Protokoll der Sitzung vom 16.06.2005

Vor dem Hintergrund der Frage, was in Anbetracht der demographischen Entwicklung modern in einer Gesellschaft ist, brauche ich keine weiteren Ausführungen zu machen. Wir haben immer wieder darüber gesprochen, dass es immer weniger junge Erwerbsfähige und immer mehr ältere potenzielle Leistungsempfänger gibt. Liebe Kolleginnen und Kollegen von den Grünen und den Sozialdemokraten, Sie vergessen, dass Sie mit einem System für alle, wie Sie Ihre Bürgerversicherung nennen, nicht nur den mit B10 besoldeten Staatssekretär hineinziehen. Es gibt sehr viel mehr Beamte der Gehaltsstufen A4, A5 und A6, die Sie da mit hineinzwingen und für die sofort ein Leistungsanspruch ausgelöst wird. Insofern belasten

(Dr. Heiner Garg)

Sie dieses System finanziell noch mehr als bisher, denn es steht sowieso schon unter Druck.

(Günter Neugebauer [SPD]: Der weiß nicht, worüber er redet!)

- Lieber Kollege Neugebauer, das ist der köstlichste Zwischenruf, den ich in diesem Zusammenhang gehört habe. Ich bin fest davon überzeugt, dass wir die Lösung der Probleme, die vor uns liegen, nur dann schaffen, wenn wir ganz ehrlich sagen, dass wir die Kosten der sozialen Sicherung endlich komplett vom Erwerbseinkommen entkoppeln müssen und nicht weiterhin die Kopplung ans Erwerbseinkommen haben dürfen.

Die Bürgerversicherung bedeutet nichts anderes als eine weitere Koppelung der Kosten der sozialen Sicherung an die Erwerbseinkommen, und zwar nicht für 90 % der Bevölkerung, sondern für 100 % der Bevölkerung. Wenn wir die Entkopplung der Kosten der sozialen Sicherung vom Erwerbseinkommen nicht schaffen, lieber Kollege Hentschel, haben wir auch in Zukunft eine Strafsteuer auf Arbeit. Es wird dann immer eine Strafsteuer auf Arbeit bleiben, egal wie Sie das in Zukunft nennen.

Lieber Kollege Müller, im Übrigen wirkt auch eine Erhöhung der Mehrwertsteuer regressiv gerade auf untere Einkommen. Insofern hinkt dieser Vergleich.

Lassen Sie mich zur Bürgerversicherung Folgendes ausführen.

Herr Abgeordneter, gestatten Sie eine Zwischenfrage von Herrn Abgeordneten Dr. Stegner?

Ja, selbstverständlich gern.

Herr Kollege, kennen Sie irgendeinen Experten außerhalb der FDP oder einen Finanzminister - wenn ja, dann seien Sie bitte so freundlich, uns zu verraten, wer das ist -, der das FDPSteuerkonzept so beurteilt, dass sich dadurch nicht Ausfälle in Milliardenhöhe für den Staat ergeben und dass es nicht gravierende Verteilungsungerechtigkeiten mit sich bringt?

Herr Abgeordneter, meine zweite Frage ist: Kennen Sie mehr als ein Land in Europa, das eine niedrigere Kapitalbesteuerung und eine niedrigere Mehrwertsteuer hat als Deutschland? Wenn ja, wäre es nett, wenn Sie es dem hohen Hause verraten würden.

- Sehr geehrter Herr Kollege Abgeordneter Stegner, würden Sie bitte zur Kenntnis nehmen, dass ich Ihre Ausführungen zur Bürgerversicherung und zur Erhöhung der Mehrwertsteuer angesprochen habe und nicht über das Steuersystem der Bundesrepublik Deutschland referiert habe. - Herzlichen Dank!

Nun zur Bürgerversicherung! Das gescheiterte Umlagesystem wird nicht besser, wenn immer mehr Menschen in dieses System hineingezwungen werden. Die Bürgerversicherung kann allein deshalb nicht funktionieren, weil sie alle zwangsverpflichtet. Angeblich sollen alle erheblich weniger Beiträge einzahlen, als sie dann tatsächlich an Leistungen in Anspruch nehmen. Die Bürgerversicherung würde die soziale Sicherung noch stärker an die Löhne schweißen und damit würde es noch schwieriger, die Massenarbeitslosigkeit abzubauen. Die Bürgerversicherung ist deshalb besonders ineffizient, Herr Kollege Hentschel, weil die Versicherten keine Anreize haben, sorgsam mit den Ressourcen des Gesundheitswesens umzugehen. Die individuellen Beiträge stehen dabei in keinerlei Verhältnis zu dem, was letztlich an Leistungen erbracht wird.

Die Kopfpauschale oder Gesundheitsprämie, wie sie die Union fordert, kennzeichnet den Weg in die richtige Richtung. Die Kopfpauschale hat den großen Vorteil, dass wir es endlich schaffen würden, die Entkopplung der Kosten der sozialen Sicherung vom Erwerbseinkommen zu erreichen. Allerdings haben wir es bei der Kopfpauschale oder der Gesundheitsprämie - ganz egal, wie man das Kind nennt - nach wie vor mit dem Problem der Fehlanreize zu tun. Es gibt keinen Zusammenhang zwischen den individuellen Beiträgen, dem individuellen Risiko und den in Anspruch genommenen Leistungen. Das heißt, auch bei der Gesundheitsprämie ist eine Übernutzung von Leistungen vorprogrammiert.

Ich will die letzten zwei Minuten meiner Redezeit dazu nutzen, Ihnen Mosaiksteine einer aus unserer Sicht ehrlichen Lösung kurz zu skizzieren.

(Zuruf des Abgeordneten Günter Neugebauer [SPD])

- Herr Neugebauer, Sie können nachher gern Ihre Vorschläge referieren. Ich trete jedenfalls für einen staatlich festgelegten Grundleistungskatalog ein, der politisch verantwortet werden muss. Dabei gilt selbstverständlich Kontrahierungszwang für sämtliche Versicherungsanbieter, damit keine negative Risikoauslese stattfinden kann. Ebenso gilt eine Jahresbeitragsbemessungsgrenze von 0 €. Das heißt, in dieses System werden alle einbezahlen müssen. Die Arbeitgeberanteile sollen in Zukunft auf die Gehälter umgelegt werden und es sollen risikoäquivalente

(Dr. Heiner Garg)

Versicherungsprämien kalkuliert werden, damit die Kosten der Inanspruchnahme endlich transparent und offen gelegt werden. Natürlich muss es auch in einem solchen System eine soziale Komponente geben. Es wird immer Menschen geben - seien es Familien mit Kindern, seien es Geringverdiener oder seien es ältere Mitbürgerinnen und Mitbürger -, die sich eine risikoäquivalent kalkulierte Versicherungsprämie nicht leisten können. Genau für diejenigen brauchen wir dann steuerfinanzierte Zuschüsse, damit sie sich eine solche Grundabsicherung auch leisten können. Kollege Müller, erst dann, wenn wir so weit sind, können wir in die Debatte darüber eintreten, wie wir die steuerfinanzierten Zuschüsse tatsächlich leisten können.

(Zuruf von der SPD)

- Das ist doch eine Selbstverständlichkeit -. Sie wollen doch etwas ganz anderes. Sie wollen heute die Mehrwertsteuer erhöhen, können aber keine Garantie dafür geben, dass sie tatsächlich zur Senkung der Lohnnebenkosten verwendet wird. Diese Garantie können Sie nicht übernehmen. Schon die Abgabenordnung spricht dagegen.

Wenn Sie heute die Mehrwertsteuer erhöhen, fließt das Aufkommen automatisch in den Bundeshaushalt. So einfach ist das. Sie können niemandem garantieren, dass Sie auf diesem Wege irgendwann tatsächlich einmal zur Reform der sozialen Sicherungssysteme kommen und dann auch steuerfinanzierte Transfers leisten können. Wir brauchen erst die Reform. Erst dann kann über die Frage diskutiert werden, wie wir steuerfinanzierte Zuschüsse für diejenigen finanzieren, die wirklich darauf angewiesen sind.

(Beifall bei der FDP)

Für die Abgeordneten des SSW erteile ich nunmehr der Vorsitzenden, Frau Abgeordneter Anke Spoorendonk, das Wort.

Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Wer auch immer die Bundestagswahl im September gewinnt, er steht vor einer Herkulesaufgabe. Denn nicht nur das Problem der viel zu hohen Arbeitslosigkeit und der maroden öffentlichen Kassen, sondern auch das Problem der sozialen Sicherungssysteme muss angepackt werden.

(Zuruf des Abgeordneten Holger Astrup [SPD])

- Lieber Kollege Astrup, das kann sich ja noch ändern. - Die rot-grüne Bundesregierung hat diese Prob

lematik zwar erkannt, weiß aber auch nicht, wie sie mit dieser Erkenntnis umzugehen hat. Die so genannte Agenda 2010, die Bundeskanzler Schröder im März 2003 verkündete und die ja gerade auch die Probleme der sozialen Sicherungssysteme lösen sollte, ist bestenfalls ein Schritt in die richtige Richtung gewesen. Schlimmstenfalls bedeutet sie aber nur ein Herumdoktern an den Symptomen und keine Heilung des schwer erkrankten Patienten namens Sozialstaat Deutschland.

Die aktuelle Lage der sozialen Sicherungssysteme deutet darauf hin, dass wir heute, zwei Jahre nach dem Start der Agenda 2010, kaum weitergekommen sind. Das soll heißen: Alle vier Säulen der sozialen Sicherungssysteme stehen vor großen Herausforderungen und sind im Grunde mit dem jetzigen System nicht mehr finanzierbar. Auch das ist keine neue Erkenntnis, denn bereits im Sommer 2003 diskutierte der Schleswig-Holsteinische Landtag den Umbau des Sozialstaates. Der SSW hatte dazu einen Antrag mit dem Titel „Grundlegender und sozial gerechter Umbau der Sozialsysteme nach skandinavischem Vorbild“ eingebracht. In diesem Antrag, der vom Schleswig-Holsteinischen Landtag mit den Stimmen von SPD, Grünen und SSW verabschiedet wurde, forderten wir eine Erhöhung der Mehrwertsteuer ausschließlich zur Senkung der Lohnnebenkosten und zur Entlastung der Renten-, Kranken-, Arbeitslosen- und Sozialversicherung.

(Beifall bei SSW und BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

In unserem Antrag wurde schon damals kritisiert, dass die Agenda 2010 viel zu kurz greift, weil die versicherungsbasierte Finanzierung der Sozialsysteme nicht in ihrer Grundausrichtung geändert wird. Auch die damalige Landesregierung mit Finanzminister Stegner griff im letzten Jahr dieses Thema in ihrem Zehnpunkteprogramm zu einer Steuerreform auf, wobei es aber leider so ist, dass es auch innerhalb des rot-grünen Lagers keine Einigkeit über den Weg gab, wie die damalige Diskussion zeigte.

Auch in der großen Koalition in Schleswig-Holstein ist man sich nicht einig. Dazu hat es auch verschiedene Veröffentlichungen gegeben. Während Wirtschaftsminister Austermann öffentlich gegen eine Mehrwertsteuererhöhung kämpft, scheinen Innenminister Stegner und auch Finanzminister Wiegard einer Mehrwertsteuererhöhung eher positiv gegenüberzustehen. Der Innenminister hat ja sogar eine Bundesratsinitiative der Landesregierung angekündigt. Nun warten wir alle gespannt darauf, ob die gesamte Landesregierung hinter dieser Forderung steht.

(Anke Spoorendonk)

Liebe Kolleginnen und Kollegen, auf der Bundesebene ist nunmehr deutlich geworden, dass weder CDU/CSU noch FDP bisher überzeugende Konzepte für den Umbau der Sozialsysteme haben. Das haben die öffentliche Debatte in den letzten Tagen und das Durcheinander der Meinungen in der Union deutlich gezeigt. Auch die Union weiß nicht, auf welchem Bein sie eigentlich stehen soll. Eines dürfte aber klar sein: Ein weiterer einseitiger, perspektivloser Sozialabbau - quasi in Verlängerung einer neuen Agenda 2010, jetzt einfach „Agenda Arbeit“ genannt - wird von der Mehrheit der Bevölkerung kaum akzeptiert werden.

(Beifall beim SSW)

Die Menschen wollen Reformen, aber sie müssen als gerechte Reformen empfunden werden.

Wir begrüßen es daher, dass die Grünen einen wichtigen Teilaspekt der Reformen der sozialen Sicherungssysteme aufgegriffen haben und in ihrem Antrag eine Senkung der Lohnnebenkosten und eine Erhöhung der Mehrwertsteuer fordern. Die Zielsetzung des Antrags der Grünen beschreibt einen Weg, den man in Deutschland beschreiten könnte. Der SSW unterstützt die Zielsetzung des Antrages. Wir wollen einen finanziell handlungsfähigen Staat und ein solidarisches Konzept für eine alternde Arbeitsgesellschaft und ihre Sozialsysteme.

(Beifall bei SSW und SPD)

Dabei orientieren wir uns nicht von ungefähr an der Entwicklung in den skandinavischen Ländern.

(Dr. Ekkehard Klug [FDP]: Überraschung!)

- Ja, das ist so. Wir wollen also einen grundlegenden Umbau des Sozialstaates mit einer steuerfinanzierten sozialen Sicherung. Dieses Modell zeichnet sich durch relativ hohe Sozialleistungen, hohe Mehrwertsteuer, niedrige Lohnnebenkosten und eine geringe Arbeitslosenquote aus.

Natürlich kann man das erfolgreiche Sozialstaatsmodell der skandinavischen Länder nicht einfach auf Deutschland übertragen - und auch zwischen Dänemark, Schweden und Norwegen gibt es zum Teil erhebliche Unterschiede. Aber die Grundidee, dass nicht allein der Faktor Arbeit für die soziale Sicherung aufkommt, sondern dass man viel stärker den Konsum zur Finanzierung des Sozialstaates heranzieht, gilt für alle diese Länder.

(Beifall bei SSW und BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

Der SSW unterstützt also eine Senkung der Lohnnebenkosten durch die schrittweise Erhöhung der

Mehrwertsteuer. Wichtig ist, dass die Erhöhung der Mehrwertsteuer nicht zur Haushaltsanierung genutzt werden darf. Sie könnte aber dennoch die Haushalte und die öffentlichen Finanzen positiv beeinflussen. Denn das Deutsche Institut für Wirtschaftsförderung hat im Frühjahr diesen Jahres eine sehr aufschlussreiche Analyse zu diesem Thema präsentiert.

Das DIW hat Berechnungen darüber vorgelegt, welche Auswirkungen so eine Initiative haben würde - für die Bürgerinnen und Bürger und für die Wirtschaft in diesem Land. Bei einem schrittweisen Vorgehen über mehrere Jahre könnten über eine halbe Million neuer Arbeitsplätze entstehen und gleichzeitig würde die finanzielle Situation der öffentlichen Haushalte und der Sozialkassen stark verbessert. Denn durch die Senkung der Lohnnebenkosten sinken die Lohnstückkosten und damit die Kosten für den Einsatz des Produktionsfaktors Arbeit. Dazu gehört auch, dass das DIW vorschlägt, die Beitragssätze für Arbeitgeber und Arbeitnehmer symmetrisch zu senken, damit die Akzeptanz der Umgestaltung erhöht wird. Entgegen der üblichen Auffassung wird auch unterstrichen, dass bei einer Mehrwertsteuererhöhung die Arbeitnehmerhaushalte durch diese Umfinanzierung keineswegs im Vergleich zu den anderen Haushaltstypen stärker belastet werden.

Unter Einrechnung der preissenkenden Wirkungen der Lohnstückkosten zeigt sich für sozialversicherungspflichtige Beschäftigte und Rentner sogar eine absolute und relative Verbesserung ihrer Einkommen. Das DIW weist aber auch darauf hin, dass der Staat die Reform nicht für eine Konsolidierung seines Haushalts missbrauchen darf. Aber bei einer ausgewogenen Kombination von Mehrwertsteuererhöhung und aufkommensneutraler Senkung der Beitragssätze der Arbeitnehmer und Arbeitgeber um rund 50 Milliarden € kann man das Beschäftigungsniveau in Deutschland dauerhaft um eine halbe Millionen Personen anheben. Dabei handelt es sich überwiegend um Vollzeitarbeitsplätze. Das sagt das Deutsche Institut für Wirtschaftsförderung.

(Beifall bei SSW und BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

Natürlich sind dies Modellberechnungen, aber die Erfahrungen aus Ländern, in denen man eine höhere Mehrwertsteuer und niedrigere Lohnnebenkosten hat, zum Beispiel in Großbritannien, deuten darauf hin, dass sie richtig sind. Deutschland liegt mit seiner Mehrwertsteuer von 16 % am untersten Ende der Skala in der EU. Die durchschnittliche Mehrwertsteuer liegt in den Ländern der Europäischen Union bei etwa 20 %. Hier ist also noch ein großer Spielraum, den der Staat nutzen sollte - immer unter der Voraus

(Anke Spoorendonk)