Protokoll der Sitzung vom 17.09.2009

- Ich freue mich, dass ich bei Ihnen so viel Aufregung verursache, denn die Art, wie Sie sich vorhin hämisch über Arbeitslose lustig gemacht haben, ist schlicht eine Unverschämtheit.

(Beifall bei FDP und CDU - Zurufe von der SPD)

Die Einführung des Mindestlohns in das bestehende System der sozialen Grundsicherung ist daher nicht nur arbeitsmarktpolitisch kontraproduktiv, sondern verschärft die Probleme der Armutsbekämpfung.

Ein weiterer Punkt muss aus meiner Sicht noch angesprochen werden. Im Gegensatz zu anderen Ländern haben wir in Deutschland eine im Grundgesetz festgelegte Tarifautonomie. Die Tarifpartner, also die Gewerkschaften und die Arbeitgeber, legen die jeweiligen Löhne für die unterschiedlichen Branchen und Regionen beinahe jährlich fest. Den Gesetzgeber über Entgelte entscheiden zu lassen, schwächt die Tarifautonomie und nimmt Betrieben die Flexibilität. In welcher Höhe wollen Sie den Mindestlohn eigentlich festlegen? Wenn man den ursprünglichen SPD-Antrag zur Grundlage nimmt, dann gibt es eine Summe, auf die man sich festlegen soll. Nimmt man den Antrag von SPD, BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und SSW, dann soll die Wissenschaft erst eine Empfehlung über die Höhe des Mindestlohns abgeben. Was glauben Sie eigentlich, warum es der Wissenschaft in den vergangenen Jahren nicht gelungen ist, eine solche Empfehlung abzugeben?

Jetzt heißt es in der Begründung, der Mindestlohn müsse so hoch sein, dass man sich davon ernähren könne. Was heißt das konkret? Interpretiert man das Existenzminimum - und das ist wohl gemeint als den Bedarf, der im Sozialgesetzbuch festgelegt

ist, dann muss ein Alleinstehender über 629 € im Monat verfügen können. Das sind die Unterkunftskosten in Höhe von 270 € und 359 € ALG II. Um dieses Nettoeinkommen mit einer Erwerbstätigkeit in Vollzeit - also 38 Stunden pro Woche - zu verdienen, reicht ein Bruttoarbeitslohn von 4,14 €. Wollen Sie den jetzt als Mindestlohn definieren lassen? Setzt man das Existenzminimum nicht beim Bedarf an, sondern beim Einkommen, bei dem kein Anspruch mehr auf ergänzendes ALG II besteht, erhöht sich der benötigte Bruttolohn auf 6,50 € bis 10 €. Für Familien ergäbe sich ein Betrag von bis zu 14 €. Das heißt, es lässt sich überhaupt kein einheitlicher Lohn festlegen, mit dem Bedürftigkeit vermieden werden könnte, da dies nun einmal auch von Arbeitszeit, Haushaltsgröße und von weiteren Einkommensquellen abhängig ist.

Ich darf im Übrigen an dieser Stelle auf das Urteil des Landesarbeitsgerichts Hamm vom 18. März 2009 hinweisen. Nach diesem Urteil ist im nordrhein-westfälischen Einzelhandel ein Lohn unter 8,21 € die Stunde sittenwidrig. Würde also der vom DGB geforderte flächendeckende und gesetzlich festgelegte Mindestlohn von 7,50 € im Einzelhandel in Nordrhein-Westfalen angewandt, würden sittenwidrige Lohne gezahlt, und zwar gesetzlich bindend.

(Beifall bei FDP und CDU - Zurufe von der SPD)

Ein gesetzlich festgeschriebener flächendeckender Mindestlohn ist ungeeignet. Mit seiner Hilfe können individuelle Notlagen eben nicht zielgenau behoben werden. Selbst bei einem Mindestlohnniveau von 10 € wären Familien noch auf ergänzende Transferleistungen angewiesen. Es muss trotzdem immer ein System der Mindesteinkommenssicherung im Hintergrund bleiben. Wäre es nicht viel sinnvoller, von vornherein ein Mindesteinkommen statt eines Mindestlohns zu gewährleisten? Wäre es nicht sinnvoller, die von den Tarifparteien ausgehandelten Löhne durch staatliche Mittel aus dem Steuersystem für den Arbeitnehmer oder die Arbeitnehmerin aufzustocken?

Die FDP will ein Mindesteinkommen statt eines Mindestlohns gewährleisten, indem marktgerechte Löhne durch staatliche Mittel aus dem Steuersystem für den Arbeitnehmer mit der Hilfe des Bürgergeldes aufgestockt werden können. Damit können sich weiterhin Löhne in der Autonomie von Arbeitgebern und Gewerkschaften bilden. Im Gegensatz zu Ihnen, Herr Dr. Stegner - selbsternannter Arbeiterführer der Nation -, nehmen wir die grundgesetz

(Dr. Heiner Garg)

lich verankerte Tarifautonomie ernst, und wir wollen an ihr auch nicht rütteln, Herr Dr. Stegner.

(Beifall bei FDP und CDU)

Auch das können wir gern gleich per namentlicher Abstimmung feststellen.

Ich stelle fest: Ihr Antrag zur letzten Plenarsitzung hier ist ein reiner Schauantrag, damit Sie sich hier noch einmal wie ein Maikäfer ganz groß aufpusten können, damit Sie hier noch einmal das, was Sie schon immer einmal sagen wollten,

(Zuruf des Abgeordneten Dr. Ralf Stegner [SPD])

loswerden können. Ich freue mich sehr, wenn Sie bei der konstituierenden Sitzung dann den Oppositionsführer, den Sie ja schon so kraftvoll geben, für die nächsten fünf Jahre in diesem Landtag spielen dürfen.

(Beifall bei FDP und CDU - Zurufe von der SPD)

Für die Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN erhält nun Frau Abgeordnete Monika Heinold das Wort.

(Zuruf des Abgeordneten Karl-Martin Hent- schel [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Wir wollen mal zur Sachlichkeit zurückkehren! - Lachen bei der CDU)

Um sachlich zu bleiben, sage ich nicht: „Liebe Maikäfer“, denn ich glaube, es gibt mehrere davon.

Kommen wir zur Sache: Es gibt in Deutschland 4,85 Millionen Erwerbstätige mit einem Stundenlohn von unter 7,50 €. 1,9 Millionen Erwerbstätige arbeiten sogar für einen Stundenlohn unter 5 €. Trotz Arbeit sind diese Menschen arm. Von solchen Hungerlöhnen kann niemand würdevoll leben. Die Teilhabe am gesellschaftlichen Leben ist damit nicht gesichert. Soziale Ungerechtigkeit - auch Bildungsungerechtigkeit - wird so verfestigt.

Die Gewerkschaften konnten diese Entwicklung angesichts eines schlechten Organisationsgrades in vielen Dienstleistungsbranchen nicht aufhalten. Die Bundespolitik hat mit der Förderung von Miniund Midi-Jobs sowie der Ausweitung von Leiharbeit aktiv einen Niedriglohnsektor in Deutschland geschaffen.

Wenn man etwas an der Hartz-IV-Gesetzgebung kritisieren will und muss, dann ist es das, dass wir nicht gleichzeitig bei der Zusammenlegung von Arbeitslosen- und Sozialhilfe einen Mindestlohn geschaffen haben, um zu verhindern, dass Lohndumping stattfindet und der Steuerzahler aufstocken muss. Dies sage ich auch sehr selbstkritisch.

(Beifall bei BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und des Abgeordneten Dr. Ralf Stegner [SPD])

Gute Arbeit muss angemessen entlohnt werden, und zwar in der Regel vom Arbeitgeber. Menschen müssen von ihrer Arbeit leben und ihre Familien ernähren können. Wer arbeitet, muss ein höheres Einkommen haben, als wenn er von Transferleistungen lebt. Wir brauchen in Deutschland einen flächendeckenden gesetzlichen Mindestlohn. Wir brauchen einen klaren Lohndeckel nach unten, um Dumpinglöhne zu verhindern.

Die Einführung eines gesetzlichen Mindestlohns ist gerade für erwerbstätige Frauen von großer Bedeutung. In der Wirtschaft gibt es eine Lohndifferenz zwischen Frauen und Männern von 23 %. Das ist schreiend ungerecht.

(Beifall bei BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und SPD)

So groß wie in Deutschland ist der Abstand der Entlohnung von Männern und Frauen in keinem anderen europäischen Land. Das sollte uns zu denken geben. Einige Gründe für den geringen Arbeitslohn von Frauen sind, dass Frauen überproportional in Branchen mit schlechteren Löhnen arbeiten, dass sie relativ oft teilzeitbeschäftigt sind und dass Frauen in Führungspositionen immer noch viel zu selten sind.

(Angelika Birk [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- NEN]: Wohl wahr!)

An all diesen Stellen müssen wir nachbessern durch die Motivation junger Frauen, sich für die klassischen Männerberufe zu entscheiden, durch die flächendeckende Sicherstellung einer bedarfsgerechten Kinderbetreuung und durch gesetzliche Auflagen und Quoten, beispielsweise für die Besetzung von Aufsichtsräten.

(Beifall bei BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und der Abgeordneten Birgit Herdejürgen [SPD])

Wir Grüne fordern einen gesetzlichen Mindestlohn von 7,50 € wie auch ver.di. Uns geht es vor allem darum, endlich Schluss damit zu machen, dass es in

(Dr. Heiner Garg)

Deutschland Hungerlöhne von 4 oder 5 € pro Stunde gibt. Dieses Lohndumping muss der Vergangenheit angehören. Bei 7,50 € Stundenlohn und 170 Arbeitsstunden pro Monat kommt Frau oder Mann auf einen monatlichen Bruttolohn von 1.275 €. Das sind netto weniger als 1.000 €. Das ist alles andere als üppig, zumal daraus nur ein geringer Rentenanspruch entsteht und an den Aufbau einer zusätzlichen Alterssicherung mit diesem Gehalt überhaupt nicht zu denken ist.

Der Vorteil gesetzlicher Mindestlöhne ist, dass das zusätzliche Einkommen mit Sicherheit unmittelbar in den Konsum geht. Es wird nicht gespart werden und stärkt die Binnennachfrage.

Die FDP will ein Mindesteinkommen gewährleisten, indem marktgerechte Löhne, also Niedriglöhne, durch staatliche Mittel aus dem Steuersystem aufgestockt werden. Das ist der falsche Weg. Es würde falsche Anreize für die Arbeitgeber schaffen, nämlich den Anreiz, die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter niedrig zu entlohnen. Schließlich zahlt Vater Staat ja den Rest. Woher das Geld kommen soll, meine Herren von der FDP, da Sie gleichzeitig Steuersenkungen in großem Maß einfordern, bleibt völlig unklar.

(Beifall bei BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN, SPD und SSW)

Wir Grüne wollen, dass für alle Einkommen bis 2.000 € die Beitragssätze zur Sozialversicherung langsam und stufenlos ansteigen.

Für Geringqualifizierte sind hohe Lohnnebenkosten vom ersten Euro an ein hohes Beschäftigungshindernis. Durch niedrigere Lohnnebenkosten werden viele Jobs für diese Menschen überhaupt erst attraktiv - attraktiv aber auch für die Arbeitgeber, denn sie hätten dadurch auch eine Entlastung. Wir wollen, dass es zukünftig einen Mindestlohn gibt. Wir setzen uns für eine Mindestlohnkommission nach britischem Modell ein, bestehend aus Arbeitgebern, Gewerkschaften und Wissenschaft.

Natürlich ist uns bekannt, dass Bundestag und Bundesrat den Weg frei gemacht haben für Mindestlöhne in wichtigen Wirtschaftsbranchen. Das Arbeitnehmer-Entsendegesetz bietet einen Rechtsrahmen, um tarifvertragliche Mindestlöhne für alle Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer in der Branche verbindlich zu vereinbaren. Im Februar 2009 wurden sechs weitere Branchen in den Schutz des Arbeitnehmer-Entsendegesetzes aufgenommen: Pflegebranche, Sicherheitsdienstleistungen, Bergbauspezialarbeiten, Wäschereidienstleistungen, Abfallwirtschaft, Aus- und Weiterbildungsdienstleistun

gen nach dem Zweiten und Dritten Sozialgesetzbuch.

Das sind alles wichtige Einzelschritte. Ich hoffe wer immer in Berlin regiert; ich setze darauf -, dass diese wichtigen Schritte nicht rückgängig gemacht werden. Da appelliere ich auch an die rechte Seite des Hauses.

(Vereinzelter Beifall bei BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und SPD)

Damit hat sich aber die generelle Forderung nach einem flächendeckenden allgemeingesetzlichen Mindestlohn nicht erledigt. Er ist weiterhin dringend notwendig und steht auf unserer politischen Agenda.

Auch das Mindestarbeitsbedingungengesetz, das jetzt breit diskutiert wird, ist keine einheitliche flächendeckende Lösung, ersetzt nicht unsere Forderung. Man sieht ja, wie schwierig der Prozess schon jetzt anläuft.

Wir haben uns schon unter Rot-Grün in Berlin für Mindestlöhne eingesetzt. Die Sozialdemokraten waren damals noch nicht so weit. Erst nachdem nun auch die Gewerkschaften 2006 auf das Thema Mindestlohn eingeschwenkt waren, hat sich die SPD für einen gesetzlichen Mindestlohn stark gemacht. Das ist gut so. Damit können wir hier im Landtag heute diesen Antrag gemeinsam mit dem SSW verabschieden.

In 20 europäischen Staaten gibt es gesetzliche Mindestlöhne, ohne - das muss man in Deutschland immer wieder betonen - dass das kapitalistische Wirtschaftssystem ins Wanken geraten wäre, ohne dass die Marktwirtschaft zusammengebrochen wäre. Deshalb kann ich die ideologischen Vorbehalte von CDU und FDP gegen einen Mindestlohn nicht nachvollziehen. Christliche Nächstenliebe verträgt sich nicht mit Hungerlöhnen!

(Beifall bei BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN, SPD und SSW)

Es gibt schon lange eine gesellschaftliche Mehrheit für Mindestlöhne, denn viel zu viele Menschen haben die Erfahrung gemacht, was es heißt, viel zu arbeiten und zu wenig zu verdienen, um die Familie ernähren zu können. Das ist eine bittere Erfahrung. Deshalb freue ich mich, dass wir heute gemeinsam dem Antrag zustimmen werden. Meine Grünen in Berlin kämpfen sehr dafür, dass wir auch dort zu solchen Mehrheiten kommen, damit wir für den Mindestlohn in Deutschland eine Mehrheit haben.

(Monika Heinold)