Protokoll der Sitzung vom 23.02.2006

„Der Lohn muss in einem fairen Verhältnis zu dem Ertrag stehen, den der Arbeitgeber mit der Arbeitsleistung wirtschaftlich erzielen kann.“

Lieber Kollege Schulze, ich finde an „sozial“ gar nichts falsch. Ich finde diesen Satz bemerkenswert und richtig. Ich finde ihn nicht falsch. Soziale Gerechtigkeit ist für mich vor allem immer wieder die Frage, wie wir es schaffen, von der hohen Massenarbeitslosigkeit - vor allem von der hohen Langzeitmassenarbeitslosigkeit - herunterzukommen. Ich bin Ihnen dankbar dafür, dass Sie das in diesem Zusammenhang angesprochen haben, und zwar unabhängig davon, ob man für einen Mindestlohn votiert oder nicht. Wir alle müssen daran gehen, die Arbeitslosigkeit zu senken. Ich denke, wenn man unterschiedliche Konzepte hat, dann darf man diese auch strittig miteinander austragen. Kollege Harms, was man nicht darf, ist jemanden als asozial zu bezeichnen, der andere politische Vorstellungen zur Lösung drängender Probleme hat, so wie Sie das im „Flensborg Avis“ vom 16. Dezember 2005 auf der Seite 5 getan haben. Da bezeichnen Sie uns als „asoziale Neoliberale“. Ich finde, das ist keine richtige und angemessene Sprache in der politischen Auseinandersetzung. Es tut mir schrecklich Leid, ich finde, das ist an dieser Stelle nicht in Ordnung!

(Beifall bei FDP und CDU)

In Deutschland ist die Arbeitslosigkeit in den letzten 36 Jahren stetig gestiegen. Das Wachstum des Produktionspotenzials ist seit Mitte der 80er Jahre stetig gesunken und liegt bedauerlicherweise seit langem unter der Beschäftigungsschwelle. Die Arbeitslosigkeit geringer qualifizierter Menschen ist bei uns besonders hoch. Nach Angaben des Sachverständigenrates liegt die entsprechende Arbeitslosenquote in Westdeutschland bei 20 % und in Ostdeutschland bei über 50 %. Wir können das Ganze sozusagen mediengerecht auf einen ganz einfachen Satz reduzieren: In Deutschland herrscht Massenlangzeitarbeitslosigkeit, weil einfache Arbeit in Deutschland zu teuer ist. Auch deswegen bin ich Ihnen für dieses Papier ausgesprochen dankbar.

Ich glaube nicht, dass ein starrer Mindestlohn irgendetwas daran ändert. Ich glaube, das Gegenteil ist der Fall. Ich finde die Debatte, die zum Teil in Berlin stattgefunden hat, abenteuerlich. Dass man sich dort konkrete Zahlen um die Ohren schlägt, ist

albern. Das ist auch ökonomisch unsinnig. Ich glaube nicht, dass wir damit einem einzigen Langzeitarbeitslosen einen Gefallen tun, auch wenn es gut klingen mag, wenn wir einen Mindestlohn in Höhe X oder Y vereinbaren wollen.

(Beifall bei der FDP)

Herr Abgeordneter, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Herrn Abgeordneten Müller?

Herr Abgeordneter, verstehe ich Sie richtig, dass Sie das Konzept von Herrn Minister Döring als FDP-Fraktion unterstützen würden?

- Nein, das kann ich an dieser Stelle heute nicht sagen. Ich würde gern an geeigneter Stelle über das Konzept von Arbeitsminister Döhring sprechen und mich mit ihm ordentlich darüber auseinander setzen. Ich habe bisher noch keine Gelegenheit dazu gehabt. Ich kann aber sagen, dass wir nach wie vor einen starren Mindestlohn als Mittel zur Senkung von Massenlangzeitarbeitslosigkeit gerade bei gering qualifizierten Menschen überhaupt nicht für sinnvoll halten. Diese Meinung habe ich immer vertreten. Ich glaube nach wie vor, dass es richtig ist, dass dies ein Mittel wäre, Massenlangzeitarbeitslosigkeit gerade in diesem Bereich eher zu erhöhen.

(Beifall bei FDP und BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

Kollege Müller, darüber haben wir in den letzten Jahren immer wieder gesprochen. Wir haben auch über starre Mindestlöhne gesprochen. Das, was Herr Döring hier in die Diskussion eingebracht hat, ist neu und innovativ. Deshalb werde ich das heute nicht in Bausch und Bogen ablehnen. Möglicherweise spricht ja das eine oder andere ökonomische Lehrbuch dafür und würde Gründe dafür finden, warum auch ein solcher Mindestlohn nicht vernünftig ist. Ich musste aber schmerzlich lernen, dass das ökonomische Lehrbuch mit der Realität manchmal nicht sonderlich viel zu tun hat.

Ich sage noch einmal meine herzliche Bitte: Lassen Sie uns dann, wenn wir uns hier über Konzepte streiten, vielleicht in Zukunft einer anderen Sprache bedienen. Ich sage das noch einmal, das hat mich ziemlich geärgert. Es hat mich auch ziemlich getroffen. Lassen Sie uns über das Konzept, das der

(Dr. Heiner Garg)

Arbeitsminister hier vorgestellt hat, im Wirtschaftsausschuss und im Sozialausschuss noch einmal reden. Dann möchte ich, dass die Konzepte, die von den Grünen und von der FDP vorgestellt wurden, um unter dem Strichwort Kombilohnmodelle Existenzsicherung auf allen Ebenen zu betreiben, mit in diese Diskussion einbezogen werden.

(Beifall bei FDP und BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

Für die Abgeordneten des SSW erteile ich Herrn Abgeordneten Lars Harms das Wort.

Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Dass mich der Kollege Garg in seinen Augen möglicherweise zu Recht auf das Zitat des Wortes „asozial“ angesprochen hat, möchte ich zu Ihrer Kenntnis geben, dass ich dort seinerzeit leider falsch zitiert wurde. Im Originalzitat hatte ich „unsozial“ gesagt: Dazu stehe ich natürlich weiter. Ich habe nicht das Wort „asozial“ benutzt. Es tut mir Leid, dass das so schlecht angekommen ist. So schlecht denke ich nicht von der FDP.

(Günther Hildebrand [FDP]: So schlecht nicht!)

- So schlecht nicht, aber für unsozial habe ich in diesem Artikel eine Politik gehalten, die unter anderem auch von Ihnen vertreten wird. Ansonsten habe ich aber nicht das Wort „asozial“ benutzt. Das wollte ich hier zumindest klarstellen.

Das eigentliche Thema sind aber branchenspezifische Mindestlöhne. Deshalb halte ich jetzt meine Rede. Die Diskussion über die Einführung eines wie auch immer gearteten Mindestlohns in Deutschland läuft schon seit Monaten und es wird jetzt Zeit, dass wir vom Reden zum Handeln kommen. Leider haben wir in Schleswig-Holstein nur begrenzte Möglichkeiten, da dies im Grunde auf Bundesebene oder zwischen den Tarifparteien geregelt werden muss. Ich bin dennoch froh, dass es trotz gegensätzlicher Auffassungen im Wirtschaftsausschuss gelungen ist, einen gemeinsamen Antrag zu formulieren, den auch der SSW unterstützt. Das habe ich auch schon im Wirtschaftsausschuss gesagt. Somit geht von Schleswig-Holstein das politische Signal aus, dass der Schleswig-Holsteinische Landtag die Notwendigkeit eines Mindestlohns auf jeden Fall in einigen Branchen fast gemeinsam unterstützt.

Die Anhörung zum Ursprungsantrag der Grünen im Ausschuss machte es sehr deutlich, wo die Konfliktlinien in dieser Diskussion liegen. Sowohl die Gewerkschaften als auch die Arbeitgeber machten eindrucksvoll deutlich, wie wichtig der bereits geltende Mindestlohn für die Baubranche in Schleswig-Holstein ist. Trotz aller Probleme, die sich im Detail natürlich bei der Umsetzung ergeben, zeigen die Erfahrungen mit dem Mindestlohn für den Bau, dass damit konkret Arbeitsplätze und Umsatz im Land erhalten bleiben. Das sagen übrigens auch die Vertreter der kommunalen Landesverbände, die viele dieser Aufträge vergeben.

Positiv ist auch, dass der Landtag die Absicht der Bundesregierung begrüßt, das Arbeitnehmerentsendegesetz, das bisher für den Baubereich gilt, auf die für allgemein verbindlich erklärten Tarifverträge der Gebäudereiniger zu erstrecken. Auch in dieser Branche haben wir es bisher leider mit einem extremen Lohndumping zu tun, was unter anderem dazu geführt hat, dass zum Beispiel in Berlin ein entsprechendes Tariftreuegesetz erlassen wurde, um gerade für die Gebäudereiniger die Jobs zu retten.

Für andere Branchen lehnten insbesondere die Vertreter der reinen marktwirtschaftlichen Lehre von der IHK das Instrument der Mindestlöhne vehement ab. Sie sind sogar der Auffassung, dass die Einführung in Deutschland zu großen Arbeitsplatzverlusten führen wird. Dass ausgerechnet die IHKs eine solche Haltung vertreten, ist eigentlich ein wenig überraschend, werden sie doch selbst vom Gesetzgeber als Institution vor dem Markt geschützt. Sonst würden möglicherweise viele Unternehmen austreten.

(Beifall des Abgeordneten Klaus Müller [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN])

Ein Blick über den europäischen Tellerrand zeigt, dass es in 18 von 25 EU-Mitgliedstaaten bereits gesetzliche Mindestlöhne gibt. In sieben Ländern gibt es diese noch nicht, wobei man aber sagen muss, dass man zum Beispiel in Dänemark, das eines dieser Länder ist, in fast allen Branchen tarifliche Mindestlöhne eingeführt hat. Auch in den USA gibt es einen gesetzlichen Mindestlohn, der allerdings aus unserer Sicht zu niedrig ist und über das Steuersystem abgerechnet wird. Dennoch zeigen diese Beispiele, dass das Instrument weltweit prinzipiell anerkannt ist, um den Arbeitnehmern ein Auskommen zu sichern. Nur zum Vergnügen wird kein Land so etwas einführen.

Das Problem ist eben, dass wir es zunehmend mit dem Phänomen der so genannten „Working Poor“ zu tun haben. Es handelt sich hierbei um Menschen,

(Dr. Heiner Garg)

die trotz Erwerbseinkommen kaum davon leben können. Leider haben wir auch in der Bundesrepublik mehr und mehr Arbeitnehmer, die zu Dumpinglöhnen oder Armutslöhnen arbeiten. Es gibt Zahlen, die von bis zu 3 Millionen Menschen sprechen, die davon betroffen sind. Dies gilt im Übrigen insbesondere für den Osten, wo jeder Fünfte weniger als 1.300 € brutto im Monat verdient. Das ist wirklich nicht viel. Der SSW spricht sich generell für die Einführung eines gesetzlichen Mindestlohnes in den Branchen aus, in denen die Tarifparteien nicht selbst dazu in der Lage sind. Wir würden befürworten, dass man die vorhandenen Tarifverträge dann gesetzlich als allgemeinverbindlich erklärt. Dies ist heute schon durch Bundesgesetz möglich.

In anderen Bereichen sollten die Tarifparteien selbst Mindestlöhne aushandeln, denn wir wollen die Tarifautonomie natürlich nicht infrage stellen. Nur dann, wenn das alles nicht klappt, muss der Staat eingreifen.

Wichtig ist es allerdings auch, dass sich der künftige Mindestlohn deutlich vom Niveau des Arbeitslosengeldes II unterscheidet, also höher sein wird. Dabei meinen wir, dass der Mindestlohn mindestens 8 € pro Stunde betragen muss. Wenn jetzt von der Bundesregierung ein Mindestlohn von 6 € in Kombination mit einem Kombilohn vorgeschlagen wird, ist das aus unserer Sicht viel zu wenig.

(Klaus Müller [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- NEN]: Hat Müntefering wieder eingesam- melt!)

- Das ist gut. Denn das grenzt eigentlich an Lohndumping. Die Leute, die in diesem Zusammenhang davon sprechen, dass ein höherer Mindestlohn angeblich hunderttausende Arbeitsplätze kosten würde, blenden völlig aus, dass wir es in der Bundesrepublik mit einer seit Jahren anhaltenden Krise in der Binnenkonjunktur zu tun haben. Diese Binnenkonjunktur müssen wir ankurbeln. Das geht nur, wenn wir den Leuten, die arbeiten, auch vernünftiges Geld für ihre Arbeit bezahlen. Das ist in Einzelfällen auch durch einen Mindestlohn zu gewährleisten.

(Beifall beim SSW)

Für die Landesregierung erteile ich dem Minister für Justiz, Arbeit und Europa, Herrn Uwe Döring, das Wort.

Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Es ist ganz wichtig, dass wir dieses Thema hier heute noch einmal ansprechen. Es ist hochaktuell. Ich möchte nicht das wiederholen, was wir zum Thema Entsendegesetz und Dienstleistungsrichtlinie gesagt haben. Da sind wir im Wesentlichen einer Meinung. Für die Dienstleistungsrichtlinie ist ja nun glücklicherweise im Europäischen Parlament ein Kompromiss gefunden worden. Damit kann man einigermaßen leben. Trotzdem stehen die Themen Lohndumping und Mindestlöhne auf der Agenda.

Der Druck auf dem heimischen Markt wird immer stärker. Wir brauchen - da sind wir uns alle einig faire Wettbewerbsbedingungen. Arbeitsplätze gerade im Niedrigsektor dürfen nicht durch Dumpinglöhne ausländischer Konkurrenten gefährdet werden.

(Beifall bei BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und SSW)

Um Hungerlöhne zu verhindern, müssen wir allerdings an verschiedenen Stellschrauben drehen. Man kann nicht immer so tun, als gebe es ein Instrument, das alles heile. Das gibt es nicht. Dazu gehören eine ganze Reihe von Stellschrauben. Dazu gehört neben dem Entsendegesetz die Allgemeinverbindlichkeitserklärung der Tarifverträge, eine Tariftreueregelung und schließlich auch - ich sage: auch - der Mindestlohn. Das, was ich darunter verstehe, ist ein relativer, branchenspezifischer Mindestlohn. Sie alle wissen - das habe ich an dieser Stelle mehrfach erklärt -: Ich halte nichts von einem starren, einheitlichen Mindestlohn. Ich habe das hier in diesem Haus erklärt. Ich habe das auch öffentlich erklärt. Ich habe vor wenigen Wochen zu diesem Thema übrigens auch einen Diskussionsbeitrag in der „Financial Times“ gehabt.

Der Grund ist folgender: Ist der starre Mindestlohn zu hoch, bauen wir Beschäftigungsbarrieren auf. Ist er zu niedrig, bewirkt er nichts. Ein starrer Mindestlohn kann außerdem niemals die unterschiedlichen Verhältnisse in den Regionen ausgleichen.

Der Friseur im Bankenviertel in Frankfurt/Main und die Friseurin an der polnischen Grenze in Frankfurt/Oder kann man nicht über einen Kamm scheren.

(Heiterkeit - Beifall des Abgeordneten Klaus Müller [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN])

Viele übersehen leider - das ist ein wichtiger Punkt in dieser Debatte -: Der berechtigte Wunsch nach höheren Löhnen und das Ziel höherer Beschäfti

(Lars Harms)

gung können miteinander in Konflikt geraten. Das müssen wir in der Debatte berücksichtigen. Wer das in der Mindestlohndebatte ignoriert, wird am Schluss nur höhere Arbeitslosigkeit bewirken.

Auch der beliebte Verweis auf Mindestlöhne in anderen Ländern ist nicht unproblematisch, schon gar nicht, wenn ich britische Pfund in Euro umrechne und dabei vergesse, welche unterschiedlichen wirtschaftlichen und rechtlichen Rahmenbedingungen in anderen Ländern existieren.

Wir müssen deshalb umsichtig handeln. Das bedeutet für mich: Lohnfindung muss vorrangig Aufgabe der Tarifpartner bleiben.

(Beifall bei SPD, CDU, FDP und BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

Ich plädiere deshalb für einen branchenspezifischen relativen Mindestlohn. Es wäre eine relativ einfache Regelung. Man kann sich über die Untergrenze eines Mindestlohnes unterhalten. Man kann sich darüber unterhalten, ob das 20 % oder eine andere Zahl ist. Diese ist festzulegen. In den Bereichen, in denen wir keine Tarifbestimmung haben, können wir uns an die ortsübliche Vergütung anlehnen. Auch das wäre eine Möglichkeit. Damit würden wir Tarifautonomie respektieren und letztlich auch Gewerkschaften stärken.

(Beifall der Abgeordneten Klaus Müller [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN] und Lars Harms [SSW])