Bevor ich dem nächsten Abgeordneten das Wort erteile, lieber Herr Harms, möchte ich auf der Besuchertribüne sehr herzlich begrüßen die Schülerinnen und Schüler und die begleitenden Lehrkräfte des Carl-Maria-von-Weber-Gymnasiums aus Eutin und der Realschule Bad Bramstedt. - Seien Sie uns herzlich willkommen!
Frau Präsidentin! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Bereits kurz nach der Geburt werden die Neugeborenen gründlich untersucht und dies setzt sich hoffentlich auch in den Folgejahren fort. Selbstverständlich ist es notwendig, für diejenigen, bei denen dies nicht geschieht, Regelungen zu schaffen, damit das verbindlich läuft. Wir haben untereinander abgesprochen, dies über ein Gesundheitsdienstgesetz zu regeln. Das macht durchaus Sinn und ist vor allen Dingen die schnellste Möglichkeit, zu einer Lösung zu kommen.
Gleichzeitig möchte ich aber auch festhalten, dass es immer noch keine gemeinsame Auswertung der Daten gibt, die jetzt schon vorliegen. Hier wird eine Chance vertan. Dieses Feld ist gänzlich unbeackert. Trotzdem sollten wir hier am Ball bleiben und auf eine Auswertung gerade der Früherkennungsuntersuchungsdaten drängen. Das gäbe dann einen
Aufschluss darüber, wie der Gesundheitszustand der Kinder wirklich ist. Das ist etwas, von dem ich sage, da ist ein Blindfleck, der immer noch nicht beleuchtet worden ist. Leider ist es nicht der einzige Blindfleck.
Zur kindlichen Gesundheitsvorsorge gehören beispielsweise auch Impfungen. Die Ministerin ging leider auf diesen Komplex überhaupt nicht ein. Impfungen schützen nicht nur die Gesundheit des Impflings, sondern schützen auch andere Kinder. Gerade die Kleinsten, bei denen kein voller Impfschutz besteht, sind am besten dadurch geschützt, dass in ihrer Umgebung eine Infektionskrankheit gar nicht erst auftreten kann. Andererseits machen sich viele Eltern mit Recht Sorgen über mögliche Impfschäden, die auftreten könnten. Infektionskrankheiten spielen in Westeuropa keine Rolle mehr und darum sind sie weitgehend aus dem Bewusstsein der Leute verschwunden. Einige Mediziner warnen aber vor zu großer Impfzurückhaltung, weil damit die Krankheitserreger wieder Fuß fassen könnten. In den Landkreisen Passau und Rottal-Inn haben wir derzeit eine Masern-Epidemie, die die schlimmsten Befürchtungen vieler Impfbefürworter wahr werden lässt. Ich hätte mir gewünscht, dass der Bericht auch dieses Thema angesprochen hätte, zumal es schon einige solcher Epidemien gegeben hat. Stattdessen fehlt leider dieses Thema. Auch das gehört zum gesamten Gesundheitsbild der Kinder dazu.
Wenn wir über gesundheitliche Probleme bei Kindern reden, denken wir meistens an Gewaltopfer, deren Wunden, sowohl körperliche als auch seelische, verborgen bleiben, weil die Täter ausgerechnet die Personen sind, die sie auch versorgen. Eltern, die ihre Kinder schlagen, werden diese nicht beim Kinderarzt vorstellen, aus Angst, dass ihre Taten erkannt werden. Tun sie es doch, weil die Verletzungen schwerwiegend sind und nicht mehr vor der Umwelt verborgen werden können, sind die Täter sehr erfindungsreich, um den Zustand des Kindes zu erklären. Es bedarf schon bösgläubiger oder aber sehr erfahrener Ärzte, um die Wahrheit hinter den Geschichten erkennen zu können.
Nicht nur der Fall in Mecklenburg-Vorpommern, bei dem eine Mutter ihrer Tochter jahrelang ätzende Flüssigkeiten einflößte, um eine Versicherung zu betrügen, zeigt, wie lange schlimme Verletzungen nicht als Gewalttaten erkannt werden, vielleicht auch nicht erkannt werden konnten.
Wir haben es hier also mit einem mehrstufigen Problem zu tun. Zunächst einmal müssen wir gewährleisten, dass kindliche Gewaltopfer von behandelnden Ärzten genau als das erkannt werden. Da
nach müssen wir sicherstellen, dass die Kinder überhaupt einen Zugang zum medizinischen System haben. Dieses mehrschichtige Problem betrifft die gesamte Gesundheitsvorsorge bei Kindern.
Zur ersten Stufe, der Qualifikation von Ärzten und Pflegekräften, möchte ich ein Beispiel nennen. Erst seit 1971 wissen die Mediziner überhaupt um die Langzeitwirkungen des Schüttelns von Babys. Experten vermuten, dass einige Behinderungen auf das Schütteln des Kindes zurückzuführen sind. Wir wissen aus Kanada, dass jedes fünfte Kleinkind, das mit einem Schütteltrauma in ein Krankenhaus eingeliefert wird, seinen Verletzungen erliegt.
Wer also nur einmal die Nerven verliert und den Oberkörper eines Säuglings schüttelt, gefährdet massiv die Gesundheit seines Kindes. Bernd Herrmann, einer der führenden Experten für Kindesmisshandlung, geht davon aus, dass es in 90 % der Fälle zu Folgeschäden kommt.
Wir können insofern davon ausgehen, dass manch unklare Behinderung auf das Babyschütteln zurückgeht, aber nie mit ihm in Verbindung gebracht wird. Die behandelnden Ärzte müssen qualifiziert sein, um die Diagnose Schütteltrauma überhaupt stellen zu können. Beim Komplex Schütteltrauma geht es also um die fachliche Qualifikation der Ärzte, die in Erst- und Weiterbildung gewährleistet werden muss.
Wie sieht es aber mit den Rahmenbedingungen für die ärztliche Arbeit aus? - Die Kinderärzte sind die am schlechtesten verdienende Facharztgruppe überhaupt. Der SSW begrüßt, dass diese Ungerechtigkeit zumindest von einigen Kassen behoben wird. In dem Bericht wird die Landwirtschaftliche Krankenkasse erwähnt, die eine umfangreiche und gründliche Untersuchung mit dem höchsten Punktwert honoriert. Einen finanziellen Anreiz für eine gründliche Untersuchung zu setzen, ist prinzipiell nichts Ehrenrühriges, sondern funktioniert in der Praxis sehr gut. Bedauerlich ist nur, dass nicht andere Krankenkassen diesem Vorbild folgen.
Die ausgesprochen schlechte Bezahlung der Kinderärzte hängt mit der geringen Apparatenutzung der Kinderärzte zusammen. Je mehr sie beraten, desto weniger verdienen sie, weil die Punkte immer noch den technischen Einsatz überbewerten. Dieser Missstand muss umgehend behoben werden, um auch die Anzahl der Kinderärzte zu erhöhen. Die wenigen, die es gibt, können gerade noch den akuten Bereich abarbeiten. Für langwierige Untersuchungen oder Gespräche mit den Eltern muss man in Schleswig-Holstein in der Regel mit mehreren
Die Ärzte müssen qualifiziert sein und in den Stand gesetzt werden, den kindlichen Patienten in seinen lebensweltlichen Zusammenhängen kennenzulernen. Das ist derzeit nicht ausreichend gewährleistet.
Das ist aber nicht das einzige Problem: In der zweiten Stufe geht es um Kinder, die gar nicht zum Arzt gebracht werden - mag er nun qualifiziert sein für Kindervorsorge oder nicht.
Wir haben bereits in vergangenen Sitzungen über entsprechende Anträge gesprochen, wie auch diesen Kindern ein Zugang zu medizinischen Leistungen eröffnet werden kann. Die Position des SSW war immer eindeutig: Wir befürworten ein flächendeckendes System der gesundheitlichen Vorsorge für alle Kinder. Dabei geht es beileibe nicht nur um die Aufdeckung familiärer Gewalt, sondern um eine gründliche Untersuchung, damit Krankheiten und Behinderungen möglichst frühzeitig erkannt werden können.
Darum fordert der SSW eine aufsuchende Betreuung ohne stigmatisierende Wirkung. Das geschieht bereits: Das Schutzengel-Projekt in Flensburg ist schon oft gelobt worden. Dort werden die Mütter ertüchtigt, aus einer teilweise seit Generationen bestehenden Spirale der Gewalt und Vernachlässigung auszusteigen. Die Hebamme im SchutzengelProjekt ersetzt für viele Mütter das Gespräch mit der eigenen Mutter.
Dieser nachhaltige und niedrigschwellige Einsatz muss auf eine stabile finanzielle Grundlage gestellt werden. Die Flensburger Frauen sind ständig auf der Suche nach Spenden, um ihre unbürokratische Arbeit überhaupt machen zu können. Eine Finanzierung mit 20.000 € jährlich beim derzeitig laufenden landesweiten Modellprojekt ist darum völlig unzureichend.
Das Sozialministerium hat zwar auch die Notwendigkeit aufsuchender Sozialarbeit erkannt, zögert aber bei der Finanzierung von Strukturen und vertraut stattdessen auf die Nachhaltigkeit des Wortes.
Bei wichtigen Themenfeldern stellt die Ministerin die Information über Konferenzen und den gegenseitigen Austausch der Profis in den Mittelpunkt. Der Grund liegt auf der Hand: Es ist schlicht und einfach billiger als die dauerhafte Einrichtung einer Personalstelle. So ist es auch beim SchutzengelProjekt, siehe Seite 9 im Bericht, wo es um eine Infobroschüre, Treffen und Konferenzen geht. Es geht beim Schutzengel-Projekt aber weniger um ein
Informationsdefizit, sondern eher um ein Betreuungsdefizit. Und das kann nur durch bezahlte Profis geleistet werden.
Die Projektphase des Schutzengels läuft 2009 aus. Dann könnte man die Arbeit bei der derzeitigen Konstruktion einstellen: Denn Strukturen wurden nicht geschaffen. Das, was bei neuen Ansätzen durchaus lobenswert ist, nämlich erst einmal zu schauen, wie eine Maßnahme überhaupt wirkt und angenommen wird, ist beim Schutzengel überhaupt nicht nötig. Schließlich liegen die Erfahrungen vor. Deshalb fordern wir als SSW sofort eine stabile institutionelle Förderung für Familienhebammen.
Die Politik im SSW - so ist es und so wird es auch in Zukunft sein - sieht die Nutzung bestehender Strukturen vor. Das ist allemal besser, als für jede neue Aufgabe eine neue Organisation zu schaffen.
Nicht nur der Koordinierungsbedarf zwischen den Einheiten steigt dramatisch, auch die Kontrolle ist nicht immer gewährleistet. In schleswig-holsteinischen Gemeinden haben wir ein gut funktionierendes öffentliches Gesundheitswesen. Dort sollten die Kompetenzen für die Früherkennung zusammengefasst werden.
Das öffentliche Gesundheitswesen ist unabhängig und im besten Sinne neutral. Seine Sichtweise umfasst bereits per Definition nicht nur die medizinischen Verhältnisse, sondern auch das soziale Umfeld, also genau das, was eine nachhaltige Früherkennung bei Kindern ausmacht. Diese Aufgabe erfüllen die Gesundheitsämter bereits heute. Wenn Sie die Untersuchungen des Kinder- und Jugendärztlichen Dienstes in Schleswig-Holstein lesen, werden Sie feststellen, dass der SSW in seiner Position mehr als bestätigt wird. Dort werden nämlich alle Aufgaben genannt, die für eine Gesundheitsförderung bei Kindern wichtig sind: von der Koordination der Förderung bis hin zur Schuleingangsuntersuchung. Das sollte in allen Gesundheitsämtern so gehandhabt werden.
Damit kommen wir zur dritten Stufe: Was geschieht eigentlich nach Feststellung eines Förderbedarfes? - Schließlich geht es bei Kindern nicht um die statistische Erfassung der Krankheiten und Behinderung, sondern um deren Therapie.
Natürlich wird ein Kinderarzt beim Verdacht von Kindesmisshandlungen das Jugendamt in Kenntnis setzen. Doch wir sprechen heute nicht nur über die Aufdeckung von Gewalt, sondern über allgemeine Gesundheitsvorsorge. Wie arbeiten Kinder- und
Fachärzte zusammen? Wer - vom Physiotherapeut bis zum Logopäden - koordiniert die anderen medizinischen Dienstleistungen? Wer ist maßgeblich bei Fragen der zu gewährenden Leistungen, unabhängig davon, ob sie aus Mitteln der Krankenkassen, der Sozialhilfe oder der Jugendhilfe gezahlt werden? - Hier gibt es noch Koordinationsprobleme, die auch ganz konkrete Auswirkungen auf die Gesundheit der Kinder und Jugendlichen haben. Ich hätte mir gewünscht, wenn das Ministerium einen Überblick über diese Situation gegeben und vielleicht sogar einen Lösungsvorschlag unterbreitet hätte.
Der Bericht zeigt, dass in Schleswig-Holstein schon ein dichtes Netz zur Stärkung der Kindergesundheit geknüpft wurde. Doch wie die Lücken in der Umsetzung und Koordination geschlossen werden sollen, geht aus dem Bericht leider nicht hervor. Genau dieses Thema sollten wir anpacken.
Ich danke Herrn Abgeordneten Lars Harms. - Für die SPD-Fraktion hat nun Frau Abgeordnete Jutta Schümann das Wort.
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Es ist in den letzten Jahren eine ganze Menge geschehen; das zeigt der Bericht auf. Dass bei den Themen Kindeswohlgefährdung und Kindergesundheit nie genug getan werden kann, zeigt der Bericht auch auf. Insofern sind wir schon ein Stück weiter, aber zufrieden können wir mit dem Ergebnis nach wie vor nicht sein.
Meine Kollegin Frau Tenor-Alschausky hat bereits darauf hingewiesen: Fast täglich müssen wir leider auch in unserer unmittelbaren Umgebung feststellen, dass die schwächsten Mitglieder der Gesellschaft immer noch nicht ausreichend gegen Vernachlässigung, Misshandlung und sexuellen Missbrauch geschützt sind.
Es ist problematisch, dass Kinder heute immer noch bis zum Eintreten der Schulpflicht der staatlichen Wächterfunktion weitestgehend entzogen werden können. In diesem Zeitraum kann somit auch das Gemeinwesen mit dem zurzeit bestehenden rechtlichen Instrumentarium nur einen unvollständigen Schutz gewähren. Dieses Instrumentarium müssen
Wir können dem Bericht entnehmen, dass Früherkennungsuntersuchungen eine hohe Akzeptanz genießen; circa 95 % der Eltern lassen ihr Kind im ersten Lebensjahr von einem Kinderarzt oder einer Kinderärztin untersuchen. Erfahrungswerte zeigen, dass die Nichtteilnahme an der Früherkennungsuntersuchung ein Indiz dafür sein kann, dass die Eltern der ihnen zugeschriebenen Fürsorgepflicht nicht ausreichend nachkommen. Die Feststellung, welche Kinder an diesen Untersuchungen nicht teilnehmen, kann somit ein sehr wichtiger Ansatzpunkt für helfende Eingriffe der Kinder- und Jugendhilfe und des öffentlichen Gesundheitsdienstes sein.
Wir haben in Schleswig-Holstein in der vorigen Legislaturperiode ein Gesundheitsdienstgesetz mit dem Ziel erlassen, auf gesunde und gesundheitsförderliche Lebensverhältnisse hinzuwirken und gleiche Gesundheitschancen für alle anzustreben. Dieses Gesetz sieht im § 7 unter der Überschrift „Kinder- und Jugendgesundheit“ vor, dass die Kreise und kreisfreien Städte die Gesundheit von Kindern und Jugendlichen fördern sollen. Da geht es auch um die Früherkennung von Krankheiten, Behinderungen, Entwicklungs- und Verhaltensstörungen bei Kindern und Jugendlichen und die damit in Zusammenhang stehenden notwendigen Untersuchungen. Wir sollten dieses Gesetz nutzen - dies wurde heute schon herausgestellt - und ein verbindliches Einladungswesen für die kostenfreien Früherkennungsuntersuchungen schaffen.
Wir benötigen landesgesetzliche Grundlagen, die dem staatlichen Schutzauftrag zu Artikel 6 Abs. 2 Grundgesetz Rechnung tragen