Protokoll der Sitzung vom 29.06.2011

Sie opfern den Rechtsstaat bewusst möglichen Wählerstimmen. Das ist auch von einem Innenminister fahrlässig.

(Zuruf des Abgeordneten Wolfgang Kubicki [FDP])

Statt für die notwendige Klarheit bei Polizistinnen und Polizisten zu sorgen, bieten Sie billige Anbiederei und individuelle Rechtsinterpretationen, die offenkundig unseriös sind. Leider ist Unseriosität der gewohnte Stil dieser Landesregierung, meine sehr verehrten Damen und Herren.

(Beifall bei der SPD und vereinzelt bei der LINKEN - Lachen bei der FDP)

Sie, Herr Ministerpräsident, Sie schweigen immer, wenn es um die Sache geht. Sie verhalten sich eher wie der Frühstücksdirektor dieser Landesregierung und nicht wie der Regierungschef.

(Zuruf des Abgeordneten Wolfgang Kubicki [FDP])

Herr Innenminister, jeder macht mal Fehler. Nutzen Sie heute die Aktuelle Stunde für einen Rückzieher, und bereinigen Sie diesen Vorgang! Tun Sie das nicht, dann ist zumindest eines klar: Dann ist für dieses Hohe Haus klar, dass für Sie die Partei Vorrang vor dem Land hat. Erst kommt die Partei, dann kommt das Land. Das ist offenkundig Ihr Kalkül. Sie sollten in sich gehen, Sie sollten heute die Gelegenheit nutzen und das bereinigen! Die Landesregierung sollte übrigens deutlich machen - vielleicht sollten das auch die regierungstragenden Fraktionen

tun -, was denn nun gilt - das, was Herr Schlie sagt, oder das, was Herr Schmalfuß sagt. - Ich kann Ihnen nur sagen: Wir stehen an der Seite von Herrn Schmalfuß.

(Beifall bei SPD, BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- NEN, der LINKEN und SSW)

Das Wort erteile ich dem Vorsitzenden der CDUFraktion, Herrn Abgeordneten Dr. Christian von Boetticher.

Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Der Tagesordnungspunkt heißt ja „Auffassungen der Landesregierung über Grenzen der richterlichen Unabhängigkeit und Gewaltenteilung“ und suggeriert damit natürlich, es ginge genau um diese Grenze, um eine Überschreitung oder sogar um die Aufhebung der Gewaltenteilung.

Ich erspare mir jetzt die Ausführung, dass wir die Vorstellungen von Montesquieu zur Gewaltenteilung nicht im Grundgesetz verankert haben und auch nicht in unserer Verfassung. Wir haben eine Gewaltenverschränkung. Vielleicht lesen Sie das noch einmal nach. Ich erspare mir jetzt Ausführungen dazu.

(Zuruf von BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

Worum geht es konkret? - Im vorliegenden Fall hat ein Polizeihauptmeister Pfefferspray als Mittel des unmittelbaren Zwangs eingesetzt. Eine Richterin hat dann am 6. Juni 2011 entschieden, ihn aufgrund von Körperverletzung in einem minderschweren Fall zu einer Geldstrafe zu verurteilen.

Unbestritten dürfte auch sein, dass dieses Urteil, ohne Rechtskraft zu erlangen, eine umfassende Debatte verursacht hat. Denn vier Tage später, als Allererste in diesem Land, veröffentlichten die SPDAbgeordneten Kai Dolgner und Thomas Rother eine Presseerklärung,

(Christopher Vogt [FDP]: Aha!)

aus der ich mit Erlaubnis des Präsidenten zitieren darf. Es heißt dort:

„Dieses Urteil verunsichert viele Polizistinnen und Polizisten im Land, die sich gerade in typischen Wohnungseinsätzen schwer abschätzbaren Gefahren aussetzen. Wir halten es für dringend notwendig, dass Innenminister Schlie im Innen- und Rechtsausschuss be

(Dr. Ralf Stegner)

richtet, welche Folgen dieses Urteil für den Streifendienst hat. Die Beamtinnen und Beamten dürfen in dieser schwierigen Situation nicht auch noch mit der Rechtsunsicherheit bei der Wahl der geeigneten Mittel im Regen stehen gelassen werden.“

(Demonstrativer Beifall bei der SPD)

Es ist eine ausdrücklich kritische Befassung mit einem Urteil, von dem Sie eben gesagt haben, dass man es zu diesem Zeitpunkt noch gar nicht kennen konnte. Sie haben also den Stein der Kritik in das Wasser geworfen, der an den nächsten Tagen eine sehr umfangreiche Berichterstattung sowie eine innerpolizeiliche Debatte ausgelöst hat. Sie haben recht: 806 Gewaltfälle gegen Polizisten seit dem Jahr 2010 sind genug, um sie zumindest als Anlass zur Sorge zu nehmen und einer breiten Diskussion zuzuführen, wie das die SPD gemacht hat.

Herr Abgeordneter, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Herrn Abgeordneten Dr. Dolgner?

Herr Kollege Dr. von Boetticher, vielen Dank, dass auch Sie aus unserer Pressemitteilung zitieren. Das passiert nicht so häufig.

Wenn Sie sie vorliegen haben, dann können Sie mir auch sagen, an welcher Stelle wir den Herrn Innenminister auffordern, sieben Tage vor der besagten Innenausschusssitzung einen Brief an die Amtsrichterin zu schreiben? - Können Sie mir sagen, an welcher Stelle der Brief des Herrn Innenministers den Polizeibeamtinnen und Polizeibeamten angesichts der Verunsicherung, die dieses Urteil zweifellos ausgelöst hat, eine Hilfe ist in der jetzt geschilderte Situation?

- Sie haben ihn natürlich nicht aufgefordert. Es wäre ja auch noch schöner, wenn der Herr Innenminister ständig eine Aufforderung der Opposition nötig hätte, um selbstständig zu handeln. Das hat er getan.

(Zurufe von SPD und BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

Er hat das aufgenommen, was Sie zu Recht „Verunsicherung der Polizeibeamtinnen und Polizeibeamten“ genannt haben. Er hat die Richterin daraufhin angeschrieben, um sie in genau dieselbe Kenntnislage zu versetzen, nämlich dass ihr Urteil - ohne dass er das Urteil in irgendeiner Form genannt hätte - Folgen hat, nämlich die Diskussion innerhalb der Polizei, die Sie im Anschluss mit angestoßen haben. Er hat gesagt, er halte das Urteil darum für nicht unproblematisch. Ich halte das - gelinde gesagt - für eine freundliche Formulierung. Er verweist auf zunehmende Gewalt gegen Polizisten. Das würden Sie doch auch tun und er lädt die Richterin ein, ihn bei einer Nachtfahrt zu begleiten. Daran eine Beeinflussung der Justiz festzumachen, wobei das Urteil schon gesprochen ist, ist an dieser Stelle wirklich hanebüchen.

(Beifall bei der CDU)

Wer durch eine Kritik und durch kritische Äußerungen die Unabhängigkeit der Justiz in Gefahr sieht, der hat ein merkwürdiges Rechtsverständnis.

(Zurufe von BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

Ich sage ganz deutlich: Die Unabhängigkeit der Justiz ist ein hohes Gut. Ich sage Ihnen aber auch: Es gibt eine noch höhere Unabhängigkeit in unserer Verfassung, und das ist die Unabhängigkeit des Abgeordneten, der nur seinem eigenen Gewissen unterworfen ist.

(Weitere Zurufe)

Liebe Kolleginnen und Kollegen, Herr Abgeordneter von Boetticher hat das Wort.

Er ist keiner Weisung, er ist keinen Aufträgen, er ist nur seinem Gewissen unterworfen. Trotzdem, und das wird wohl niemand bestreiten, dürfen, können und müssen wir uns jeden Tag der Kritik stellen. Wir kriegen Kritik, bevor wir Dinge beschließen, wir kriegen Kritik in der Debatte. Das ist richtig. Dazu sagte übrigens einmal der berühmte Sozialdemokrat Otto Wels: Für die Demokratie ist Kritik heilsam und notwendig.

Das, was der Herr Innenminister gemacht hat, ist Kritik äußern, das stimmt. Aber niemand - auch nicht die Justiz - steht außerhalb von Kritik in einem demokratischen Rechtswesen. Ich glaube, auch die Justiz muss sich kritische Bemerkungen - sei es

(Dr. Christian von Boetticher)

von Bürgerinnen und Bürgern, sei es von Abgeordneten oder von Teilen der Exekutive - gefallen lassen und sich mit dieser Kritik auseinandersetzen. Das hat mit Beeinflussung oder mit richterlicher Unabhängigkeit nichts zu tun.

(Thorsten Fürter [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- NEN]: Laufendes Verfahren!)

- Sie haben das doch auch gemacht. Sie haben sich auch in einem laufenden Verfahren geäußert. Auch die SPD hat sich in diesem Verfahren geäußert. Es ist doch ein Irrglaube, zu glauben, man dürfe sich erst dann äußern, wenn ein Verfahren in einer nächsten Instanz abgeschlossen ist. Das haben wir in Deutschland nie gehabt. Es gibt umfangreiche Presseberichterstattungen zu laufenden Verfahren.

Darum sage ich noch einmal: Kritik ist notwendig, Kritik ist heilsam. Auch die Justiz steht nicht außerhalb von Kritik und außerhalb der Möglichkeit, sich kritisch mit Urteilen zu beschäftigen.

Herr Abgeordneter, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Herrn Abgeordneten Dr. Habeck?

Vielen Dank, Herr Kollege von Boetticher. Sie haben die Aktuelle Stunde zitiert. - Können Sie mich hören? - Ich nehme das andere Mikrofon.

(Zuruf: Dann hört es draußen keiner!)

- Das ist schade.

- Ich kann damit leben, dass das draußen keiner hört. - Ich mache das ohne Mikrofon. Sie haben den Titel der Aktuellen Stunde zitiert und die Auffassung der Landesregierung genannt. Sie haben vor allem den Herrn Innenminister verteidigt. Dabei haben Sie die Formulierung gewählt: Wer eine andere Auffassung hat, der hat - aus dem Kopf zitiert - ein merkwürdiges Rechtsverständnis. Entnehme ich daraus, dass Sie dem Justizminister attestieren, ein merkwürdiges Rechtsverständnis zu haben? - Was ist die Auffassung der Landesregierung? - Die des Herrn Innenministers haben wir schriftlich vorliegen.

- Ich glaube, dazu äußert sich nachher die Landesregierung relativ deutlich. Ich sage aber auch, dass