Protokoll der Sitzung vom 26.05.2011

Ich rufe die Tagesordnungspunkte 15, 31 und 35 zur gemeinsamen Beratung auf:

Gemeinsame Beratung

a) Solidarität mit den demokratischen Bewegungen weltweit/humanitäre EU-Flüchtlingspolitik statt Festung Europa

Antrag der Fraktion DIE LINKE Drucksache 17/1363 (neu)

b) Dem Ruf nach Bürgerrechten, Demokratie und Freiheit folgen - Nordafrika unterstützen und Flüchtlingen eine Perspektive bieten!

Antrag der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN Drucksache 17/1498

Änderungsantrag der Fraktion von CDU und FDP Drucksache 17/1552

c) Sofortiger Abschiebestopp nach Syrien

Antrag der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN Drucksache 17/1511

Änderungsantrag der Fraktion DIE LINKE Drucksache 17/1545

Abschiebung nach Syrien aussetzen

Änderungsantrag der Fraktionen von CDU und FDP Drucksache 17/1553

Sofortiger Abschiebestopp nach Syrien

Änderungsantrag der Fraktion der SPD Drucksache 17/1562

Wird das Wort zur Begründung gewünscht? - Das ist nicht der Fall. Ich erteile für die Fraktion DIE LINKE dem Herrn Abgeordneten Heinz-Werner Jezewski das Wort.

Frau Präsidentin! Kolleginnen und Kollegen! Wir reden heute über die Entwicklung in Tunesien, in Ägypten, in Algerien, im Iran, in Libyen, in Jordanien, in Syrien, in Saudi-Arabien, in Bahrain, im Oman, im Sudan und im Jemen. Das allein sind zwölf Länder mit zusammengezählt etwa 320 Millionen Einwohnern.

Wir reden nicht über den Rest von Nordafrika, wir reden nicht über Eritrea, Äthiopien, Somalia, den Tschad, Niger, Nigeria, Mali, Burkina Faso und die Elfenbeinküste und so weiter. Würden wir über Nordafrika reden, würden wir über eine Region reden, die weitaus bevölkerungsreicher ist als die gesamte Europäische Union.

Das Mittelmeer ist die geografische Grenze zwischen Südeuropa und Nordafrika, es ist aber auch die Grenze zwischen ungeheurer Armut und ungeheurem Reichtum. Zwischen Syrien und Italien liegen wenige Kilometer Mittelmeer, dazwischen liegen aber auch mehr als 30.000 US-Dollar Unterschied im Bruttoinlandsprodukt pro Kopf der Bevölkerung und Jahr.

Mich wundert es, dass angesichts dieser Verhältnisse so wenige Menschen den Weg von Nordafrika nach Europa antreten, aber das ist erklärlich. Die Menschen in den oben genannten Staaten lieben ihre Heimat genauso, wie wir unsere Heimat lieben, sie haben dort Familien, wie wir unsere Familien hier haben, und sie wollen diese Familien ebenso wenig im Stich lassen, wie wir dies tun würden.

Wenn sie das dann aber tun und ihre Heimat verlassen, haben sie gute Gründe dafür. Zu diesen Gründen zählen: Verfolgung durch staatliche Stellen, Gefängnis, Folter oder Angst vor dem Tod.

(Stellvertreter des Ministerpräsidenten Dr. Heiner Garg)

Viele Menschen, die die gefährliche Reise über das Mittelmeer angetreten sind, sind schwer traumatisiert von dem, was ihnen in ihren Heimatländern angetan worden ist. Das eine ist es jetzt, die demokratischen Bewegungen in Nordafrika zu begrüßen, sie zu feiern, das andere ist es aber, denen beizustehen, die Opfer der Regime geworden sind, gegen die sich die demokratischen Bewegungen gebildet haben.

(Beifall bei der LINKEN und BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

Es verdienen nicht nur diejenigen unsere Solidarität, die in ihrer Heimat gegen die Unterdrückung kämpfen, sondern auch diejenigen, die glauben, ihren Kampf verloren zu haben und dort nicht mehr leben zu können. Die Europäische Union ist eine der reichsten Wirtschaftsräume auf dieser Welt, Deutschland ist das wirtschaftskräftigste Land in diesem Raum. Ich weiß, dass Schleswig-Holstein nicht zu den reichen Bundesländern gezählt wird, aber verglichen mit dem Tschad, Burkina Faso oder Syrien sind die Verhältnisse, in denen wir hier leben, geradezu phantastisch. Um es zu verdeutlichen: Das Bruttoinlandsprodukt pro Einwohner betrug im Tschad 2007 749 US-Dollar im Jahr, in Syrien betrug es zu diesem Zeitpunkt 2.579 USDollar, in Deutschland hingegen 40.875 US-Dollar, annähernd mehr als 40.000 € als im Tschad. Angesichts dieser Zahlen erscheint es mir zynisch, von Hilfe im Rahmen unserer finanziellen Möglichkeiten zu reden, wie es Union und FDP in ihrem Änderungsantrag tun.

Meine Fraktion hat in dem Ihnen vorliegenden Antrag die Schritte beschrieben, die jetzt dringend notwendig sind, um das Leid der Menschen zu lindern, die aus Nordafrika nach Europa gekommen sind und noch kommen. Es geht darum, den Menschen schnell und unbürokratisch Hilfe zu leisten. Dabei ist Deutschland besonders gefordert, weil es die europäische Solidarität erfordert, diese Belastungen nicht allein den Mittelmeeranrainern und speziell Italien aufzuerlegen. Es geht aber auch darum, den Menschen die Angst vor der Abschiebung oder der Zurückführung in die Verhältnisse zu nehmen, denen sie gerade entkommen sind.

Dabei ist Deutschland besonders gefordert, weil wir aus unserer Geschichte wissen, wie wichtig es sein kann, Flüchtlingen Sicherheit zu geben. Es geht darum, den Flüchtlingen hier und jetzt eine Lebensperspektive zu geben. Dabei ist Deutschland besonders gefordert, weil wir von allen europäischen Ländern dafür die besten Voraussetzungen haben. Es geht darum, andere, die vielleicht noch

nachfolgen werden, nicht an den europäischen Außengrenzen mit Waffengewalt abzuwehren, oft genug um den Preis ihres Lebens, sondern ihnen Rechte zu gewähren, Rechte, auf die die europäische Staatengemeinschaft sehr lange Zeit stolz gewesen ist, allen voran das Recht eines jeden Verfolgten auf Asyl.

(Beifall bei der LINKEN sowie der Abgeord- neten Luise Amtsberg [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN])

Für die Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN erteile ich der Frau Abgeordneten Luise Amtsberg das Wort.

Frau Präsidentin! Meine verehrten Kolleginnen und Kollegen! Mit unglaublich viel Mut und Beharrlichkeit haben Tausende von Menschen in den nordafrikanischen Staaten und auf der arabischen Halbinsel in den vergangenen Monaten auf wirklich beeindruckende Art und Weise ihren Forderungen nach Menschen- und Bürgerrechten Ausdruck verliehen. In friedlichen Protesten haben sie deutlich gemacht, dass sie den verkrusteten Macht- und Gesellschaftsstrukturen der vorherrschenden Korruption und staatlichen Repression den Kampf ansagen. Die grüne Fraktion zollt diesen Menschen für ihren Einsatz für Demokratie und Freiheit den größten erdenklichen Respekt.

(Beifall bei BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

Unser Mitgefühl gilt aber auch denjenigen, die in den vergangenen Monaten und auch in diesen Tagen Freunde, Partner oder Familie verloren haben, denn was mit dem Ruf nach Bürgerrechten, politischer Partizipation und Freiheit begann, ist in einigen Ländern in unerträgliche Gewalt ausgeartet. Die Inhaftierung von Menschen und Bürgerrechtlern, das brutale Niederschlagen von Protesten durch die Staatsführung muss uns in Europa interessieren. Es muss uns berühren, und flüchtlingspolitisch muss es uns zum Handeln bewegen.

(Beifall bei BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

Die Situation an den europäischen Außengrenzen veranlasst uns in vielerlei Hinsicht zur Sorge, und vor allem veranlasst es uns, erneut über den Umgang mit Flüchtlingen in Europa und an Europas Grenzen nachzudenken. Denn eines lässt sich schon jetzt mit Sicherheit sagen: Was sich Europa und die Europäischen Regierungen derzeit politisch liefern,

(Heinz-Werner Jezewski)

ist alles andere als ruhmreich, im Gegenteil, es ist beschämend. Ich kann nur noch den Kopf schütteln über so viel Blindheit, denn statt über eine Neuausrichtung einer gemeinsamen und humanitären Asylpolitik zu sprechen oder zu verhandeln, die auf die aktuellen politischen Herausforderungen reagiert, stecken Konservative in ganz Europa den Kopf in den Sand. Daraus folgt, dass man die Grundpfeiler der europäischen Union infrage stellt, indem man nicht zuletzt auch bei uns beginnt, über die Wiedereinführung von Grenzen innerhalb Europas zu diskutieren. Während in Lampedusa und Malta Tausende hilfsbedürftige Flüchtlinge landen, schieben sich die europäischen Innenminister den Schwarzen Peter zu. Die Empathie und die Solidarisierung mit den protestierenden Menschen in der arabischen Welt kann vor diesem Hintergrund nicht mehr ernst genommen werden.

(Beifall bei BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und der LINKEN)

Der grüne Antrag „Dem Ruf nach Bürgerrechten, Demokratie und Freiheit folgen“ greift genau diese Punkte auf und macht deutlich, was verändert werden muss. Vieles hat der Kollege Jezewski schon angesprochen. Für ein Europa der gemeinsamen Verantwortung muss als Allererstes die DublinII-Verordnung zurückgenommen werden, denn sie steht in einem eklatanten Widerspruch zur europäischen Idee. Das Gleiche gilt für Frontex. Frontex verstößt gegen die Genfer Konvention und das Zurückweisungsverbot von Flüchtlingen an den EUAußengrenzen. Um eine geregelte Flüchtlingsaufnahme zu gewährleisten, müssen wir uns endlich bundesweit und auch im Land für Relocation- und Resettlement-Programme einsetzen.

(Beifall bei BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN, der LINKEN und SSW)

Verehrte Kolleginnen und Kollegen, wir als Land müssen uns bereit erklären, Flüchtlinge aufzunehmen, damit die unverschämte Zahl von 100 Menschen des schwarz-gelben Innenministers, die auf die Tagesordnung gerufen wurde, hoffentlich endlich als geistige Verirrung oder so zu den Akten gelegt werden kann.

Die Ereignisse an den europäischen Außengrenzen sind nicht so weit weg, wie manche das hier im Parlament vielleicht glauben, denn derzeit leben 133 syrische ausreisepflichtige Menschen in Schleswig-Holstein, und somit befinden sich die Geschehnisse in Syrien derzeit irgendwie auch direkt mitten unter uns. Dass Syrien schon seit Jahren kein demokratischer Partner war, dürfte allen klar sein.

Ich erinnere an den Fall von Ismail Abdi, den wir in den Medien in den letzten Wochen und Monaten verfolgen durften, ein deutscher Staatsbürger, ein Kieler, der wegen politischer Aktivitäten in Syrien festgehalten und nicht freigelassen wird. Wir kämpfen bereits seit acht Monaten um seine Freilassung.

Da der derzeitige Erlass keinen formellen Abschiebestopp darstellt - ich beziehe mich jetzt auf den Antrag „Abschiebestopp nach Syrien“ -, keinen subsidiären Schutz nach § 60 liefert, hat die grüne Fraktion diesen Antrag gestellt und fordert einen halbjährigen Abschiebestopp nach Syrien, damit den Betroffenen - das ist der Unterschied zum Antrag der CDU-Fraktion - die Angst genommen wird, dass die Entscheidung über Abschiebung eine Ermessensfrage bleibt, und Rechtssicherheit geschaffen wird.

(Beifall bei BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und des Abgeordneten Rolf Fischer [SPD])

Außerdem ist es ein wichtiges politisches Signal nach Berlin, denn in Berlin wird man sich in Zukunft sehr genau damit auseinandersetzen müssen, ob man mit Staaten wie Syrien in Zukunft solche Geschichten wie Rücknahmeabkommen macht. Ich glaube, dass es einem demokratischen Staat nicht gut zu Gesicht steht.

Dem Antrag der LINKEN können wir zustimmen, dem der SPD auch, den der CDU lehnen wir ab, weil er der Rechtssicherheit, die wir für diese Menschen verlangen, nicht gerecht wird.

(Beifall bei BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN, SPD und der LINKEN)

Für die CDU-Fraktion erteile ich der Frau Abgeordneten Astrid Damerow das Wort. - Begrüßen Sie vorher mit mir Schülerinnen und Schüler der Polizeidirektion für Aus- und Fortbildung aus Eutin sowie Mitglieder der Wählergemeinschaft Bad Schwartau auf der Besuchertribüne. - Herzlich willkommen im Haus!

(Beifall)

Frau Präsidentin! Verehrte Kolleginnen und Kollegen! Meine Damen und Herren! Selbstverständlich sind wir solidarisch mit allen Menschen, die sich friedlich für Demokratie einsetzen und in den Regionen, um die es heute geht, um Demokratie ringen. Herr Jezewski, das ist nicht nur plattes Feiern,

(Luise Amtsberg)