolution 1441 gedeckt. Ich glaube auch, dass sich die USA mit diesem Krieg keinen Gefallen tun. Am Ende werden sie vielleicht einen Krieg gewonnen, aber das Ansehen in der Welt aufs Spiel gesetzt haben. Das zu konstatieren, schmerzt, denn die Mehrzahl unserer Bevölkerung schätzt das amerikanische Volk, sie schätzt die Fähigkeit der Amerikaner, auch aus schwierigen Situationen mutig nach vorn zu starten. Unsere Kinder wollen in Amerika studieren oder ein Schuljahr dort verbringen. Einige von uns erinnern sich noch an Carepakete, Rosinenbomber und den Mut der Amerikaner, dem geteilten, am Boden liegenden Deutschland wieder den Weg in die demokratische Staatengemeinschaft zu ebnen.

(Beifall bei SPD und SSW)

Aber, meine sehr verehrten Damen und Herren, es bleibt die Frage, wer Osama bin Laden oder Saddam Hussein über die Jahre groß gemacht und aufgerüstet hat nach dem Motto: Der Feind meines Feindes ist mein Freund. Dieses Moment der Instabilität der amerikanischen Außenpolitik verunsichert viele von uns. Man kann sich nicht darauf verlassen, wer morgen „Feind“ und „Freund“ ist.

Wie die Dinge stehen, meine sehr verehrten Damen und Herren, werden die ökonomischen und ökologischen Folgen für die Menschen, die in der Region leben, in der jetzt Krieg ist, schrecklich sein. Der Krieg wird gegen den Willen der UNO geführt, und die amerikanische oder auch die englische Vorstellung, dass nun die UNO die Kosten für die Versorgung der Bevölkerung zu übernehmen habe, ist schon ein bisschen komisch. Ich jedenfalls sähe große Probleme, würde sich das Motto durchsetzen: Wir richten uns die Welt danach ein, wie wir es gerne hätten, und die Völkergemeinschaft übernimmt sozusagen in der zweiten Linie die Versorgung der Verwundeten und Verletzten.

Wir unterstützen die Haltung der Bundesregierung, dass Deutschland sich nicht an diesem Krieg beteiligt.

(Beifall bei SPD und BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

Krieg ist keine Lösung für den Nahen und Mittleren Osten. Er ist nirgendwo eine Lösung. Krieg löst keine Probleme, er schafft neue. Hoffen wir, dass wir nicht Zeuge werden, wie dieser Krieg die Situation im Nahen Osten destabilisiert und noch gefährlicher macht. Schon heute gleicht sie stellenweise einem Pulverfass, und die Regierungen dort haben alle Hände voll zu tun, um den gefährlichen Funken der Solidarisierung mit dem Regime in Bagdad nicht überspringen zu lassen.

Aber was uns am meisten betroffen macht, meine sehr verehrten Damen und Herren, ist, dass auch dieses Mal wieder die Falschen am meisten getroffen werden. Die Hauptbetroffenen des Krieges sind die Zivilisten, unter ihnen ganz besonders Kinder, Frauen und alte Menschen. Ich habe in Afghanistan erschütternde Bilder des Elends, der Verwahrlosung von Kindern, der Verelendung von Müttern und von alten Menschen gesehen. Dasselbe wird auch im Irak wieder vorkommen. UNICEF warnte bereits vor einigen Wochen, dass die Kinder gefährdet seien. Hunderttausende sind schon seit vielen Jahren unterernährt, die Kindersterblichkeit ist auf das unterste Niveau afrikanischer Entwicklungsländer gesunken. Die Kinder sind extrem anfällig für Krankheiten, die durch mangelnde Wasserversorgung um sich greifen. - Das können wir sehen. Die seelischen Schäden können wir jedoch nicht sehen. Sie werden bei manchem das ganze Leben lang bleiben. Kinder leiden bereits seit ihrer Geburt. Es gibt eine Generation von jungen Menschen, die im Irak leben und nur Krieg erlebt haben. Sie leiden seit ihrer Geburt unter dem System des Saddam Hussein.

Vor dem Waffengang versorgte das UN-Welternährungsprogramm rund 22 Millionen der 23 Millionen Iraker mit Lebensmitteln. Das muss man sich einmal vorstellen: Ein Land, das auf Öl sitzt, muss seine Bevölkerung im Grunde genommen durchgängig von Dritten ernähren lassen.

(Zuruf des Abgeordneten Dr. Trutz Graf Kerssenbrock [CDU])

- Ja, natürlich. Aber diese Sanktionen sind Folge eines Verhaltens. Sie sind ja nicht vom Himmel gefallen, meine sehr verehrten Damen und Herren.

(Beifall bei SPD und BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

Es ist auch richtig, dass es dieses Programm gibt.

(Dr. Trutz Graf Kerssenbrock [CDU]: Ja! - Weitere Zurufe)

Aber man muss sich einmal vorstellen, dass sich ein Land selber und durch Hilfe von außen in die Situati

(Ministerpräsidentin Heide Simonis)

on gebracht hat, dass es, wie gesagt, fast seine ganze Bevölkerung durch Dritte ernähren lassen muss.

(Dr. Heiner Garg [FDP]: Sie sollten jetzt noch sagen, durch wen!)

Sie hätten es selber schaffen können und wir hätten ihnen dabei helfen müssen, es selber zu schaffen.

Für das Programm „Öl für Nahrung“ gab es rund 40.000 Ausgabestellen. 2.500 Kalorien erhielt jeder Iraker und jede Irakerin pro Tag. Dieses Programm ist seit dem 18. März abgebrochen. Wie das Volk sich heute ernährt? Wir wissen es nicht. Wir wissen nur, dass die UN-Mitarbeiter berichten, viele der auf Vorrat ausgegebenen Lebensmittelrationen seien verkauft worden, weil die große Mehrheit des Volkes durch das 13-jährige Embargo vollkommen verarmt sei. UNICEF geht davon aus, dass die Vorräte nur noch für vier Wochen reichen. Die Hilfsorganisationen sprechen von einer humanitären Katastrophe. Der Einsatz, und zwar der schnelle Einsatz dieser Organisationen in Krisen- und Kriegsgebieten ist für die betroffenen Menschen überlebensnotwendig. Zwar sind die Zeltstädte der UN an den Grenzen zu Jordanien und zum Iran aufgestellt, aber den Flüchtlingen ist der Weg dorthin zu gefährlich und es gibt Berichte darüber, dass sie von der Geheimpolizei an der Flucht gehindert werden. Wir können also nur hoffen, dass es den Helferinnen und Helfern bald gelingt, ihre Arbeit im Irak wieder aufzunehmen.

Aber auch die Bilder der angsterfüllten Gesichter der US-Gefangenen Zeugen von Not. Es gibt Presseberichte über junge verwundete amerikanische Soldaten, die nach ihren eigenen Auskünften vollkommen verwirrt sind, weil sie nicht gewusst haben, was sie erwartet, weil ihre Regierung ihnen vorgegaukelt hat, der Blitzkrieg sei klinisch sauber und in drei Tagen zu Ende, Menschen würden verschont, das irakische Volk werde jubelnd am Straßenrand stehen, um die Retter zu begrüßen. Nichts von dem ist eingetreten.

Meine sehr verehrten Damen und Herren, wir sind alle betroffen, wir alle hier in Schleswig-Holstein und darüber hinaus. Bürgerinnen und Bürger machen sich jeden Tag Gedanken darüber, was passieren kann. Deswegen bitte ich Sie, meine sehr verehrten Damen und Herren, mitzuhelfen, für die Hilfsorganisationen Geld- und Sachspenden zu organisieren.

Das Volk der Iraker erlebt in 20 Jahren nunmehr den dritten Krieg und die Herrschaft eines Furcht erregenden und fürchterlichen Despoten. Viele Deutsche haben noch Erinnerungen an den letzten europäischen Krieg vor 60 Jahren und wissen, was Krieg wirklich bedeutet, was von der Verwundung der menschlichen Seele bei kriegerischen Auseinandersetzungen zeugt.

Wir müssen uns also darauf vorbereiten, dem Land und seiner Bevölkerung schnell und wirksam zu helfen, und wir müssen als eine stabile Demokratie dem geschundenen Irak helfen, eine eigene Demokratie aufzubauen und zu stabilisieren. Das wäre übrigens auch eine Frage an die Exil-Iraker, die sehr damit beschäftigt sind, sich gegenseitig von dem Stuhl, auf dem sie noch keineswegs sitzen, herunterzuschubsen, anstatt gemeinsam und kraftvoll gegen die Regierung in Bagdad aufzutreten.

(Beifall bei SPD, BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- NEN und SSW)

Für unsere Soldaten, die in Kuwait und Afghanistan ihren Dienst tun, und zwar einen Friedensdienst tun, wünsche ich, dass sie bald gesund zu ihren Familien zurückkehren können. Ich glaube, ich spreche im Namen aller, wenn ich sage: Wir alle wünschen uns, dass der Krieg bald, und zwar lieber heute als morgen, zu Ende ist.

(Beifall bei SPD, FDP, BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und SSW)

Vor der nächsten Worterteilung will ich weitere Gäste begrüßen. Auf der Tribüne haben Schülerinnen, Schüler und Lehrkräfte des Alexander-von-HumboldtGymnasiums, Neumünster - sozusagen die zweite Rate -, sowie Schülerinnen, Schüler und Lehrkräfte der Kaiser-Karl-Schule, Itzehoe, Platz genommen. - Herzlich willkommen!

(Beifall)

Zu einem Kurzbeitrag nach § 56 Abs. 4 unserer Geschäftsordnung erteile ich Herrn Abgeordneten Kubicki das Wort.

Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Ich habe mich nach dem Redebeitrag des Kollegen Hentschel noch einmal zu Wort gemeldet, weil ich ihn bitten will, über einige seiner Formulierungen noch einmal nachzudenken.

Herr Kollege Hentschel, niemand von uns - jedenfalls niemand aus der FDP-Fraktion - will die NATO auflösen oder will den Austritt Deutschlands aus der NATO oder aus europäischen oder Weltorganisationen. Wir wollen das genaue Gegenteil. Wir wollen die Stärkung der multinationalen Einrichtungen, um Alleingänge, von welchen Nationen auch immer, künftig zu verhindern. Aber, Herr Kollege Hentschel, wenn Sie sagen, Sie teilten unsere Auffassung, dass das, was derzeit passiert, völkerrechtswidrig sei,

(Wolfgang Kubicki)

gleichzeitig aber sagen, sie wollten das nicht im Rahmen einer Resolution zum Ausdruck bringen, weil es Konsequenzen auslösen könnte, die Sie nicht überblicken, dann frage ich mich, welche Position Sie eigentlich einnehmen. Entweder Sie sind der Auffassung, es ist völkerrechtswidrig. Dann erwarte ich, dass Sie das sagen und sich auch entsprechend verhalten.

(Beifall bei der FDP und des Abgeordneten Dr. Trutz Graf Kerssenbrock [CDU])

Oder aber, Sie sind dieser Auffassung nicht. Bei einer solchen Frage nehmen uns die Menschen nicht ab, dass wir zwischen unserer eigenen Haltung und dem differenzieren, was hieraus möglicherweise an politischen Konsequenzen resultieren kann.

(Thorsten Geißler [CDU]: Das hat den Grü- nen noch nie geschadet!)

- Herr Kollege Geißler, ich will nicht polemisch werden und ich will auch keinen Angriff starten. Vielmehr muss man hierüber nachdenken. Ich kann nicht fordern, dass sich andere an das Recht halten, wenn bei uns die Forderung, sich an das Recht zu halten, im Rahmen einer Resolution nicht durchgesetzt wird, weil wir glauben, das hätte Konsequenzen, die wir politisch nicht wollen können.

(Beifall bei FDP und SPD)

Damit keine unklaren Fragen im Raum bleiben, Herr Kollege Hentschel, meine lieben Kolleginnen und Kollegen: Das Bundesverfassungsgericht hat einen Eilantrag der FDP abgelehnt, dabei aber eine Reihe sehr interessanter Fragestellungen aufgeworfen und inzidenter bereits eine prinzipielle Antwort auf eine ganz wichtige Frage gegeben. Ich bitte Sie alle, die Begründung dieses Beschlusses einmal nachzulesen. Das Bundesverfassungsgericht hat nämlich die Frage aufgeworfen, wann eigentlich ein Angriffskrieg beginnt, und hat erklärt, da heute, anders als noch vor 50 oder 60 Jahren, ein Krieg nicht dadurch beginne, dass man eine Kriegserklärung abgebe, sondern dass er sich schleichend entwickle, müsse verfassungsrechtlich die Frage geklärt werden, wann der Übergang von einem Verteidigungskrieg zu einem Angriffskrieg gegeben sei. Das Bundesverfassungsgericht hat in der gleichen Passage formuliert, wenn aber ein Angriffskrieg vorliege, sei die Beteiligung Deutschlands daran von Verfassungs wegen untersagt.

Ich sage eindeutig: Wenn ich zu der Überlegung komme - und zu der komme ich -, dass der Krieg der Vereinigten Staaten und Großbritanniens ein Angriffskrieg gegen den Irak ist, dann heißt das für mich

konsequenterweise auch, dass sich deutsche Soldaten in keiner Form hieran beteiligen dürfen.

(Beifall bei FDP und SSW)

Für mich persönlich heißt das konsequenterweise auch, dass die deutschen Soldaten von Verfassungs wegen aus den Awacs-Maschinen zurückgezogen werden müssen.