Sehr geehrte Damen und Herren! Ich eröffne die Sitzung. Erkrankt sind die Frau Abgeordnete Heike Franzen, der Herr Abgeordnete Daniel Günther und der Herr Abgeordnete Jürgen Weber. Wir wünschen den erkrankten Abgeordneten gute Besserung.
Wegen auswärtiger dienstlicher Verpflichtungen sind Ministerpräsident Albig, Minister Dr. Habeck und Minister Studt ganztägig beurlaubt.
Meine Damen und Herren, bitte begrüßen Sie mit mir Schülerinnen und Schüler der Gemeinschaftsschule Altenholz auf der Tribüne. - Seien Sie herzlich willkommen im Schleswig-Holsteinischen Landtag!
Außerdem ist Professor Dr. Danker vom Institut für schleswig-holsteinische Zeitund Regionalgeschichte auf der Tribüne. - Seien auch Sie uns herzlich willkommen im Landtag!
Geschichtswissenschaftliche Aufarbeitung der personellen und strukturellen Kontinuität nach 1945 in der schleswig-holsteinischen Legislative und Exekutive
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Jetzt ist es soweit: Die geschichtswissenschaftliche Aufarbeitung, die wir gemeinsam in Auftrag gegeben haben, liegt uns vor.
Für mich ist das an allererster Stelle Anlass, Ihnen und Ihrem Team, Professor Danker, ganz herzlich Dank zu sagen für die Arbeit, die Sie geleistet haben und für die Studie, die uns jetzt vorliegt. Ich finde, alles in allem haben Sie den Auftrag, den wir hier im Parlament formuliert und mit der Lenkungs
Wer Gelegenheit hatte, als Historiker mit Archiven und Quellen zu arbeiten, kann ungefähr ermessen, was für eine Leistung dahintersteckt, die doch sehr unterschiedlichen Bestände, die zu sichten und auszuwerten waren, in dem von uns gesteckten ambitionierten zeitlichen Rahmen in Angriff zu nehmen. Auch das ist ganz hervorragend gelungen. Ebenso sage ich ein herzliches Dankeschön für die gute Zusammenarbeit innerhalb der Lenkungsgruppe. Zumindest ich kann für meine Fraktion sagen, dass wir im Verlauf des Projekts immer das Gefühl hatten, gut über den Stand der Bearbeitung und den Stand des Projekts informiert und eingebunden gewesen zu sein.
Die jetzt vorliegende Studie enthält erwartungsgemäß wenig revolutionäre Neuigkeiten. Sie ist aber dennoch von größtem Wert, denn jetzt liegt eine umfassende quantitative Grundlage für die Frage personeller und struktureller Kontinuitäten für Landtag und Landesregierung in der Zeit nach 1945 vor.
Auch wenn es faktisch wenig Überraschendes in dieser Studie gibt, so sind doch wichtige Akzente in der Studie enthalten, die für den aktuellen Stand der Forschung und für die aktuelle Sichtweise der Geschichtswissenschaft von erheblicher Bedeutung sind. Schon vorher war es kein Geheimnis, dass gerade in Schleswig-Holstein besonders viele Persönlichkeiten mit einem Hintergrund in der NS-Zeit eine Rolle im öffentlichen Leben unseres Landes gespielt haben. Die Ursachen dafür - auch das deutet die Studie an - sind vielfältig, begonnen von Wahlergebnissen in der Vorkriegszeit bis hin zur Entwicklung in den letzten Kriegsmonaten.
Aber ein wichtiger Punkt innerhalb der Studie ist auch, dass personelle Kontinuitäten nicht gleichbedeutend mit inhaltlichen Kontinuitäten sind. Ich darf aus der Studie zitieren:
„Es handelte sich indes nicht um eine ‚Renazifizierung‘, wie in den 1950er-Jahren mancher meinte und seit den 1980er-Jahren auch die Perspektive der Aufarbeitung einnehmende Historiker und Historikerinnen schrieben. Nein, Schleswig-Holstein wurde nicht von Alt-Nazis respektive ‚braunen Cliquen‘ in Parlament und Regierung gesteuert, denn dieses hätte vorausgesetzt, dass die Akteure alte Ziele in formaldemokratischer Tarnung
weiterverfolgt hätten, etwa kollektiv als Putschisten … agiert hätten. Dafür gibt es keinerlei Anzeichen oder Exempel.
Selbst jene unsere Untersuchungsgruppe leicht tangierenden, fraglos anrüchigen personellen Seilschaften und Vertuschungsnetze als extreme Verhaltensmuster zielten nicht auf eine politische Renazifizierung, sondern meinten das gesellschaftliche und berufliche Reüssieren im neu verfassten Staat.“
Wir haben es also in weiten Bereichen mit einer funktionalen Elite zu tun, die versucht hat, sich ihren Platz und ihre Karriere in der neuen Bundesrepublik zu erarbeiten. Das ist sicherlich ein moralisches Dilemma in der damaligen Zeit gewesen. Man muss sich nur einmal das Miteinander-Arbeiten und -Umgehen von Verfolgten auf der einen Seite und Mittuenden des alten Systems auf der anderen Seite vorstellen.
Nichtsdestotrotz ist die Kehrseite dieser Situation eine erhebliche Integrationsleistung in den neuen demokratischen Staat, die unsere Institutionen, aber auch unsere Parteien geleistet haben. Hierzu sagt die Studie:
„Im regionalen Zentrum, quasi im Maschinenraum der neuen demokratisch-rechtsstaatlichen Ordnung, fand die Integration überdurchschnittlich vieler ehemaliger NS-Akteure statt. Das war ein Prozess, der gesellschaftlich wie herrschaftlich offenkundig sehr erfolgreich verlief, stabile regionale demokratische Strukturen schuf, moralisch jedoch gewiss belastend verlief.“
Genau das ist etwas, was die Ergebnisse dieser Studie sowohl für die politische Bildung in SchleswigHolstein als auch darüber hinaus so bedeutsam macht. Auch das deutet die Studie an ihrem Ende an: Im Kern geht es immer wieder in neuen Kontexten um die auftauchende, brandaktuelle Frage nach gesellschaftlichem und politischem Neubeginn bei der Ablösung von Diktaturen. Das ist sowohl mit Blick auf die Zeit 1945 und die Gründungsjahre der Bundesrepublik als auch - insbesondere die politischen Stiftungen unterschiedlicher Couleur sind an diesem Thema dran - die Wendezeit 1990 und die Jahre danach eine besondere Expertise, über die Deutschland in wissenschaftlicher Form verfügt und die durchaus hilfreich sein kann, wenn es um die Transformation diktatorischer Regime in demokratische Staaten an anderen Ecken der Welt geht.
Insofern haben wir mit dieser Studie nicht nur für die politische Bildung im Land, sondern auch darüber hinaus einen wertvollen Beitrag geleistet. Noch einmal ganz herzlichen Dank für die Arbeit, die Sie geleistet haben, und für Ihre Aufmerksamkeit.
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Ich trage heute die Worte meines Kollegen Jürgen Weber vor. Wir denken alle an ihn und wünschen ihm gute Besserung.
Meine Damen und Herren, die umfassende Studie zu Kontinuitäten und Diskontinuitäten schleswigholsteinischer Parlamentarier und Regierungsmitglieder, die das Institut für Zeit- und Regionalgeschichte im Auftrag des Landtags erarbeitet hat, ist ein wichtiger Baustein für die Zeitgeschichte unseres Landes. Das Ergebnis rechtfertigt ohne jede Einschränkung, dass wir uns hier im Parlament fraktionsübergreifend dazu entschieden haben, die Vergangenheitsaufarbeitung der biografischen Dimension der NS- und Nachkriegsgeschichte der politischen Akteure bearbeiten zu lassen. Unser Dank gilt Professor Danker und seinem Historiker-Team.
Mein Dank - sagt Jürgen Weber - gilt aber auch den Kolleginnen und Kollegen aus allen Fraktionen, die das Projekt begleitet haben.
Es kann in der Kürze dieser Debatte nur auf wenige Aspekte der Forschungsergebnisse eingegangen werden. Neu ist dabei nicht das auf einzelne Personen bezogene Wissen um politische Karrieren ehemaliger Nationalsozialisten in Parlament und Regierung nach 1945. Neu, wesentlich und von großer Bedeutung ist aber das wissenschaftlich fundierte Wissen um Ausmaß, Ausgestaltung, Konkretisierung und Differenzierung, um Dauer und Wirkung von Kontinuitäten in unserem Land an der Spitze von Legislative und Exekutive.
Und wesentlich ist der wissenschaftlich und politisch streitbare wie erhellende Weg, Kategorien zu finden, die eine Einordnung von Mitgliedschaft in NS-Organisationen, von Funktionsrollen in
Staat, Wirtschaft und Gesellschaft vor 1945, von Verantwortung und Verstrickung, von ideologischer wie opportunistischer Positionierung herausarbeiten und von empirisch-quantitativen Feststellungen zu einer qualitativen Analyse kommen. Gerade diese macht Aussagen möglich, historiografisch wie geschichtspolitisch.
Exponiert nationalsozialistisch, systemtragend karrieristisch, angepasst ambivalent und oppositionell gemeinschaftsfremd - so lauten die nachvollziehbar begründeten Einordnungen der untersuchten Personen. Den Autoren der Studie gelingt es dadurch, Haltungen und Handlungen der untersuchten Personengruppen unter der Herrschaft des Nationalsozialismus zu gewichten und stärker auf überprüfbare Motive und Folgen von persönlichem Handeln zu fokussieren.
Das ist allein schon deshalb von Bedeutung, weil wir mit unserer Fragestellung von Kontinuität und Diskontinuität ja interessiert sind an der Bedeutung der Fortsetzung von Karrieren nach 1945 für den Aufbau unseres Landes Schleswig-Holstein und der Entwicklung der demokratischen Kultur in unserem Land.
Nur einige wenige Zahlen: 36 % aller altersmäßig infrage kommenden Abgeordneten von 1946 bis 1982 waren gesichert vor 1945 Mitglieder der NSDAP. Bei den Regierungsmitgliedern nach 1950 waren es gar zwei Drittel, bei den Staatssekretären nach 1950 über 80 %.
Folgender Kontrast macht die Zäsur deutlich, die das Jahr 1950 dabei bedeutete: Von 1946 bis 1950 überwog im Landtag mit fast der Hälfte aller Abgeordneten die Gruppe der in der NS-Zeit Verfolgten; nur jeder 16. Abgeordnete hatte der NSDAP angehört. Umgekehrt proportional zeigten sich die Verhältnisse zwischen 1950 und 1975: Fast die Hälfte aller Abgeordneten der entsprechenden Altersgruppe waren ehemalige NSDAP-Mitglieder, im Durchschnitt war nur noch jeder Siebte ein ehemals Verfolgter. Das klingt spektakulär, und es ist spektakulär. Das sind Zahlen, die deutlich höher liegen als bei vergleichbaren Untersuchungen in anderen Bundesländern - von denen es allerdings noch nicht sehr viele gibt. Mit der uns vorliegenden Studie das sei am Rande erwähnt - sind wir weiter an Erkenntnissen als die meisten Länder, qualitativ allemal.
Zurück zu den Zahlen. Vielleicht weniger spektakulär, aber sicher gravierender sind die Ergebnisse, schaut man auf die Grundorientierungen: Nur 4 % der Abgeordneten von 1946 bis 1950, aber
20 % während der gesamten 50er-Jahre zählten zur Grundorientierung der systemtragenden und/oder exponiert nationalsozialistischen Biografien. Da diese ganz überwiegend in den Fraktionen des regierenden Bürgerblocks aus CDU, FDP, BHE und DP zu finden waren und die Zahlen bei den Regierungsmitgliedern noch höher waren, ist die politische Wirkung auf unser Land noch einmal deutlicher geworden. Hier muss weitere wirkungsgeschichtliche Forschung ansetzen.
Angesichts solcher Befunde gewinnt das oft zitierte und wenn auch provokativ gemeinte Wort des Innenministers der frühen 50er-Jahre, Paul Pagel, von der CDU von der „Renazifizierung“ des Landes einen zusätzlichen Stellenwert. Pagel wusste, wovon er sprach, war er doch das einzige Kabinettsmitglied der Regierung Bartram ohne NS-Vergangenheit.
Zur Illustration des Klimawandels im Parlament als Beispiel ein erregter Zwischenruf des Abgeordneten Meinicke-Pusch von der FDP aus dem September 1950:
"Auch wer nämlich ein goldenes Parteiabzeichen getragen hat, kann gleichwohl ein guter Demokrat sein!"
Und dennoch: Die Autoren der Studie weisen auch darauf hin, dass das Kriterium ,,Parteimitgliedschaft" allein noch keine vollständig hinreichende Grundlage für die Bewertung der Rolle vor 1945 ist. Historiker sind keine Richter, aber sie sind auch keine nur beschreibenden Chronisten, schreiben die Autoren der Studien. „Wir nennen Ross und Reiter, aber richten nicht, sondern bleiben Historiker.“