Protokoll der Sitzung vom 13.10.2006

Mit der viel gescholtenen und diskutierten Gesundheitsreform werden aber gerade im Bereich der Pflege auch konkrete und spürbare Verbesserungen auf den Weg kommen. Deshalb will ich sie hier nennen. Wir haben sie immer gefordert, daher ist das wirklich erfreulich. Der Grundsatz Rehabilitation vor Pflege soll gestärkt werden. Der gesetzliche Anspruch auf geriatrische Rehabilitation wird verankert, die Palliativversorgung wird insbesondere im ambulanten Bereich gestärkt und die Pflege wird erstmalig in die integrierte Versorgung eingebunden. Wir wissen alle um die Schnittstellen, die hier zu überwinden sind. Nicht zuletzt kommt es zu Klärungen und Verbesserungen in der häuslichen Krankenpflege. Hier standen immer Grundsatzfragen im Raum. Gleiches gilt für die Hilfsmittelversorgung in Heimen. All das reicht aber nicht aus. Wir brauchen für die Praxis endlich die Pflegeversicherungsreform, wir brauchen die Dynamisierung der Leistungen, wir brauchen die finanzielle Gleichstellung von ambulanten und stationären Angeboten,

(Beifall der Abgeordneten Monika Heinold [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN])

wir brauchen mehr Ressourcen für die demenzerkrankten Menschen und wir brauchen einen anderen Pflegebegriff. Vor diesem Hintergrund bin ich froh, dass die Bundesregierung einen entsprechenden Beirat eingesetzt hat. Allerdings muss ich sagen, dass mir das alles zu lange dauert, denn das bedeutet offensichtlich, dass die Reform der Pflegeversicherung nicht morgen auf der Tagesordnung steht, es sei denn, diese Pflegeversicherung wird zunächst ohne einen erweiterten Pflegebegriff auf den Weg gebracht. Wir sind über jeden weiteren Schritt froh, denn jeder, der in der Praxis steht, weiß, dass es überfällig ist, dass wir in den einzelnen Stationen bei der Verbesserung der Pflege in unserem Land weiterkommen.

(Beifall bei der SPD)

Ich danke der Ministerin und eröffne die Aussprache. Für die CDU-Fraktion hat der Herr Abgeordnete Torsten Geerdts das Wort.

Frau Präsidentin! Sehr geehrte Damen und Herren! Das Wohnen in den eigenen vier Wänden ist die bevorzugte Lebensform der meisten älteren Menschen in unserem Land. Sie bevorzugen dies auch, wenn ein ganz besonderer Hilfe- und Betreuungsbedarf vorhanden ist, lieber Kollege Klinckhamer. Deshalb ist es weiterhin unser gemeinsames Ziel, eine selbstständige und selbstbestimmte Lebensführung in den eigenen vier Wänden auch in der Phase der Unterstützungs- und Pflegebedürftigkeit zu ermöglichen.

Dabei dürfen wir die Belastungen der pflegenden Angehörigen nicht außer Acht lassen. Sie müssen rund um die Uhr für ihre Angehörigen verfügbar sein. Es ist hoch anzurechnen, dass viele Mensche als Gründe für die Übernahme der Pflege zuallererst familiäre emotionale Bindungen nennen. Diese positiven Ansatzpunkte gilt es zu unterstützen und es gilt Entlastung zu organisieren.

Der Sicherung der sozialen Teilhabe durch die Etablierung neuer Wohn- und Betreuungsformen und durch die Einbindung des bürgerschaftlichen Engagements kommt eine ganz besondere Bedeutung zu. Wichtigste Voraussetzung für das Ermöglichen einer sozialen Teilhabe ist das Wohnraumumfeld. Wir brauchen mehr altengerechte Wohnungen, bei denen aber nicht ausschließlich der Aspekt der Betreuung und der Pflege im Vordergrund steht. Hinzu kommen auch Aspekte wie der Freizeitwert oder die kulturelle Anregung sowie die Möglichkeit zu

Sozialkontakten, die Erreichbarkeit von öffentlichen Verkehrsmitteln, die Anbindung an Einkaufszentren, aber auch die Erreichbarkeit von Ärzten oder Apotheken.

Aus diesem Grunde ist es wichtig, dass wir uns zusätzlich auf die Aufgabenstellung konzentrieren, ein generationenübergreifendes Wohnen zu ermöglichen und Wohngemeinschaften für ältere Mitbürgerinnen und Mitbürger zu fördern.

Von großer Bedeutung für die ältere Generation ist aber auch ein breites Angebot an haushaltsnahen Dienstleistungen; denn pflegebedürftige Menschen haben in der Regel diesbezüglich einen hohen zusätzlichen Bedarf, um eine eigenständige Lebensführung in den eigenen vier Wänden aufrechterhalten zu können.

Der Bericht macht zusätzlich deutlich, welche weiteren Herausforderungen durch besondere Krankheitsformen auf die Gesellschaft zukommen. Genannt sei hier ein erhöhter Betreuungsbedarf für demenzkranke Menschen. Die Altersdemenz ist inzwischen eine der häufigsten Ursachen der Pflegebedürftigkeit. In Schleswig-Holstein leben rund 37.000 demenzkranke Menschen.

Ebenfalls steigen wird der Betreuungsbedarf für psychisch kranke Personen, aber auch der Betreuungsbedarf für Menschen mit Suchterkrankungen. Wir reden, wenn es um die ambulante Betreuung und um die ambulante Pflege geht, also nicht ausschließlich über Themen, die nur die ältere Generation betreffen, und wir sollten auch so ehrlich zu sagen: In Schleswig-Holstein gibt es für jüngere Pflegebedürftige noch kein ausreichendes Angebot.

Der uns heute vorliegende Bericht „Pflege stärken“, den wir gleich mitberaten, macht deutlich, in welch hohem Maße Familien in Schleswig-Holstein bereit sind, notwendige Pflegeaufgaben zu übernehmen. 74.000 Menschen in unserem Land gelten als pflegebedürftig. Davon werden 46.000 auf Hilfe angewiesene Bürgerinnen und Bürger zu Hause gepflegt und unterstützt. 70 % davon nehmen keine professionelle Hilfe wie einen ambulanten Pflegedienst in Anspruch.

Der große Streit, der in den vergangenen Jahren immer wieder geführt worden ist, drehte sich um die Frage, ob die Einrichtung von Pflegeberatungsstellen wirklich zu einer Minderbelastung der Sozialhilfeträger führen wird. Der Bericht belegt, dass sich die Einrichtung von Pflegeberatungsstellen für unsere Kommunen rechnet.

Nach den Feststellungen der wissenschaftlichen Begleitforschung beläuft sich die von den acht Bera

(Ministerin Dr. Gitta Trauernicht)

tungsstellen bewirkte Vermeidung von Sozialhilfeaufwendungen im Jahr 2005 auf knapp 1,5 Millionen €. Setzt man die Aufwendungen dagegen, die für den Betrieb der Beratungsstellen erbracht werden, so verbleibt eine echte Einsparung an Sozialhilfemitteln von insgesamt 235.000 €. Hinzu kommen die Einsparungen für die Träger der Pflegeversicherung. Für sie hat die wissenschaftliche Begleitforschung feststellen können, dass es zu einer Entlastung in Höhe von 844.000 € gekommen ist.

Was noch wichtiger ist, als die Einsparungen zu nennen: 63 % der befragten pflegebedürftigen Menschen teilten mit, dass sie das Gefühl haben, durch die Nutzung der Pflegeberatungsstellen in eine bessere Betreuung gekommen zu sein, und auch 53 % der Angehörigen, die wir vorhin als die Gruppe benannt haben, die eine große Last tragen muss, sagen, sie fühlen sich besser beraten und konnten für ihre Angehörigen eine bessere Betreuung und Pflege sichern.

Das beweist: Wir brauchen diese Pflegeberatungsstellen. Aber die jüngsten Ereignisse beweisen auch: Nur die Absicherung im Koalitionsvertrag und nur das Bereitstellen von Haushaltsmitteln reichen noch nicht aus. Wir müssen überall vor Ort, in allen Landkreisen, dafür werben, dass diese Beratungsstellen jetzt nicht geschlossen werden, sondern, um Sozialhilfekosten einsparen zu können, erhalten bleiben. Dort, wo es noch keine gibt, müssen sie geschaffen werden, weil es für die Menschen besser ist, weil die Betreuung besser wird und weil wir damit Kosten bei den Sozialhilfeträgern und bei den Trägern der Pflegeversicherung einsparen. Daher müssen wir diese Überzeugungsarbeit weiter leisten.

(Beifall)

Ich danke dem Herrn Abgeordneten Geerdts. - Für die SPD-Fraktion hat die Frau Abgeordnete Siegrid Tenor-Alschausky das Wort.

Frau Präsidentin! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Zu Beginn dieser Tagung haben wir gemeinsam mit großer Mehrheit den Schutz pflegebedürftiger Menschen als Staatsziel in die schleswigholsteinische Verfassung aufgenommen. Dieser überfällige Beschluss bedeutet aber nicht, dass die Themen Pflege, Pflegequalität, Förderung und auch Überprüfung von stationären und ambulanten Pfle

geanbietern erst jetzt als bedeutsame Schwerpunkte unseres politischen Handelns erkannt wurden.

Wir beschäftigen uns seit Jahren mit allem, was unter den Oberbegriff „Pflege“ zu subsumieren ist. Diskussionen und Entscheidungen zeichneten sich auch in der Vergangenheit durch ein hohes Maß an Verantwortungsbewusstsein für die Pflegebedürftigen, aber auch die Pflegenden aus.

Erinnert sei nur an die Initiative „pflege plus“, die Einrichtung der seit Jahren in fast allen Kreisen angebotenen trägerunabhängigen Beratungsstellen, die Verbesserung der Pflegequalität, aber auch die Auseinandersetzung mit „Wohnen im Alter“ und die Beschäftigung mit den Auswirkungen der absehbaren demografischen Entwicklung in unserem Land.

Ich möchte, im Namen der gesamten SPD-Fraktion, der Sozialministerin und ihren Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern für die vorliegenden Berichte danken.

(Beifall bei SPD, CDU und BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN)

- Ich denke, das haben sie verdient. - Aus ihnen lässt sich für uns folgendes Fazit ziehen:

Erstens. Die trägerunabhängigen Beratungsstellen haben sich bewährt. Sie erfüllen die Aufgabe, direkt, auf den jeweiligen Klienten bezogen, das Pflegearrangement zu optimieren und so stationäre Pflege zu vermeiden oder zeitlich hinauszuzögern. Darüber hinaus ergibt sich nach Abzug der Kosten für diese Einrichtungen ausweislich des Berichts eine Einsparung von circa 235.000 € an Sozialhilfeaufwendungen. Der Kollege Geerdts wies bereits darauf hin.

(Wolfgang Baasch [SPD]: Das ist kein Dum- mer! - Heiterkeit)

- Da kann ich Ihnen nur recht geben, Herr Baasch. Diese Zahl sollte man mancher Kommunalpolitikerin und manchem Kommunalpolitiker einfach nur zur Kenntnis geben.

Wichtiger als dieser fiskalpolitische Aspekt ist aber für uns die Tatsache, dass 74 % der Klienten - so die Berichtsaussage - die Unterstützung der Beratungsstellen bei der Sicherung der häuslichen Pflege und weiterer Hilfen positiv bewerten.

Zweitens. „Selbstständig leben und wohnen bei Pflege und Betreuungsbedarf“ umreißt kurz und knapp den Wunsch fast aller Menschen, ihren Lebensabend in der gewohnten Umgebung zu verbringen. Damit dieser Wunsch für möglichst viele Bürgerinnen und Bürger in Erfüllung gehen kann, bedarf es differenzierter Hilfsangebote, die bei guter

(Torsten Geerdts)

Qualität für die Betroffenen dennoch finanzierbar bleiben müssen.

In diesem Zusammenhang möchte ich meiner Hoffnung Ausdruck geben, dass die in den Eckpunkten zur Gesundheitsreform enthaltene Aussage, dass Patientinnen und Patienten künftig Anspruch auf ambulante und stationäre Rehabilitation für den Bereich der Geriatrie als Pflichtleistung haben, auch im anstehenden Gesetzgebungsverfahren Bestand haben wird.

Die Einführung der Pflegeversicherung war für die Finanzierung ambulanter und teilstationärer Pflege und sie war mit der damit verbundene Entlastung pflegender Angehöriger ein Riesenfortschritt. Aber auch die Pflegeversicherung bedarf der Weiterentwicklung, der Anpassung an die demografische Entwicklung und an den medizinischen Fortschritt. In Kooperation mit den Kommunen muss landesweit die ambulante Versorgungsstruktur den tatsächlichen Wünschen der Pflegebedürftigen angepasst werden. Eine gute Pflegebedarfsplanung ist deshalb keine bürokratische Zumutung, sondern ein wichtiges Instrument, damit auch künftig ambulante Hilfsangebote wohnortnah zur Verfügung stehen.

(Beifall des Abgeordneten Dr. Heiner Garg [FDP])

Pflegebedürftige Menschen haben in aller Regel Bedarf an zusätzlichen haushaltsnahen Dienstleistungen. Häufig werden diese bisher durch Verwandte oder auch Nachbarn erbracht. Veränderte Familienstrukturen werden in Zukunft aber ein weitaus größeres Angebot an professionellen Dienstleistungen erfordern, deren Finanzierung die gesamte Gesellschaft noch vor große Herausforderungen stellen wird.

Die Themen Wohnraumversorgung, Stärkung von ehrenamtlichen Diensten, Aktivitäten zur Fortführung des Dialogs zwischen Jung und Alt, ambulante Hospizarbeit, die besondere Unterstützung von an Demenz erkrankten Menschen und ihren Angehörigen sind im vorliegenden Bericht angesprochen, aber im Rahmen dieser Debatte nicht umfassend zu erörtern. Das muss der Ausschussberatung vorbehalten bleiben.

Für die SPD-Fraktion möchte ich abschließend feststellen, die Pflegebedarfsplanung muss die demografische Entwicklung aufnehmen, zum Beispiel die Tatsache, dass künftig weniger Angehörige Pflege werden übernehmen können. Wir brauchen zweitens die trägerunabhängigen Beratungsstellen.

(Beifall bei SPD, FDP und BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN)

Wir müssen aber auch überprüfen, ob die vorhandenen Angebote ausreichen, für Menschen nach der Entlassung aus stationärer Krankenhausbehandlung die erforderlichen ambulanten Dienste tatsächlich zeitnah und wohnortnah zur Verfügung zur stellen. Die besondere Unterstützung pflegebedürftiger Menschen ist für die SPD nicht nur Staatsziel, sondern in Vergangenheit und Zukunft ein Schwerpunkt unseres politischen Handelns und das ist auch gut so.

(Beifall bei SPD und FDP)

Ich danke der Frau Abgeordneten Tenor-Alschausky. - Das Wort für die FDP-Fraktion hat der Herr Abgeordnete Dr. Heiner Garg.

Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen, liebe Kollegen! Ambulante Betreuung, ambulante Pflege, selbstständig leben und wohnen bei Pflege- und Betreuungsbedarf: Wenn man zum großen Teil heute noch von Familien spricht, muss man so ehrlich sein, es sind Frauen, es sind Ehefrauen und Töchter, die zu 90 % den familiären Pflegebedarf derzeit erbringen. Davon profitiert unser Sozialversicherungssystem in ganz hohem Maße. Würden nämlich all diese Frauen und Töchter ihre Angehörigen nicht mehr pflegen und würden dann die entsprechenden professionellen Pflegedienstleistungen im ambulanten Bereich von den Pflegekassen abgefordert, sähe es um genau diese Pflegekassen sehr viel schlimmer aus, als dies ohnehin der Fall ist.

Dieses Engagement von Familienangehörigen beziehungsweise, um es noch einmal beim Namen zu nennen, von Frauen, die ihre Familienangehörigen pflegen, das gilt es in Zukunft aufgrund der demografischen Entwicklung aufzufangen, denn auch dieses Pflegepotenzial bricht weg. In einer zivilisierten Gesellschaft müssen wir uns die Frage stellen: Wie leisten wir das in Zukunft? Wie wollen wir in Zukunft sicherstellen, dass Menschen nach ihren Bedürfnissen in ihrer gewohnten und vertrauten Umgebung adäquat mit Haushaltsdienstleistungen oder im Zweifel auch mit entsprechenden Betreuungs- und Pflegeleistungen versorgt werden können? Wenn man es einmal einfach ausdrückt: Wie simulieren wir in Zukunft eine Mehrgenerationenfamilie in der Gesellschaft, obwohl die in der kleinsten Zelle weggebrochen ist? Das ist eine spannende Herausforderung an die Politik, aber auch an die Gesellschaft insgesamt, weil es durchaus auch positive Aspekte haben und Spaß machen kann.

(Siegrid Tenor-Alschausky)

(Beifall bei der FDP)