Protokoll der Sitzung vom 16.09.2011

Gestatten Sie noch eine Zusatzfrage, Frau Kollegin?

Ja, natürlich.

Vielen Dank, Frau Kollegin. Wie bewerten Sie es, dass in der sehr flexiblen Eingangsphase der Förderbedarf bei den meisten Kindern gar nicht mehr festgestellt wird? Er wird gar nicht mehr erhoben.

- Das stimmt ja gar nicht. Natürlich wird der erhoben. Es wird in der Schuleingangsuntersuchung festgestellt, ob noch ein Förderbedarf besteht, beziehungsweise ob ein Defizit besteht. Das sind doch die Schuleingangsuntersuchungen, die im Kreis durchgeführt werden.

(Zuruf von BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

- Nein, das stimmt nicht.

Ich möchte jetzt gern in meiner Rede fortfahren. Zu Recht ist in allen Investitionsprogrammen das barrierefreie Bauen zentraler Bestandteil geworden. Um Inklusion zu einer Selbstverständlichkeit werden zu lassen, muss aber auch die Ausbildung der Lehrerinnen und Lehrer, der Erzieherinnen und Erzieher und der sozialpädagogischen Assistentinnen und Assistenten darauf abzielen, mit Heterogenität umgehen zu lernen. Ansätze hierzu sind gemacht, zum Beispiel mit dem Modul Inklusion in der Ausbildung der Lehrkräfte in Flensburg oder auch mit Angeboten im Bereich der Heilpädagogik, während die Erzieherinnen- und Erzieherausbildung in Neumünster ausgebildet werden. Hier lie

(Cornelia Conrad)

gen sicherlich noch wichtige Herausforderungen, um Inklusion noch weiter voranzubringen.

Eine weitere wichtige Rolle spielen auch weiterhin die Landesförderzentren. Die Idee, Förderzentren mehr und mehr von sonderpädagogischen Einrichtungen zu Beratungszentren der Regelschulen umzugestalten, greift. Nur mit dem Know-how der Experten im Bereich der Sonderpädagogik kann Inklusion gelingen. Doch die Schulen sind auf entsprechende Unterstützung und auch auf entsprechende Konzepte angewiesen. Insofern ist es auch ein richtiger Schritt, trotz sinkender Schülerzahlen die Zahl der sonderpädagogischen Lehrkräfte an den Förderschulen nicht entsprechend zu reduzieren, sondern die Stunden im System zu lassen.

Die Aufgabe, mehr und mehr Schülerinnen und Schüler inklusiv zu beschulen, ist erfolgreich angegangen worden. Wir müssen diese Richtung aber in einem angemessenen Tempo weiterverfolgen. Sowohl die betroffene Schülerschaft als auch die Lehrkräfte dürfen mit diesen neuen Herausforderungen jedoch nicht überfordert werden. Die Rahmenbedingungen müssen stimmen.

Ich möchte aber deutlich hervorheben, dass die Förderzentren ihren angemessenen Platz im Gesamtsystem behalten müssen. Sie sollen keineswegs nach einem Automatismus aufgelöst werden, denn die Eltern haben prinzipiell das Recht, für ihr Kind die Beschulung in einem Förderzentrum zu verlangen. Der Elternwille muss respektiert werden, denn es gibt Kinder, die durch eine massive Beeinträchtigung ihrer körperlichen, sprachlichen und intellektuellen Fähigkeiten so ernsthaft behindert sind, dass sie eine gesonderte Förderung benötigen.

Wenn es also nach sachverständigem Urteil im Interesse der Schülerin oder des Schülers liegt, dann soll für diese Schülerinnen und Schüler Unterricht in Förderzentren, speziell in Schulen oder in besonderen Lerngruppen des Regelunterrichts erteilt werden.

Abschließend möchte ich noch Kapitel 9 des Berichtes hervorheben: Bewusstseinsbildung und Akzeptanz. Ich denke, es ist uns allen klar, dass Akzeptanz einer der Kernpunkte von Inklusion ist, den es zu fördern gilt. Ich denke da an die inklusive Beschulung selbst. Das ist - das wird in dem Bericht auch deutlich - der beste Weg, um Akzeptanz in der Breite zu schaffen.

Frau Kollegin, kommen Sie bitte zum Schluss.

Ja, ich komme zum Schluss. - Schleswig-Holstein ist auf einem guten - ich behaupte -, sogar auf einem sehr guten Weg.

(Beifall bei der FDP und vereinzelt bei der CDU)

Für die Fraktion DIE LINKE erteile ich der Frau Kollegin Ellen Streitbörger das Wort.

Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Auch ich möchte mich bei den Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern der Ministerien für die Erstellung des Berichtes zur Umsetzung von Inklusion an unseren Schulen bedanken. Sicherlich hat der Bericht einiges an Arbeit gekostet, und er gibt uns auch einen guten Überblick über die Entwicklung und den Stand der Integration an unseren Schulen.

Ganz grundsätzlich geht er aber - denke ich - am Thema vorbei. Und das liegt nicht an den Verfasserinnen und Verfassern des Berichts. Die ganze Debatte um Inklusion bei uns im Land erinnert mich an die alte Werbekampagne ,,Raider heißt jetzt Twix“.

(Beifall bei der LINKEN)

Es reicht nicht aus, alle Bemühungen aufzuzählen, die unter dem Namen „Integration“ gelaufen sind oder laufen und ihnen jetzt das neue Etikett „Inklusion“ aufzukleben. Integration und Inklusion sind nicht einfach umetikettierbar. Beide Ansätze gehen von ganz unterschiedlichen Überlegungen aus. Das möchte ich in meinen nächsten Sätzen noch einmal deutlich machen.

Der integrative Ansatz erkennt die Ausgrenzung bestimmter Gruppen und ist bestrebt, die Ausgegrenzten zu integrieren. Inklusion beschreibt das Recht aller auf gleichberechtigte Teilhabe an Bildung und allen anderen gesellschaftlichen Prozessen.

(Beifall bei der LINKEN)

Daraus ergibt sich für mich in logischer Konsequenz, dass es eine Teilinklusion nicht geben kann. Ein Satz wie: „Es werden schon 53,8 % aller Schülerinnen und Schüler inklusiv beschult“, ist ein Widerspruch in sich. Inklusion ist eben mehr als nur eine nette neue Idee. Sie ist geltendes Recht. Durch die Ratifizierung der UN-Konvention über die

(Cornelia Conrad)

Rechte von Menschen mit Behinderung haben wir es uns zur Pflicht gemacht, ein inklusives Bildungssystem - und das auf allen Ebenen - aufzubauen.

(Beifall bei der LINKEN und der Abgeord- neten Anke Erdmann [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN])

Ich bin mir nicht sicher, ob unsere Landesregierung die Dringlichkeit dieser Verpflichtung verstanden hat.

(Beifall bei der LINKEN und der Abgeord- neten Anke Erdmann [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN])

Auch sehe ich die Situation bei uns im Land nicht so euphorisch, wie sie der Bericht des Ministeriums darstellt. Wenn nach den Zahlen des Berichts 53,8 % der Schülerinnen und Schüler - in Anführungszeichen: - „inklusiv“ beschult werden, dann heißt das eben auch, dass noch immer 46,2 % der Schülerinnen und Schüler mit Behinderung ausgegrenzt sind. Da kann von inklusiver Beschulung nicht die Rede sein.

(Beifall bei der LINKEN)

Ich habe viele Jahre lang mit Unterstützung von Kolleginnen und Kollegen der Förderschule integrativ an meiner Grundschule gearbeitet. Deshalb weiß ich sehr genau, welche großen Probleme es bei der Integration zu bewältigen gab und immer noch gibt. Die zugewiesenen Stunden der Förderschulkolleginnen und -kollegen waren immer zu wenig, und im Winterhalbjahr verringerten sie sich durch Krankheitsvertretungen noch weiter. Fortbildungsveranstaltungen - wenn überhaupt vorhanden - waren für den Einzelfall wenig hilfreich, sodass die Integration für die meisten Grundschulkolleginnen und -kollegen Learning by Doing war und einen erheblichen zusätzlichen Zeitaufwand bedeutete. Ob da jetzt ein Modul zur Inklusion in der zweiten Phase der Lehrerinnen- und Lehrerausbildung zu einer deutlichen Qualitätssteigerung beitragen kann, wage ich zu bezweifeln.

(Beifall bei der LINKEN)

Am meisten verwundert mich aber auch, dass der Bericht zu der Einschätzung kommt, „dass sich die inklusive Beschulung im Rahmen der vorhandenen Ressourcen verwirklichen lässt“. Den Regelschulen sind gerade Ressourcen weggekürzt worden, und weitere Streichungen von Lehrerstellen stehen zum nächsten Schuljahr bevor. Schon jetzt fallen Förder- und Differenzierungsstunden weg, die Klassen sind viel zu groß, um die einzelne Schülerin und den einzelnen Schüler ihren bezie

hungsweise seinen Fähigkeiten entsprechend zu fördern, und es gibt jede Menge Unterrichtsausfall an allen Schulen. Und da soll Inklusion ohne zusätzliche personelle Ressourcen umgesetzt werden können?

Ein weiteres Problem ist, dass es kaum Schulen in Schleswig-Holstein gibt, die barrierefrei gebaut sind. Selbst die im Bericht als inklusive Schule mit Vorbildcharakter beschriebene Geschwister-Prenski-Schule in Lübeck ist nicht barrierefrei. Der Bericht macht uns im Wesentlichen deutlich, wie viel noch zu tun ist, um das Ziel der Inklusion bei uns im Land zu erreichen.

(Beifall bei der LINKEN und der Abgeord- neten Anke Spoorendonk [SSW])

Umso dringlicher ist für uns auch die Forderung, dass uns das Bildungsministerium endlich ein Gesamtkonzept für die Umsetzung der Inklusion im Sinne der Behindertenrechtskonvention an unseren Schulen vorlegt.

(Beifall bei der LINKEN und der Abgeord- neten Anke Erdmann [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN] und Anke Spoorendonk [SSW])

Einzelne Projekte und Runde Tische sind uns da zu wenig.

(Beifall bei der LINKEN sowie vereinzelt bei BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und SSW)

Vielen Dank, Frau Kollegin. - Das Wort hat nunmehr Frau Kollegin Anke Spoorendonk von der Fraktion des SSW.

Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Zuerst möchte ich mich bei den Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern des Bildungsministeriums für diesen Bericht bedanken. Das ist ein guter Bericht in dem Sinne, dass er uns einen Überblick über dieses wichtige Thema gibt. Denn das Thema Inklusion ist eines der wenigen Themen, bei denen der SSW mit der Bildungspolitik dieser Landesregierung auf einer Wellenlänge ist, was aber vor allem daran liegt, dass das Bildungsministerium noch unter der Leitung von Ute Erdsiek-Rave in Sachen Inklusion eine hervorragende und auch zukunftsweisende Arbeit geleistet hat und die jetzige Landesregierung einfach davon profitiert.

(Beifall beim SSW und vereinzelt bei BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

(Ellen Streitbörger)

Schleswig-Holstein hat bei der inklusiven Beschulung eine Spitzenposition inne. 53,8 % der Schülerinnen und Schüler mit sonderpädagogischem Förderbedarf nahmen am Unterricht in allgemeinbildenden Schulen teil. Dies ist im Vergleich zum Bundesdurchschnitt von 20 % wirklich bemerkenswert. Der Prototyp der Schule ohne Schülerinnen und Schüler wurde bereits 1983 in Schleswig gegründet. Seitdem gibt es immer mehr Förderzentren, die nach diesem Vorbild funktionieren: also der inklusiven Beschulung von Schülerinnen und Schülern an allgemeinbildenden Schulen, die dort von qualifizierten Lehrkräften individuell unterstützt werden. Das ist das Modell.

In dem vorliegenden Bericht werden die Rahmenbedingungen für eine erfolgreiche inklusive Beschulung genannt. Neben qualifizierten Lehrkräften geht es nämlich vor allem auch um die Lehrpläne der Förderzentren, die den allgemeinbildenden Schulen angeglichen wurden. Es geht um die Möglichkeiten des Nachteilausgleichs oder die Förderung von baulichen Maßnahmen, um barrierefreie Schulen vorzuhalten.

Die Grundsteine für eine inklusive Beschulung wurden in Schleswig-Holstein allerdings sehr viel früher gelegt: 1991 im Kindertagestättengesetz und 1990 im Schulgesetz. Mit der letzten Änderung des § 4 im Schulgesetz ist die inklusive Beschulung jetzt auch als Bildungs- und Erziehungsziel in das Schulgesetz aufgenommen worden. An diesen gesetzlichen Grundsteinen, zu denen auch die UN-Konvention für Menschen mit Behinderung gehört, wird deutlich, dass wir eine politische Grundlage brauchen, um das Ziel einer inklusiven Gesellschaft zu erreichen, in der niemand ausgegrenzt wird.

(Beifall der Abgeordneten Anke Erdmann [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN] und Flem- ming Meyer [SSW])

Es geht hier also um eine Gesellschaft, in der Inklusion selbstverständlich ist. Inklusion muss eine breite öffentliche Akzeptanz haben, und die Menschen müssen davon überzeugt sein, dass die Teilhabe aller Menschen zu unserem demokratischen Rechtsstaat gehört. Die Landesregierung ist davon auch überzeugt, so schreibt sie: