Protokoll der Sitzung vom 06.10.2010

(Beifall bei BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und der LINKEN)

Liebe Kolleginnen und Kollegen, die Bundesregierung hat eine Milchmädchenrechnung vorgelegt, die gravierende Fehler enthält. Zu den statistischen Berechnungen heißt es:

„Wie schon 2003 wird auch bei der Neuberechnung der Regelleistungen jeweils das unterste Einkommensfünftel in den Blick genommen.“

Mit anderen Worten, es sind die untersten 20 %.

Jetzt kommt es: Am 1. Oktober veröffentlicht das BMAS nach großem Protest die statistischen Rohdaten, die Grundlage der Berechnungen waren. Hier lese ich in der Anlage zu Artikel 1, dass als Referenzgruppe nicht - wie angegeben - die untersten 20 %, sondern die untersten 15 % der nach dem Haushaltsnettoeinkommen sortierten Haushalte herangezogen wurden. Wenn Sie mich fragen, dann ist das entweder ein grober Fehler oder der ein Einstieg in eine Sozialpolitik nach Kassenlage.

(Beifall bei BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN, SPD, der LINKEN und SSW)

So etwas darf nicht passieren, und wir Grünen fordern hier eine Korrektur.

Zum zweiten Fehler: Seit Einführung des SGB II gibt es die Möglichkeit, bei einem niedrigen Einkommen ergänzende SGB-II-Leistungen in Anspruch zu nehmen. Das Phänomen der sogenannten Aufstocker dürfte uns allen bekannt sein. Auf Seite drei des genannten Papiers des BMAS heißt es:

„Damit keine Zirkelschlüsse auftreten können, werden alle Haushalte herausgerechnet, die ausschließlich von staatlichen Transferleistungen leben … “

Das heißt, CDU und FDP ignorieren schlichtweg, dass es Aufstocker gibt. Auch das ist ein gravierender statistischer Fehler, den ich hier ausdrücklich kritisiere.

(Beifall bei BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN, der LINKEN, SSW und vereinzelt bei der SPD)

Kommen wir zum nächsten Punkt! In einem sogenannten Bildungspaket werden die Leistungen für Kinder und Jugendliche zusammengefasst. Jeder Euro mehr, der den Kindern und Jugendlichen zu

(Anita Klahn)

gutekommt, ist eine sinnvolle Investition in die Zukunft. Ich hoffe, dass wir uns zumindest in diesem Punkt alle einig sind. Im Bildungspaket ist allerdings vorgesehen, in den Jobcentern parallel Strukturen zur Kinder- und Jugendhilfe aufzubauen. Das ist sicherlich nicht kosteneffizient, das ist sicherlich nicht sinnvoll. Ein adäquates Mittel gegen die wachsende Kinderarmut ist es auch nicht.

(Beifall bei BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und der LINKEN)

Angebote wie das Projekt „Kein Kind ohne Mahlzeit“, das sich in Schleswig-Holstein bewährt hat, sind auf eine verlässliche Finanzierung angewiesen. Hier ist aber kein Land in Sicht. Wir Grünen halten das für schlichtweg fahrlässig. Es darf nicht passieren, dass ein Teil der Kinder am Ende leer ausgeht.

(Beifall bei BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN, der LINKEN und vereinzelt bei der SPD)

Zu dem von der FDP gebetsmühlenartig geforderten Lohnabstandsgebot kann ich nur sagen: Auch hier haben wir Grünen eine Lösung. Wir wollen einen gesetzlichen Mindestlohn.

(Zurufe von der FDP: Wie hoch?)

Wer morgens um sechs Uhr aufsteht und den ganzen Tag arbeitet, der muss von seiner Hände Arbeit leben können.

(Beifall bei BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN, der LINKEN und SSW)

Diejenigen, die Arbeit haben, müssen anständige Löhne und Gehälter bekommen, denn mit ihrer Leistung ermöglichen sie unseren Sozialstaat erst.

(Beifall bei BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN, der LINKEN und vereinzelt bei der SPD - Christopher Vogt [FDP]: Können sie davon leben?)

Sehr geehrter Herr von Boetticher, ich höre Ihnen sehr gern zu. Ich bedanke mich für Ihr flammendes Plädoyer für einen Mindestlohn.

(Beifall bei BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN, der LINKEN und vereinzelt bei der SPD)

Rechnen Sie Ihr Beispiel noch einmal für den Fall durch, dass derjenige nicht 8,50 € bekommen würde!

Zusammenfassend steht für mich fest: Die Ermittlung der Regelsätze und die geplanten Änderungen sind nicht transparent, nicht fair und nicht zukunftsorientiert. Sie sind statistisch falsch, unfair und unsozial. Das, was CDU und FDP hier vertre

ten, spricht nicht für soziale Kälte. Es spricht für statistische Fehler und für den Beginn einer sozialen Eiszeit.

(Zurufe von der FDP: Oh, oh!)

Jetzt sind die politischen Streitereien vorprogrammiert. Warum haben Sie nicht aus unseren Fehlern gelernt und eine unabhängige Expertenkommission mit der Berechnung betraut?

(Beifall bei BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und der LINKEN)

5 € mehr pro Monat sind keine Antwort auf die Frage nach dem menschenwürdigen Existenzminimum. Sie sind eine sozialpolitische Bankrotterklärung. Im Namen meiner Fraktion fordere ich die Landesregierung auf, sich für Nachbesserungen einzusetzen.

(Beifall bei BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN, der LINKEN und SSW)

Für die SSW-Fraktion erteile ich Herrn Kollegen Flemming Meyer das Wort.

(Zuruf des Abgeordneten Dr. Robert Habeck [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN] - Dr. Christi- an von Boetticher [CDU]: Wenn Sie einstel- lig werden wollen, dann machen Sie weiter so!)

Herr Landtagspräsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Ich bin jetzt ein kleines bisschen enttäuscht. Wir reden hier über Menschen. Wir reden über Schicksale. Jetzt haben wir hier wieder eine Debatte darüber, wer woran schuld ist, wer was wann gemacht hat. Das nützt diesen Menschen kein bisschen, das will ich mit aller Deutlichkeit sagen.

(Beifall bei SSW und SPD)

Wenn wir also heute hier stehen und über die Regelleistungen nach ALG II diskutieren, dann ist die Voraussetzung dafür, dass eine Klage eingereicht worden ist. Daher muss man sich fragen: Warum hat man überhaupt geklagt? - Grundlage dieser Klage war doch, dass wir in einem Sozialstaat leben und dass wir Wertevorstellungen haben, Wertevorstellungen, die allen Menschen ein menschenwürdiges Leben gewährleisten sollten. Das ist die Voraussetzung. Das genau haben die bisherigen Regelsätze nicht getan. Sie haben nicht gewährleistet, dass man ein menschenwürdiges Existenzmini

(Dr. Marret Bohn)

mum hat. Diese Regelsätze haben nicht gewährleistet, dass man Teilhabe an dem sozialen, politischen und kulturellen Leben hatte.

Ich möchte bei dieser Gelegenheit ganz deutlich sagen: Kein Hartz-IV-Empfänger ist schuld an der Finanzkrise gewesen.

(Beifall bei SSW, BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- NEN und der LINKEN)

Die haben ganz andere verzockt. Kein Hartz-IVEmpfänger ist schuld an der Wirtschaftskrise gewesen. Sie müssen das aber mit ausbaden. Wir alle wissen, dass gerade hier in Deutschland der Bildungserfolg unheimlich abhängig davon ist, wie die soziale Herkunft ist. Dieser Zirkel sollte endlich einmal gebrochen werden. Auch das gewährleistet diese Berechnung nicht.

Die Klage hatte zur Folge, dass das Bundesverfassungsgericht die bisherige Berechnung für verfassungswidrig erklärt hat. Es wurde ganz klar gesagt, dass sie intransparent und willkürlich sei. Besonders wurde die Situation der Kinder genannt, bei der man prozentual etwas auf der Basis der Erwachsenen ausrechnet. Ich möchte daran erinnern, dass der damalige Präsident des Gerichts, Herr Hans-Jürgen Papier, mit ganz klaren Worten gesagt hat: Die Regelleistungen genügen dem Grundrecht auf Gewährleistung eines menschenwürdigen Existenzminimums nicht. Die einschlägigen Regelungen sind daher verfassungswidrig. Das war eine deutliche Sprache. Im Klartext heißt das: Es waren nicht nur die Willkür und die Intransparenz, sondern auch ein menschenwürdiges Existenzminimum, das nicht gewährleistet war.

(Beifall beim SSW)

Deshalb müssen wir ganz klar sehen, ob die neuen Regelsätze diesem Urteil gerecht werden. Hier muss ich ganz klar sagen: Nein. Der Verdacht, dass hier nach Kassenlage vorgegangen worden ist, ist ganz deutlich. Ich weiß, die Bundeskanzlerin hat dies abgelehnt und gesagt: Nein, das war keine Entscheidung nach Kassenlage, das waren objektive Kriterien. Liebe Damen und Herren, wie objektiv waren diese Kriterien aber wirklich?

(Beifall bei SSW, BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- NEN und der LINKEN)

Man nimmt die einkommensschwächsten Gruppen. Dazu gehören auch die sogenannten Aufstocker. Welche Kriterien sind wirklich objektiv? - Wenn wir einmal sehen, auf was für eine Grundlage die Datenbasis gestellt ist, von der hier gesprochen wird, dann muss man ganz klar sagen: Keine von

diesen Familien, die man untersucht hatte, war wirklich in der Lage, all dies deutlich darzustellen. Diese Familien konnten nicht genau Buch darüber führen, wie zum Beispiel die Ausgaben für Essen für 14- bis 18-jährige Kinder aussahen. Darüber kann man nicht Buch führen. Wenn man das von Karlsruhe geforderte sozio-kulturelle Existenzminimum an einer Sozialschicht messen will, für die das sozio-kulturelle Existenzminimum schon seit Jahren nicht mehr gegeben ist, dann kann man niemals zu objektiv richtigen Resultaten kommen.

(Beifall bei SSW, BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- NEN, der LINKEN und vereinzelt bei der SPD)

Auf dieser Grundlage belassen wir die Hilfebedürftigen in der Armutsfalle. Damit setzen wir eine Politik der sozialen Kälte fort. Außerdem können wir damit nicht die unveränderte Spaltung in unserer Gesellschaft ändern.