Sehr geehrte Damen und Herren, wir haben natürlich Möglichkeiten, in Schleswig-Holstein zu handeln. Ich nenne einmal ein paar Dinge, die wir in den letzten Jahren, in den letzten Monaten in den Landtag eingebracht haben. Wir hatten einen Antrag gestellt, „Kinderrechte in die Verfassung“ zu nehmen. Herr Herbst, das hat nichts mit Geld zu tun und ist trotzdem vom Schleswig-Holsteinischen Landtag abgelehnt worden. Kinder haben bei uns keine Rechte durch die Verfassung abgesichert. Das ist eine Schande.
Wir haben über die Reform der Familienförderung diskutiert. Wir haben einen Antrag eingebracht, dass wir das Geld des Ehegattensplittings nehmen, um es den Kindern zu geben für Infrastrukturmaßnahmen. Auch dieser Antrag - „Reform der Familienförderung“ - ist gerade im Sozialausschuss abgelehnt worden. Auch hier wurde ein landespolitisches Handlungsfeld vertan. Wir haben einen Bericht eingebracht „Kinderarmut verhindern“. Der Landtag hat es zwar geschafft, einen gemeinsamen Antrag zu verabschieden, aber ein zentraler Teil dieses Antrages, das kostenfreie letzte Kita-Jahr, ist immer noch nicht umgesetzt.
Ich erinnere noch einmal daran: Wir haben dies beschlossen, aber wir haben es noch nicht geschafft, das umzusetzen. Auch hier müssen wir weitere Schritte vorangehen.
Ich möchte nun noch auf die Infrastruktur eingehen. Ich bin zurzeit viel in den Kindertagesstätten unterwegs. Eigentlich ist die Situation kaum zu begreifen. Wir sind ein reiches Land. Das wird auch in der UNICEF-Studie deutlich. Bei uns ist relativ viel Geld und Kapital vorhanden, teilweise auch in den Familien. Wir haben aber Kindertagesstätten, in denen Kinder nach wie vor hungrig nach Hause geschickt werden. Alle Beteiligten wissen das. Die
Einrichtungen wissen: Dieses Kind geht nach Hause und wird die Woche über nie eine warme Mahlzeit bekommen. Aber niemand will die notwendigen Mittel dafür zur Verfügung stellen. Wir haben Schulen in denen zwar Kantinen gebaut wurden, bei denen sich die Schulträger aber mit der Frage herumquälen, wie sie das Mittagessen für die Kinder finanzieren können, wobei auch die erhöhte Mehrwertsteuer und andere Dinge eine Rolle spielen.
- Ich habe gerade heute Morgen eine entsprechende Mail bekommen. Wenn in einer Schulkantine ein Essen für 2,40 € bestellt wird, kommen 46 Cent an Mehrwertsteuer dazu. Dann sind die Eltern bei einem Preis von fast 3 €. Sie mögen darüber lachen. Für die Schulen, für die Eltern ist die Mehrwertsteuererhöhung aber ein Problem.
Bei meinen Besuchen in Kitas und Schulen wird deutlich, dass das Geld in unserer Gesellschaft fehlt, um die Kinder in öffentlichen Einrichtungen gesund zu ernähren. Schauen Sie einmal nach Finnland oder nach Schweden! Dort wird dies anders geregelt. Dort ist es so, dass der Staat sehr viel mehr Mittel für Infrastruktur ausgibt und auch sehr viel mehr Mittel für den frühkindlichen Bereich zur Verfügung stellt.
Wir müssen in Deutschland dringend umsteuern. Wir haben - auch in Schleswig-Holstein - Handlungsmöglichkeiten. Dies gilt auch im Hinblick auf das Kostenargument. Ich bin als Finanzpolitikerin ja immer sehr darauf bedacht zu sagen: Das Ganze muss auch finanzierbar sein. Ich wundere mich allerdings immer wieder über die Prioritätensetzung der Landesregierung! Ich erinnere noch einmal an den Schleswig-Holstein-Fonds mit über 100 Millionen €. Es handelt sich dabei um Haushaltsmittel, welche - selbstverständlich - schuldenfinanziert sind. Die 26 Millionen € für das kostenfreie KitaJahr sind aber nicht vorhanden. So werden Prioritäten in Deutschland gesetzt und das kritisieren wir.
Welche Konsequenzen ziehen wir daraus, wenn es immer wieder neue Schlagzeilen über Kindervernachlässigung und Kinderarmut gibt? Welche Konsequenzen ziehen wir daraus, dass Kinder hungrig nach Hause gehen und keine warmen Mahlzeiten bekommen? Welche Konsequenzen ziehen wir daraus, dass das Betreuungsangebot nicht ausreicht? Welche Konsequenzen ziehen wir daraus, dass Kinder in Sportvereinen, in Kindertagesstätten, bei
Freizeitangeboten, in Musikschulen abgemeldet werden, weil Eltern das Geld für solche Einrichtungen fehlt? Welche Konsequenzen ziehen wir daraus, dass Kinder sich oft schämen, in Armut zu leben, und alles tun, um zu vermeiden, dass sichtbar wird, dass sie in Armut leben, wobei sie selbst ein differenziertes System entwickelt haben, um irgendwie durchzukommen?
Ich wünsche mir, dass der Schleswig-Holsteinische Landtag den Mut hat, Konsequenzen aus der UNICEF-Studie zu ziehen. Meine Fraktion hat dazu mehrere Anträge gestellt. Ich erinnere in diesem Zusammenhang auch an den Antrag zum Gesundheitsdienstgesetz. Dieser Antrag befindet sich bereits seit anderthalb Jahren in der Beratung. Ich hoffe, dass wir bei der Beratung vorankommen. Ich sage Ihnen zu: Meine Fraktion wird nicht lockerlassen, im Interesse der Kinder weitere konkrete Anträge zu stellen und Handlungsfelder für SchleswigHolstein und für den Bundesrat zu eröffnen.
Ich schließe mit dem Gedanken, den ich bereits zu Anfang angesprochen habe. Es geht uns nicht um die Sanierung der Sozialkassen. Es geht uns nicht darum, für den Arbeitsmarkt genug Leute zu akquirieren, sondern es muss schlicht darum gehen, dass wir uns gemeinsam darauf verständigen, dass jedes Kind in Deutschland und damit auch in SchleswigHolstein ein Recht hat, geliebt und geachtet zu werden, und dass unsere Gesellschaft einem Kind die entsprechende Wertschätzung entgegenbringen muss. Davon ist unsere Gesellschaft leider noch weit entfernt. Hier müssen wir nachbessern. Wir müssen den Familien auch helfen, wieder zu einem vernünftigen Dialog mit ihren Kindern zu kommen.
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Die UNICEF-Studie ist keine PISA-Studie. Sie ist dies weder inhaltlich noch vom Aufbau her, also handwerklich betrachtet. Dennoch ist sie ein Wink mit dem Zaunpfahl, wenn es um die Entwicklungschancen unserer Kinder geht.
Die UNICEF-Studie ist in dem Zusammenhang zu sehen, dass es jetzt auch im Rahmen der UN um die Kinderrechte geht. Nicht so sehr der Aspekt, dass
Heide Simonis Ministerpräsidentin in SchleswigHolstein war, sondern eher der Aspekt, dass die UN sich im internationalen Zusammenhang immer wieder mit Kinderrechten beschäftigen, sollte im Mittelpunkt stehen, wenn es um die Analyse der genannten Studie geht. Die Studie spricht gewissermaßen eine ganze Reihe von offenen Baustellen an. Der große Bereich von Schule und Bildung spielt natürlich eine zentrale Rolle. Für Schleswig-Holstein heißt das aus unserer Sicht, dass wir uns jetzt, da wir das Schulgesetz beschlossen haben, auch intensiv mit der Umsetzung dieses Gesetzes befassen müssen. Aus unserer Sicht heißt das auch: Aufgepasst an der Bahnsteigkante! Im Moment befinden sich sehr viele Verordnungen in der Phase der Anhörungen auf ministerieller Ebene. Einige dieser Verordnungen erfüllen nicht das, was eigentlich Intention des Gesetzes ist. Ich nenne als Beispiel die Gemeinschaftsschulverordnung. Mir ist von Menschen, die mit der Gemeinschaftsschule zu tun haben, gesagt worden, dass der Entwurf des Ministeriums restriktiver ist als zum Beispiel das, was seitens der KMK vorgesehen ist. Ich denke mir, dieser Kritik müssten wir im Ausschuss auf jeden Fall noch einmal nachgehen, damit wir in den Verordnungen auch wirklich das umsetzen können, was wir mit dem Gesetz erreichen wollen.
Eine weitere wichtige Baustelle ist natürlich all das, was mit Familien- und Kinderförderung zu tun hat. Es ist richtig, dass viel geschehen ist und dass sich auch Geld für diese Förderung im System befindet. Die Frage ist aber, ob das Geld auch dort ankommt, wo es ankommen muss. So sind zum Beispiel Steuererleichterungen aus Sicht des SSW nicht der richtige Weg, weil Steuererleichterungen auch immer voraussetzen, dass Steuern abgeschrieben werden können. Wir wollen, dass Familien und Kinder direkt gefördert werden und dass auch Betreuungsmaßnahmen direkt gefördert werden. Von daher haben wir auch wenig Verständnis dafür, dass jetzt eine Diskussion über Plätze in Betreuungseinrichtungen und Kinderkrippen neu entflammt. Es kann natürlich nicht so sein, dass man sagt: Jetzt sollen alle gezwungen werden, einen Krippenplatz in Anspruch zu nehmen. Wir wollen, dass Eltern in dieser Hinsicht wirklich die Wahl haben. Diese haben sie aber nicht und Frauen haben sie allemal nicht.
Eine weitere Baustelle hat mit dem schwierigen Thema der Beziehungen von Kindern zu ihren Eltern und auch zu ihren Freunden zu tun, also auch damit, wie Kinder sich selbst einschätzen. Ich finde, dieser Aspekt ist fast das Deprimierendste an
der ganzen Studie. Die diesbezüglichen Gegebenheiten werden natürlich nicht einfach zu ändern sein, weil wir es in diesem Zusammenhang auch mit einer Kultur zu tun haben, die in vieler Hinsicht in Verbindung mit einer kinderfeindlichen Gesellschaft zu sehen ist. Ich möchte in Erinnerung rufen, dass wir immer wieder von Verwaltungsgerichtsurteilen hören, die dieses Bild bestätigen. Wie kann man Eltern also dazu bringen, sich mehr mit ihren Kindern zu beschäftigen? Man kann so etwas nicht verordnen, sondern muss dies von der Gesellschaft her immer wieder fordern und fördern. Man muss dafür Rahmenbedingungen schaffen. Man muss in der Schule in Zusammenarbeit mit den Eltern auch entsprechende Anregungen geben. Ich denke, das ist das wirklich große Problem.
Vor dem Hintergrund der demografischen Entwicklung, die ja dazu führen wird, dass Kinder in unserer Gesellschaft bald eine Minderheit darstellen, wird es ganz schwierig sein, diese Kultur zu ändern. Ich will hier jetzt nicht die skandinavische Karte spielen. Allerdings meine ich, dass ein Besuch in Schweden für viele doch sehr hilfreich wäre, weil man dort natürlich akzeptiert, dass Kinder sich nicht nur am gesellschaftlichen Leben zu beteiligen haben und dies auch tun können, und selbstverständlich auch davon ausgeht, dass in einer Gemeinschaft Raum für Kinder und Familien vorhanden sein muss.
Die Kinderarmut ist ein Kapitel für sich. Kinderarmut ist nicht nur eine materielle Armut, sondern sie ist, wie die Kollegin Heinold vorhin zu Recht sagte, auch eine Armut, die damit zusammenhängt, dass Kinder nicht die Möglichkeiten und Chancen erhalten, welche andere mit besseren materiellen Möglichkeiten haben. Das heißt also, sie können nicht an schulischen Veranstaltungen teilnehmen, sie können an Veranstaltungen insgesamt wenig teilnehmen, sie können also nicht das machen, was ihre bessergestellten Freundinnen und Freunde in der Schule tun können. Ich denke, das ist ein Armutszeugnis für unsere Gesellschaft schlechthin. Das ist letztlich auch Ausdruck dafür, dass wir eine Steuerpolitik betreiben, die kinderfeindlich und familienfeindlich ist.
Den gesamten Bereich Gesundheit werde ich nicht weiter ansprechen, weil das etwas ist, was wir in letzter Zeit in vielen Landtagsdebatten behandelt haben. Klar ist aber, dass zu den Entwicklungschancen von Kindern auch dazugehört, dass sie in einem gesunden Umfeld aufwachsen und dass Jugendliche mit ihren Rauch- und Trinkgewohnheiten
konfrontiert werden müssen. Dazu gibt es Projekte, auch Projekte der Landesregierung und auf der Bundesebene, aber diese Projekte müssen verstetigt werden. Ich denke, vielleicht könnte das eine Schlussfolgerung dieser Studie sei. Wir haben ganz viele Projekte in Schleswig-Holstein und in der Bundesrepublik als Ganzes. Die Projekte laufen aber immer wieder aus. Wir haben keine Verstetigung dieser Projekte. Wir bauen Beratungsstrukturen auf, wir bauen Parallelstrukturen auf, die dann von engagierten Menschen gefördert und durchgeführt werden. Wenn dann die Projektdauer zu Ende ist, fallen viele dieser guten Intentionen wieder in ein schwarzes Loch.
Ich denke, das ist im Grunde genommen das größte Problem und das, was für uns in den kommenden Jahren die größte Herausforderung sein wird, nämlich wie wir uns auf wichtige Vorhaben konzentrieren können, sodass diese Vorhaben auch weiter existieren können, also institutionell gefördert werden und nicht nur über Projektförderungen laufen.
Ich fasse zusammen: Die UNICEF-Studie hat viele offene Baustellen im Kinder- und Jugendbereich offenbart. Der Baumeister - das sind wir, das ist aber auch die Landesregierung - hat noch keinen durchdachten Bauplan, um diesen Bau auch endlich fertigzustellen. Ich denke, wir müssen hier sagen: Ärmel hochkrempeln und anpacken!
Das Wort für die Landesregierung hat die Ministerin für Soziales, Gesundheit, Familie, Jugend und Senioren, Frau Dr. Gitta Trauernicht.
Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Es ist gut, dass es UNICEF, dass es SOS-Kinderdörfer und andere Organisationen gibt, die sich für Kinder in aller Welt stark machen. Ich freue mich, dass UNICEF mit der nun vorgelegten Vergleichsstudie neuen Schwung in eine wichtige Debatte gebracht hat. Es geht um die Zukunft unserer Kinder. Dass es Handlungsbedarf gibt, zeigt das internationale Ranking. Deutschland ist nur Mittelmaß, wir müssen also etwas tun. Diese Studie ist wichtig, sie erweitert den Blickwinkel, sie nimmt
Vier Befunde aus dieser Studie sollten uns alle wachrütteln. Der erste Befund: Die Studie sagt, dass das Aufwachsen von Kindern sich an den Idealen des 19. Jahrhunderts orientiert, an der Lebenswelt der Industriegesellschaft. Sie formuliert das zugespitzt so: In den ersten drei Jahren schützt die Mutter das Kind, in den weiteren nächsten drei Jahren spielt das Kind im Kindergarten mit anderen Kindern und dann fängt der Ernst des Lebens in der Halbtagsschule an. Das ist ein Konzept, das nicht mehr dem Anspruch einer modernen Wissensgesellschaft Rechnung trägt. Deshalb brauchen wir eine gänzlich neue Weichenstellung für das Aufwachsen unserer Kinder.
Der zweite Befund, der uns wachrütteln sollte: Die kindliche Lebenswelt ist geprägt von Fragmentierung zwischen Familie und außerfamiliären Angeboten, zwischen Erziehungs- und Gesundheitssystem, zwischen Kindergarten und Schule und so weiter. Unsere Debatten sind geprägt von Einzelproblemen und von Mängeln: zu wenig Krippenplätze, mangelnde Erziehungsfähigkeit der Eltern, „Killerspiele“, mangelnde Geburtenrate. Diese Studie fordert uns auf, integrative Ansätze zu ergreifen, einen ganzheitlichen Blick auf die Entwicklung der Kinder zu nehmen. Das kann ich nur unterstützen. Das haben wir mit dem Kinder- und Jugendaktionsplan auch ganz bewusst so auf den Weg gebracht. Das ist kein Zufall, sondern der Kinderund Jugendaktionsplan Schleswig-Holstein ist bundesweit der einzige jugendpolitische Ansatz, der ganz konsequent die UN-Kinderrechtskonvention aufnimmt, den nationalen Plan für ein kindgerechtes Deutschland. Ich freue mich, dass nach zwei Jahren Implementierung dieses Plans nun wirklich klar wird, welche Bedeutung diesem Kinder- und Jugendaktionsplan beigemessen werden muss.
Deshalb werde ich diese UNICEF-Studie zum Anlass nehmen, den Verfasser, Herrn Prof. Bertram, nach Schleswig-Holstein einzuladen, mit uns gemeinsam zu diskutieren, wie wir im Lichte seiner Studie diesen Kinderund Jugendaktionsplan Schleswig-Holstein weiterentwickeln können.
Der dritte Befund, der uns wachrütteln sollte: Deutschland investiert zu wenig in die kindliche Entwicklung. OECD-Länder investieren im Durch