Protokoll der Sitzung vom 14.09.2006

Ich danke Herrn Abgeordneten Baasch. - Das Wort für die FDP-Fraktion hat Herr Abgeordneter Dr. Heiner Garg.

(Zuruf des Abgeordneten Torsten Geerdts [CDU])

Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen, liebe Kollegen! Ich „semmle“ niemanden an, das will ich von dieser Stelle ganz deutlich machen, Herr Kollege Geerdts.

Die Hoffnungen, die an die elektronische Gesundheitskarte geknüpft werden, sind hoch. Was hat man sich nicht alles durch ihre flächendeckende Einführung versprochen. Unleserliche Rezepte wären beispielsweise Vergangenheit. Arzneimittelunverträglichkeiten würden ausgeschlossen, da Mediziner und Apotheker entsprechende Hinweise hinterlegen und später wieder abrufen könnten. Die gesamte Krankengeschichte in der Form einer elektronischen Patientenakte soll auch in Zukunft auf der Gesundheitskarte gespeichert werden. Röntgenaufnahmen, Arztbriefe und andere wichtigen Informationen sollen abrufbar sein, sodass Doppeluntersuchungen künftig überflüssig wären und im Notfall schnell Hilfe geleistet werden kann.

Die Krankenhäuser, niedergelassenen Ärzte und Zahnärzte sowie Apotheken sollen hierdurch besser

(Wolfgang Baasch)

miteinander kommunizieren können - und zwar zum Wohle des Patienten und zum Nutzen der Kostenträger. Die praktische Umsetzung der gesetzten Ziele ist allerdings in der Realität bisher eher ernüchternd.

Zwar besitzt Schleswig-Holstein den unschlagbaren Vorteil, bereits durch die Erprobung des sogenannten elektronischen Patientenausweises in Flensburg entsprechende praktische Erfahrungen gesammelt zu haben. Der im Bericht hervorgehobene technische Vorsprung gegenüber den anderen Testregionen in Deutschland kann deswegen aus unserer Sicht nicht oft genug betont und hervorgehoben werden. Vieles, was die Gesundheitskarte leisten soll, funktioniert in Flensburg bereits in der konkreten Anwendung auf regionaler Ebene vorzüglich und vorbildlich.

(Beifall bei BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und des SSW)

Im Gegensatz dazu funktionierte in den meisten anderen ausgewählten Testregionen - das ist der Punkt, an dem ich sauer werde - die sogenannte Gesundheitskarte gerade einmal als Power-Point-Präsentation. Schon allein deswegen wäre die technische Grundlage des Flensburger Modellversuchs für einen bundesweiten Test höchst interessant gewesen. Ich sage nach wie vor, das es höchst interessant wäre, Flensburg entsprechend zu beteiligen.

Doch der Vorsprung zahlt sich - bislang jedenfalls noch nicht wirklich aus. Anstatt auf bereits vorhandene Strukturen und bereits bewährte Technik zurückzugreifen und entsprechende Bewerber für eine Testregion streng auszuwählen, hat die Bundesgesundheitsministerin - wenig mutig, wie ich finde von den acht Regionen, die sich beworben haben, auch acht ausgewählt. - Torsten Geerdts, ich habe gesagt, die Bundesgesundheitsministerin!

Die Gesellschafter der Firma gematik waren zuvor bei ihren Planungen von zwei bis maximal drei Regionen ausgegangen. Im Hinblick auf einen effizienten Projektverlauf wäre dies auch sinnvoll gewesen.

(Zuruf des Abgeordneten Wolfgang Baasch [SPD] - Heiterkeit)

Bei der jetzigen Projektorganisation ist der Start in acht Regionen eher ein Desaster, Kollege Baasch. Denn die Steuerung und Koordination von acht gleichzeitig arbeitenden Testregionen mit je 10.000 Versicherten führte zu einer Komplexität, die gerade in der Testphase kontraproduktiv ist, in der es vor allem um die technische Abstimmung geht.

Es ist daher kein Wunder, dass der bundesweite Starttermin der Testphase für die Gesundheitskarte immer weiter verschoben wurde und der Zeitpunkt für die flächendeckende Einführung mittlerweile nicht einmal mehr genannt wird. Da rächt es sich, dass im Gegensatz zum Flensburger Modellversuch die Leistungserbringer, die Kostenträger, die Geräte- und Softwarehersteller bei der Planung nicht rechtzeitig eingebunden worden sind, also all die Vorteile fehlen, die die Kollegin Sassen vorhin herausgestrichen hat.

Im Hinblick auf die Technik, die Finanzierung und die rechtlichen Rahmenbedingungen ist manche Frage noch offengeblieben, gerade was die konkrete Anwendung in der Praxis angeht. Ich will nur einige Beispiele nennen. Wie kann der Interessenkonflikt zwischen Patient und Leistungserbringer im Hinblick auf eine unverfälschte Befundsammlung gelöst werden? Aus Datenschutzgründen kann jeder Patient den Inhalt seiner Patientenakte verändern. Das heißt, dass er Diagnosen und Befunde oder Medikamente im Zweifel jederzeit löschen darf. Mediziner sind aber vor allem auf zuverlässige und ungeschönte Befunde angewiesen. Andernfalls ist die elektronische Patientenkarte für sie wertlos.

Welche Kosten kommen nicht nur auf die Kostenträger, sondern auch auf die Leistungsträger zu? Während das Bundesgesundheitsministerium mit Einführungskosten von 1,4 Milliarden € rechnet, werden diese nach Einschätzung des Verbandes der PKV bei gut 4 Milliarden € liegen. Wahrscheinlich liegt die Wahrheit irgendwo dazwischen, aber man muss sich vergegenwärtigen, dass 4 Milliarden € etwa 0,4 Beitragssatzpunkte bedeuten. Die Kosten pro Arztpraxis liegen immerhin zwischen gut 5.000 und 8.000 € pro Praxis im Jahr. Bei den Krankenhäusern sind es immerhin schon zwischen 150.000 und 190.000 € im Jahr. Das ist viel Geld, das bei gedeckeltem Budget und bestehenden Fallpauschalen erst noch erwirtschaftet werden muss, bevor es wieder ausgegeben werden kann.

Der Bericht macht eines deutlich: Schleswig-Holstein ist dem Rest der Republik weit voraus, was die Umsetzung angeht.

(Zurufe)

Dass dieser Vorsprung nicht umgesetzt werden kann, liegt ausschließlich an den Beteiligten in Berlin. Das ist weder die Schuld des Landtages noch der Landesregierung, das will ich ausdrücklich sagen. Deswegen fordere ich uns alle auf, hier wirklich Dampf zu machen, denn wir sollten den Vor

(Dr. Heiner Garg)

sprung, den wir haben, gefälligst auch nutzen - zum Wohl der Patienten!

(Beifall bei FDP, CDU, BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und SSW)

Ich danke Herrn Abgeordneten Garg. - Das Wort für die Fraktion von BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN hat nun Frau Abgeordnete Angelika Birk.

Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! In Schleswig-Holstein - das kann man schon so sagen - findet mit einer der wichtigsten Modellversuche der Gesundheitsbranche und der Gesundheitsversorgung der Zukunft statt: der Test für die zukünftige Gesundheitskarte. Diese Karte - wir haben es schon mehrfach gehört - wird wesentliche Informationen jeder Patientin und jedes Patienten speichern. Deshalb war auch - das freut uns - der Landesdatenschutzbeauftragte von Anfang an intensiv beteiligt.

Alle Gesundheitsanbieter sollen miteinander vernetzt werden. Es soll Doppelarbeit abgebaut werden und das Thema integrierte Versorgung, das wir vorhin behandelt haben, soll natürlich durch die Gesundheitskarte auch technisch unterstützt werden. Aber es gilt für unser Land auch zu beachten, dass die Gesundheitskarte auch ein riesiges wirtschaftliches Geschäft wird - mindestens für die ITBranche.

Nicht zuletzt deswegen konkurrieren verschiedene Modellregionen in Deutschland hart um die Gunst der Bundesregierung für die Ausrichtung der Einführungsphase. Ohne jetzt die Hintergründe im Detail zu kennen, möchte ich behaupten, dass nicht nur die von den Vorrednern genannten Misslichkeiten für den Ärger ausschlaggebend sind, sondern natürlich auch das, was an wirtschaftlicher Power hinter den einzelnen Modellregionen steht.

Der Bericht der Landesregierung liest sich allerdings - ganz anders als das, was die Ministerin gerade hier sehr engagiert vorgetragen hat - nämlich nicht so, als sollte dieser Wettbewerb gewonnen werden. Nüchtern und sehr sparsam wird berichtet, was schon allseits bekannt ist. Spannende Fragen des Datenschutzes, aber auch die Frage, in welcher Reihenfolge man welche Komponenten aufnehmen will, wie die Vernetzung bisher gelungen ist, sind in einem solchen Kurzbericht ausgespart. Das betrifft auch das praktische Funktionieren des bisherigen Netzwerks und die Umfrageergebnisse.

Ein bisschen wurden wir in den letzten Tagen nachträglich mit dieser Information versorgt, und zwar nicht seitens des Ministeriums, sondern seitens der Akteure selbst. Wir hörten etwas von sehr interessanten Umfrageergebnissen, die zeigen, dass offenbar das Interesse der Patientinnen und Patienten an der Gesundheitskarte in der Flensburger Region weit höher ist als bei den Ärztinnen und Ärzten. Dazu haben wir gerade schon gehört, dass das Interesse in der letzten Zeit angesichts der anderen Wettbewerbslage offensichtlich etwas abgeflacht ist.

Trotzdem - das möchte ich ausdrücklich hervorheben - ist die Stärke des schleswig-holsteinischen Ansatzes so zu kennzeichnen, dass es ein Bottomup-Ansatz ist. Er ist von unten gewachsen. Die Leute vor Ort wollten die Zusammenarbeit. Dafür hat man das technische Instrument Gesundheitskarte gewählt. Ich glaube, so muss die Reihenfolge auch sein. Wenn man sagt, wir brauchen ein neues technisches Gerät, eine neue technische Vernetzung, ohne dass man weiß, was man vernetzen will und warum und zu welchem Nutzen und was die einzelnen Vertragspartner dazu beitragen müssen, dann gelingt so etwas nicht. Das überrascht mich überhaupt nicht, dass es anderswo in Deutschland wenig klappt, wo man es top-down macht. Wenn die Akteure selber nicht überzeugt sind, dann geht es natürlich langsam und mühsam voran.

Insofern haben wir in Schleswig-Holstein eine hohe Verantwortung. Auch wenn die technische Gestaltung der Gesundheitskarte nicht vom Parlament und von der Landesregierung festgelegt wird, so sind wir doch mit unserer Begleitung und Beobachtung hier gefordert. Datenmissbrauch und Korruption bei der Nutzung eines umfassenden neuen Informationsnetzes, das hinter der Gesundheitskarte steht, gilt es zu vermeiden. Das bedarf klarer gesetzlicher Regelungen.

Schließlich muss die Gesundheitskarte - da ist noch viel zu tun - in allem dem Prinzip folgen, dass sie für den Patienten da ist. Etwas Umgekehrtes gibt es nicht.

Herr Garg, Sie haben gesagt, die Patienten dürften nichts an der Gesundheitskarte herumdeuteln.

(Dr. Heiner Garg [FDP]: Ich habe nur gesagt, dass das eine Möglichkeit ist!)

Ich kann nur sagen: Akten, die über mich und meinen Gesundheitszustand angelegt werden, dürfen mir nicht verborgen sein. Das erinnert mich an den sogenannten Arztbrief. Er geht immer noch in einem verschlossenen Umschlag an mich. Nach dem Verständnis vieler Ärzte darf ich diesen Umschlag

(Dr. Heiner Garg)

eigentlich gar nicht öffnen. Das ist für mich ein Relikt mindestens aus dem Mittelalter.

Die Technik kann diesen Konflikt nicht lösen. Aber es bedeutet eine Chance, wenn man eine solche neue technische Grundlage hat, dass man die praktischen Fragen, die uns in der Vergangenheit beschäftigt haben und die wir noch nicht gelöst haben, mit der technischen Neuerung neu anpackt und untersucht. Dies ist notwendig. Sonst wird die Gesundheitskarte das Gegenteil von dem, was sie sein soll. Sie wird dann den Patienten beherrschen, anstatt ihm zu dienen.

(Beifall bei BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

Für den SSW erteile ich Herrn Abgeordneten Lars Harms das Wort.

Frau Präsidentin! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Seitdem die Gesundheitskarte vor der Sommerpause von der Tagesordnung des Landtags gestrichen wurde, hat sich einiges geändert. So sagen stets gut informierte Beobachter in Berlin, dass Bundeskanzlerin Angela Merkel die Gesundheitskarte zur Chefsache erklärt hat. Die Kanzlerin wolle sich am 18. September, bevor sich Gesundheitsministerin Ulla Schmidt und Kassenvertreter treffen, einschalten, um die bisher schleppende Einführung der Karte zu beschleunigen. Hintergrund sind technische Probleme, die vor allem immer wieder aus Ingolstadt zu hören sind.

Das bayerische Sozialministerium, in dessen Bereich erste Feldversuche in Ingolstadt durchgeführt wurden, hat eigenen Angaben zufolge den Beginn der Feldversuche mehrfach bei der verantwortlichen Berliner Firma gematik eingefordert. Dagegen ist die Entscheidung für Bochum und Essen wohl gefallen.

Letzte Woche meldete die Deutsche Presseagentur den Start in Nordrhein-Westfalen für den kommenden Winter. Dann erhalten zunächst 10.000, später sogar 100.000 Versicherte die neuen Karten.

Die Einführung der Karte in Deutschland soll Einsparungen zwischen 500 und 900 Millionen € jährlich bringen. Zunächst aber kostet das Projekt Geld. Die Gesundheitskarte ist eines der größten IT-Projekte, wenn nicht sogar das größte überhaupt, das jemals in Deutschland geplant wurde. Schließlich sollen 80 Millionen Versicherte, 2.000 Krankenhäuser, über 300.000 Ärzte und 20.000 Apotheken

miteinander vernetzt werden. Jede Hast ist hier unangebracht und verursacht unnötige Mehrkosten.

Die Vorgänge bei der Einführung der Lkw-Maut sollten uns eine Warnung sein. Das sehe ich genauso wie die Sozialministerin.

Das 1,4-Milliarden-Euro-Projekt jetzt mit den Chefgesprächen in Gang bringen zu wollen, ist kein gutes Zeichen. Warten wir ab, was nächsten Montag am Verhandlungstisch herauskommt!

Wie bei der großen Koalition üblich, werden die Versicherten am Ende sicherlich einen etwas größeren Obolus als angedacht tragen müssen. Dabei wurde die Gesundheitskarte so vielversprechend gestartet.

Ganz klammheimlich hat sich hoch im Norden eine neue Struktur etabliert, maßgeblich vorangetrieben vom Ärztlichen Direktor der Diakonissenanstalt Dr. Ulrich Schröder. In Flensburg haben sich Ärzte, Krankenhäuser und Apotheker zusammengeschlossen. In Deutschland hat die Abschottung des ambulanten vom stationären System zu Doppeluntersuchungen und teilweise widersprechenden Medikationen unbekannten Ausmaßes geführt. Keiner weiß genau, wie viel Geld dadurch zum Fenster hinausgeschmissen wird.

In einem vergleichsweise übersichtlichen Raum wie Flensburg war allen Beteiligten klar, dass man Abhilfe schaffen könnte, indem man erhobene Daten für alle verfügbar macht. Der gläserne Patient kam dabei keinem der Beteiligten in den Sinn. Es ging und geht um höhere Behandlungsqualität, um mehr Effizienz im Gesundheitswesen und um die Stärkung der Patientenrechte.

Grundsätzlich lassen sich diese Ziele mit einer über die Gesundheitskarte verbesserten elektronischen Kommunikation zwischen den Beteiligten erreichen. Das bescheinigte auch Schleswig-Holsteins oberster Datenschützer, Tilo Weichert, dem Flensburger Projekt in der Zeitung „Datenschutz und Datensicherheit“.