Antrag der Fraktionen von SPD, BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und der Abgeordneten des SSW Drucksache 18/1476
Wird das Wort zur Begründung gewünscht? - Das ist nicht der Fall. Dann werden wir folgendermaßen verfahren: Zuerst spricht die FDP zu dem Antrag zu a), dann die Fraktion der SPD als erstgenannte Fraktion zu dem Antrag zu b), danach die Fraktionen nach Stärke und abschließend die Landesregierung.
Herr Präsident! meine Damen und Herren! Ich bin optimistisch, dass sich das weite Rund noch weiter füllen wird, während ich meine Rede halte.
Die Arbeitnehmerfreizügigkeit, Herr Dr. Stegner, ist nicht nur eine der vier Grundfreiheiten des europäischen Binnenmarktes und nicht nur ein verbrief
tes Recht zur Wahrung der beruflichen Chancen und ein elementares Instrument zur Selbstverwirklichung der Bürger im vereinten Europa, sondern sie ist meines Erachtens so etwas wie das Kreislaufsystem der europäischen Idee. Sie macht es tagtäglich erst möglich, dass die Idee vom gemeinsamen Haus Europa auch tatsächlich gelebt werden kann. Diese großartige Idee durch billigen Populismus im Vorwahlkampf zu diskreditieren, zu verfälschen und abzuwerten, ist aus unserer Sicht perfide und grundfalsch.
Dieser intellektuell beleidigende Slogan der CSU, „Wer betrügt, der fliegt“, regt geradezu dazu an, kleine Gemeinheiten mit Blick auf einzelne CSUVertreter loszulassen. Dies erspare ich mir an dieser Stelle. Außerdem ist das aus meiner Sicht bereits gesetzlich ausreichend geregelt. Dieser Spruch ist schon deshalb irreleitend. Wenn die CSU nur eine einfache bayerische Wald- und Wiesenpartei wäre, dann wäre das ja alles nicht so schlimm. Aber sie ist Regierungspartei im Bund und im Land - zu diesem Schluss kann man jedenfalls kommen, wenn man möchte -, und sie ist sich als Regierungspartei dennoch nicht zu schade, um in der Europapolitik immer wieder Ängste zu schüren. Und auch dieses Mal muss man leider wieder feststellen, dass diese Kampagnen letztendlich auch funktionieren, denn sonst würden wir hier jetzt nicht darüber debattieren. Aber meiner Fraktion war es wichtig, dass sich dieser Landtag zu dem Thema positioniert und einige Dinge klarstellt, weil hier aus meiner Sicht ganz bewusst verschiedene Themen miteinander vermischt werden.
Es besteht auch Gelegenheit dazu, einmal daran zu erinnern, dass unser Land derzeit einer der großen Profiteure der europäischen Arbeitnehmerfreizügigkeit ist. Ohne die Nettozuwanderung aus den Mitgliedsländern der Europäischen Union könnten wir heute und auch in Zukunft weder unserem Fachkräftemangel wirksam begegnen, noch - dies folgt daraus - könnten wir unsere wirtschaftliche Entwicklung weiter stärken. Ohne die Arbeitnehmerfreizügigkeit wäre unsere Wirtschafts- und Steuerkraft heute wesentlich niedriger, als sie es ist.
Ich möchte auch daran erinnern, dass in den Jahren, in denen unser Arbeitsmarkt lahmte, viele Deutsche ins europäische Ausland gegangen sind, gerade junge Hochschulabsolventen mit ihren jungen Familien, um dort auf dem Arbeitsmarkt ihr Glück zu finden. Sie sind größtenteils wieder nach Deutschland zurückgekehrt und haben die im Aus
Meine Damen und Herren, seit dem 1. Januar 2014 genießen nun rumänische und bulgarischen Staatsangehörige die volle Freizügigkeit innerhalb der Europäischen Union. Daran hängt eben auch der Anspruch auf ein kulturelles Existenzminimum; das ist ganz einfach so. Dies bringt unseren Sozialstaat nun wirklich nicht ins Wanken.
Es wäre wirklich an der Zeit, dass die Europäische Union, aber auch die Bundesregierung einmal die rechtlichen Umstände klarstellt. Übrigens läuft eine solche Debatte auch in Großbritannien, und dort hat die britische Regierung gerade den Ausländern die Mietzuschüsse gestrichen.
Der wesentliche Teil der Bulgaren und Rumänen, die zu uns kommen, sind ausgebildete Arbeitskräfte, die im Pflege-, im Gesundheitsbereich sowie in weiteren Branchen unverzichtbare Leistungen erbringen und erbringen werden. Auf diese Arbeitnehmer werden wir in Zukunft stärker angewiesen sein, wenn man bedenkt, dass zwischen 2010 und 2030 die Anzahl der Menschen im erwerbsfähigen Alter in Schleswig-Holstein um 250.000 Personen abnehmen wird. Das ist quasi jeder siebte Erwerbstätige in unserem Land. Insofern brauchen wir diese Zuwanderung, auch wenn man bedenkt, dass die Zahl der Beitragszahler deutlich sinken wird, die Empfängerzahl jedoch deutlich steigen wird.
Meine Damen und Herren, in einigen Städten gibt es nun - das ist aus meiner Sicht eigentlich eine andere Debatte, weil es schon vorher dazu gekommen ist - eine sogenannte Armutszuwanderung. Ich finde diesen Begriff wirklich nicht schön, aber jeder weiß, was damit gemeint ist. Dieses Problem werden wir aber nicht lösen können, wenn wir es verschweigen, sondern wir sollten es angehen.
Ich finde, der Deutsche Städtetag hat sich mit dieser Problematik sehr intelligent auseinandergesetzt und hat auch kluge Anregungen gegeben. Dieses Problem gibt es nicht erst seit dem 1. Januar 2014, und es hat mit der Arbeitnehmerfreizügigkeit auch nichts zu tun.
Wir müssen sehen, dass die betreffenden Menschen in ihren Heimatländern Bulgarien und Rumänien unter zum Teil wirklich schlimmen Bedingungen leben müssen. Deshalb ist es auch eine Aufgabe der rumänischen und der bulgarischen Regierungen, bei der Europäischen Union endlich die Mittel abzuru
fen, die ihnen zustehen. Zurzeit werden diese Mittel nur zu etwa 10 % abgerufen. Auch die deutschen Städte, vor allem die im Ruhrgebiet und Berlin, sollen mit europäischen Mitteln unterstützt werden bei der Gesundheitsversorgung, bei Integrationsangeboten, bei Sozialarbeit sowie in anderen Bereichen.
Herr Abgeordneter Vogt, gestatten Sie eine Zwischenfrage oder -bemerkung des Herrn Abgeordneten Andresen?
Vielen Dank, Herr Kollege. Vor dem Hintergrund der Aussagen, die Sie gerade getroffen haben und die zumindest wir durchaus begrüßen können, möchte ich Sie gerne fragen, was Sie denn zu den Aussagen Ihres Bundesparteivorsitzenden Christian Lindner sagen, der vor wenigen Wochen aktiv davon gesprochen hat, im Zweifelsfall gegen Armutsmigration - auch mir gefällt dieser Begriff nicht - mit Ausweisungen zu arbeiten?
- Nein, das hat er nicht gesagt. Er hat gesagt, es sei gesetzlich geregelt, dass dann, wenn ein Missbrauch von Leistungen vorgenommen wird, selbstverständlich eine Ausweisung möglich ist. Das ist unsere gesetzliche Lage, und das ist auch schon vor der Äußerung der CSU möglich gewesen. Nur darauf hat er hingewiesen. Er hat nicht gesagt, dass Menschen, die in unser Land einwandern und eine prekäre Zuwanderung darstellen, einfach ausgewiesen werden können.
Weil wir große Freunde der Arbeitnehmerfreizügigkeit sind, möchte ich noch darauf hinweisen, dass auch das letzte EU-Mitgliedsland, Kroatien, das als 28. Land in der EU dabei ist, die Arbeitnehmerfreizügigkeit nicht auf die lange Bank schiebt. Ich habe zur Kenntnis genommen, dass dieser Aspekt in den Anträgen der Koalition und der CDU leider nicht vorkommt. Dies vermisse ich. Aber ich freue mich, dass wir uns im Kern, zumindest was die Antragsteller angeht, einig sind. - Vielen Dank für die Aufmerksamkeit.
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Wer sich mit der europäischen Integration, ihrer Geschichte und Ausgestaltung beschäftigt, weiß, dass die vier Grundfreiheiten, die Freiheit von Waren, Kapital, Dienstleistung und Personen, das Fundament der Europäischen Union sind. Diese sind auch die Grundlage für den europäischen Binnenmarkt. Das mag einem in der Schwerpunktsetzung nicht immer gefallen. Ich selbst habe die Wettbewerbsgläubigkeit und die Konzentration der europäischen Institutionen auf wirtschaftliche Fragen oft kritisiert. Ich bleibe aber auch dabei: Wir brauchen ein soziales Europa. Diese Frage ist mit der heutigen Debatte eng verknüpft.
Ich teile ausdrücklich nicht die Auffassung des CDU-Vizevorsitzenden Armin Laschet, wir hätten keine Sozialunion. Die Europäische Union muss sich als Wertegemeinschaft auch als soziale Union verstehen.
Hier zu sagen: „Das haben wir nicht, deshalb haben wir auch keine Verantwortung, und deshalb besteht auch kein Gesprächsbedarf“, ist schlicht falsch. Die Gestaltung dieser Sozialunion ist entscheidend, und darüber muss auch gesprochen werden. Das ist die Zukunftsaufgabe für die EU, wenn wir die Akzeptanz für das Friedensprojekt Europa 100 Jahre nach Beginn des Ersten Weltkrieges und für die Solidarität in Zeiten der Krise nicht noch weiter aushöhlen, sondern stärken wollen. Und das müssen wir tun, um populistischen Kräften gerade auch im Vorfeld der Europawahl nicht noch mehr Zulauf zu bescheren. Die Gefahr von rechts in Europa ist groß, meine sehr verehrten Damen und Herren.
Deshalb finde ich in diesem Zusammenhang, dass die Debatte über die Arbeitnehmerfreizügigkeit, die seit Beginn dieses Jahres auch für Rumänien und Bulgarien gilt, Anlass für populistische und diskriminierende Debatten ist, komplett daneben. Arbeitnehmerfreizügigkeit ist ein europäisches Grundrecht, ein Grundrecht, von dem die Bürgerinnen und Bürger wechselseitig profitieren, als Einzelne, aber auch als Ganzes, als Gesellschaft. Ich denke nur an den Fachkräftemangel.
Diese Freizügigkeit infrage zu stellen, sie in einigen Fällen begrenzen zu wollen, Menschen als unterschiedlich nützlich oder wertvoll zu bewerten, ist Diskriminierung. Das ist Populismus, das lehnen wir komplett ab, meinen sehr verehrten Damen und Herren.
Wer jetzt die Parolen vom politischen rechten Rand aufgreift, sich gar zu eigen macht, handelt schlicht verantwortungslos. Solche Äußerungen, zumal wenn sie als reine Wahltaktik für die bayerischen Kommunalwahlen oder die Europawahl vorgetragen werden, disqualifizieren sich selbst. Da werden Bilder von Horden ungebildeter und billiger Arbeitskräfte aus Südosteuropa erzeugt, die in unser Land eindringen. Ich kann Ihnen nur sagen: Wer die Parolen liest, der sieht, dass sich das bei der CSU nur nicht reimt. Ansonsten ähnelt es sich: AfD, NPD, FPÖ und andere. Ich muss sagen, das ist einfach daneben. Man soll den Kommunen helfen, aber sich nicht bei den Rechtspopulisten anbiedern. Das sollten wir nicht tun.
„Das Vorurteil ist einer der größten Schurken in der Besetzungsliste der Geschichte - es benutzt die blanke Unkenntnis als Waffe.“
Wer Angst vor Zuwanderung in die Sozialsysteme hat, sollte, anstatt Ressentiments zu schüren, lieber die zahlreichen Beschränkungen abschaffen, denen Zuwanderer und Flüchtlinge in Deutschland ausgesetzt sind, wenn sie arbeiten wollen. Zugang zum Arbeitsmarkt ist die beste Vorkehrung gegen Abhängigkeit von Sozialtransfers.
Missbrauch sollten wir nicht zulassen, übrigens bei niemandem, auch bei Deutschen nicht. Artikel 1 des Grundgesetzes - „Die Würde des Menschen ist unantastbar“ - gilt für alle Menschen, nicht allein für deutsche Normalbürger.
Ich will das aufgreifen, was der Kollege Vogt gesagt hat, auch wenn das mit der Debatte nichts zu tun hat. Richtig ist natürlich auch: Wenn Menschen zu uns kommen - ich meine nicht die, die in Rumänien oder Bulgarien auch schon diskriminiert wer
den, was wir, wie ich finde, in Europa bei Mitgliedstaaten nicht dulden sollten -, weil sie vor Verfolgung flüchten, vor Armut und vor Krieg, ist Deutschland, ist Europa eine Wertegemeinschaft. Wir können nicht zuschauen, wie Menschen vor Lampedusa ertrinken und so tun, als ginge uns das nichts an. Da sollten wir uns als großzügiges, als tolerantes, als reiches Europa zeigen und nicht Vorurteile schüren.
Wir sollten, statt anzustreben, Weltmeister beim Rüstungsexport zu werden, lieber mehr für Entwicklungszusammenarbeit tun. Das wäre eine gute Konstellation, die man unterstützen kann. Es hat mit dem Thema nur in Maßen zu tun, aber da es undifferenziert zusammengeworfen wird, finde ich, muss man das hier sagen. Glauben Sie ehrlich, dass die meisten Menschen freiwillig ihre Heimat verlassen, wenn sie das nicht müssten? Was ist daran zu kritisieren, wenn man aus bitterer Armut weggeht? Glaubt man ehrlich, wir könnten reich bleiben, wenn die anderen so arm sind, wie sie sind? Das ist eine Herausforderung, die sich für alle stellt. Da haben wir mit unseren Privilegien, die wir haben, eine besondere Verpflichtung.
Insgesamt möchte ich gern anmerken: Die Debatte zeigt noch etwas anderes, nämlich dass wir gut daran tun, Deutschland mit gutem Beispiel vorangehen zu lassen, dass wir nicht ein Europa der Märkte, ein Europa der Banken, ein Europa der Finanzjongleure, ein Europa der Manager brauchen, sondern dass wir ein Europa mit guter Arbeit, mit Tariflöhnen, mit Mitbestimmung, mit Sozialstandards brauchen und dass wir uns gegen prekäre und illegale Beschäftigung wehren, egal wo sie in Europa stattfindet, und dass wir das gemeinsam tun sollten. Die Gemeinsamkeiten sollten im Vordergrund stehen. Ich weiß, das ist in Wahlkampfzeiten unpopulär. Ich weiß, es gibt auch Probleme in Kommunen. Denen kann man übrigens helfen. Man hilft aber niemandem, wenn man glaubt, dass man Buhmänner aufbaut und Menschen Angst macht. Wir sollten Menschen nicht Angst machen, sondern sie ermutigen. Das ist unser Auftrag. - Vielen herzlichen Dank.