Protokoll der Sitzung vom 20.02.2015

Herr Günther, wenn Sie allerdings nicht zuhören wollen, dann würde ich darum bitten, dass Sie Ihre Worte in Zukunft ein bisschen mäßigen und sich auch, bevor Sie sagen, was alles falsch läuft, noch einmal mit der Geschichte Ihrer Regierungsbeteiligung befassen.

Sie sagen, man müsse die Labelung der schleswigholsteinischen Produkte vornehmen. Im Jahr 2007, also unter einer CDU-geführten Regierung, wurde das Gütezeichen Schleswig-Holstein von „hergestellt“ auf „geprüft“ umgestellt, und zwar, weil sich die EU-Beihilferichtlinie geändert hatte. Insofern wäre ein wenig Beschäftigung mit der Geschichte

(Burkhard Peters)

Ihrer Partei und Ihrer Regierungsbeteiligung in der Sache hilfreich gewesen.

(Beifall BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN, SPD und SSW)

Damit wären wir bei der Sache. Die ernährungsund landwirtschaftspolitische Diskussion prägt das Land und auch die politische Öffentlichkeit, und zwar zu Recht und nicht aus Versehen. Kaum ein Gegenstand ist uns so nah und so vertraut wie das Essen und das Trinken. Wir alle essen, wir alle ernähren uns. Wir alle sehen vor allem das Land Schleswig-Holstein und Landwirtschaft. Das politische Umfeld von Landwirtschaft prägt Identität und Heimat. Das, was wir essen, entscheidet auch zu einem großen Teil darüber, wie wir uns fühlen, uns wahrnehmen und in welcher Identität wir leben. Insofern ist die Debatte über Landwirtschaft und Ernährungswirtschaft eine der zentralen Debatten in Schleswig-Holstein. In einem Land, das so stark von der Landwirtschaft geprägt wird, ist sie zwingend immer wieder zu führen.

22.000 Menschen arbeiten in der Ernährungswirtschaft. 45.000 Menschen arbeiten in der Landwirtschaft. Die Bruttowertschöpfung beträgt in beiden Branchen zusammengenommen 4 %, etwa zu gleichen Teilen aufgeteilt. Das ist nicht so viel, wie man den Eindruck hat, dass Schleswig-Holstein eigentlich produziert, vor allem bezogen auf die Arbeitsplätze.

Das hat einen Grund. Dieser Grund wird im Fachjargon Strukturwandel genannt. Das besagt im Klartext, dass sich die Zahl der Betriebe und der arbeitenden Menschen in der Landwirtschaft im Durchschnitt alle 23 Jahre halbiert. Alle 23 Jahre verlieren wir die Hälfte der Betriebe in SchleswigHolstein und in der Regel auch die Hälfte der Arbeitskräfte in Schleswig-Holstein. Das ist einerseits bedauerlich und andererseits eine ökonomische Grundkonstante, die man sich bei allen weiteren Debatten vergegenwärtigen müsste.

Es entspricht der volkswirtschaftlichen Logik, dass sich der Wohlstand einer Gesellschaft daran bemisst, wie günstig die primären Bedürfnisse des Lebens erfüllt werden können. Dazu gehören nun einmal Essen und Trinken. Das heißt, wenn wir 100 % unseres Einkommens für Essen und Trinken ausgeben, haben wir natürlich keine Mittel für Luxus, aber auch nicht für Bildung, Gesundheitsleistungen, Kultur oder Freizeit.

Das heißt, der Wohlstand dieser Gesellschaft, von Deutschland, von Schleswig-Holstein, ist maßgeblich daran geknüpft, wie günstig die Landwirte pro

duzieren. So hat es die Gesellschaft gewollt. So sind die Richtlinien aufgestellt worden. So haben wir die Landwirte in die Marktwirtschaft getrieben. So ist der Strukturwandel zu erklären, dass immer größere Investitionen, immer größerer technischer Fortschritt, immer intensiveres Wirtschaften erforderlich sind, damit Deutschland heute eines der fünf Länder ist, in denen am wenigsten Geld für Lebensmittel ausgegeben wird.

Gleichzeitig stockt einem der Atem, wenn man es sagt: Die Billigkeit der landwirtschaftlichen Produkte entscheidet über den Wohlstand eines Landes. Das muss man den Bauern einmal sagen. Das heißt ja: Die Entwertung ihrer Arbeit ist die Bedingung dafür, dass wir reich sind. - Das ist weder grün noch schwarz noch rot noch gelb; es ist die volkswirtschaftliche Logik, die wir hier seit dem Zweiten Weltkrieg aufgebaut haben und die Erklärung für so vieles.

Ich verstehe sehr gut, dass die Bauern sagen: Das will die Gesellschaft. Ihr wolltet diese intensive Wirtschaftsform. Wir haben uns dem gestellt und uns dem angepasst. Jetzt werden wir in der politischen Debatte für das, was eigentlich politisch gewollt wird, „vor den Knoten geschoben“.

Herr Günther, wir müssen aus dieser tatsächlich konfrontativen Debatte herauskommen. Wir müssen allerdings die Veränderung gesellschaftlicher Formen in diese politische Debatte einpreisen. Zu sagen, so ist es, und jeder, der etwas anderes will, der soll etwas anderes kaufen - das unterschreitet und unterschätzt den Raum des Politischen bei Weitem.

In den 70er-Jahren wurden 19 % des durchschnittlichen Einkommens der Bevölkerung in Deutschland für Lebensmittel ausgegeben. Heute sind es 11 %. Seit 1950 haben sich die Löhne vereinundzwanzigfacht, die Brotpreise verzehnfacht, aber die Getreidepreise sind unverändert geblieben. Ein Arbeiter konnte vor 60 Jahren nur halb so viel Brot für seine Arbeitsleistung kaufen. Der Verdienst des Landwirts hat sich in dieser Zeit, in der sich der Brotpreis für den Arbeiter halbiert hat, nur um 6 % gesteigert. 1970 musste man für ein Kilo Rindfleisch 72 Minuten arbeiten. Heute sind es 30 Minuten. Für ein Kilo Schweinefleisch musste man damals 96 Minuten arbeiten. Heute sind es 23 Minuten. Von dieser Grundlage müssen wir ausgehen, wenn wir miteinander diskutieren.

Nun tauchen andere Probleme auf, die die Diskussion so kompliziert machen, etwa die Intensivierung. Die Diskussion darüber möchte ich nicht führen, in

(Minister Dr. Robert Habeck)

dem mit dem Finger gezeigt wird, schon gar nicht individualisiert auf Landwirtschaft, ebenso wenig wie mit dem Fingerzeig auf die Verbraucher, die alle unehrlich seien, über Ökologie redeten, aber in Wahrheit bei Aldi einkauften. Gleichwohl: Durch die Struktur, die aufgebaut wurde, haben wir extreme Probleme beim Gewässer- und Meeresschutz, bei Tierschutz, bei Klimaschutz und beim Thema Biodiversität.

Es ist nun einmal so, dass die Landwirtschaft, eben weil sie diese große Bedeutung hat, das Land prägt, im Guten wie im Schlechten. Da, wo Knicks entstanden sind, haben die Landwirte sie gemacht, da, wo sie weg sind, haben die Landwirte sie weggenommen. Da, wo Gewässer intakt und renaturiert sind, gibt es landwirtschaftliche Flächen, die den Gewässern mehr Raum geben, da, wo die Gewässer kanalisiert und drainiert sind, gibt es sie nicht.

(Heiner Rickers [CDU]: Steht leider alles nicht in dem Bericht!)

- Bitte?

(Heiner Rickers [CDU]: Das steht leider nicht in dem Bericht!)

- Den Bericht können Sie ja lesen. Deswegen rede ich ja zu dem Bericht.

(Heiner Rickers [CDU]: Aha!)

Die Landwirtschaft prägt den Raum. Dementsprechend muss die Politik die Diskussion über den Raum aufhängen an der Frage, wie wir im Raum wirtschaften. Das ist eine politische Frage und nicht, wie Herr Günther es geschrieben hat und wie man es so manches Mal hört, allein Aufgabe des Verbrauchers, der über seinen Konsum - Stichwort: Preis - entscheidenden Einfluss nehmen kann. Dieser Einfluss wird überschätzt. Damit unterschätzt man den Raum des Politischen und überbewertet - darf ich das sagen? - unsere moralische Integrität. Wir sind widersprüchliche Wesen. Wir sind müde, wir sind gestresst, wir sind manchmal genervt, und wir orientieren uns am Preis. Wir sind als Menschen, als Verbraucher widersprüchlich. Das spricht aber nicht dagegen, dass wir Ideale haben, dass wir politische Verantwortung übernehmen und als Bürger eine intakte Umwelt, Tierschutz und faire Preise für die Landwirte haben wollen.

(Beifall BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN, SPD und SSW)

Das heißt, es wird nie etwas werden, wenn man die Moral individualisiert. Das gilt für alle Richtungen.

Dann kommen wir aus dieser Debatte niemals heraus. Wenn man sagt, dass nur Änderungen im privaten Bereich erforderlich sind, dann können wir diesen Landtag im Grunde auflösen. Es ist eine politische Aufgabe, das, was als gesellschaftlicher Konflikt erkannt worden ist, in einem Regelwerk umzusetzen.

(Beifall BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN, SPD und SSW)

Dabei darf selbstverständlich niemand überfordert werden. Ich bin der Letzte, der das will. Wir dürfen aber auch nicht sagen: Wieso? Hier ist doch alles chico; das regelt sich von alleine. - Das wäre eindeutig zu wenig.

Strategie dieser Landesregierung in den Bereichen Landwirtschaft und Ernährungswirtschaft ist der Versuch, diesen Prozess sowohl hinsichtlich der Probleme, die wir haben, als auch hinsichtlich der Möglichkeiten der Umsteuerung abzubilden, und zwar sowohl in der Landwirtschaft als auch in der Ernährungswirtschaft. Das heißt, wir müssen die Werte, die die Gesellschaft als Werte erkannt hat, so umsetzen, dass diese Werte als geldwerte Vorteile bepreist werden können. Konkret heißt das: weniger Geld pauschal in die erste Säule, mehr Geld in die zweite Säule. Das haben wir im Zuge der letzten Agrarreform probiert, häufig gegen den Widerstand der CDU. Konkret heißt das, die Förderung so umzustellen, dass die regionalen Wertschöpfungsketten gestärkt werden.

Dabei geht es auch um die Exportabhängigkeit. Wir sind ein starkes Agrarland. Wir exportieren und produzieren für den Weltmarkt. Das heißt aber auch, dass wir Risiken des Weltmarktes einkaufen. Die Höhe der Getreidepreise richtet sich nicht nach der Tüchtigkeit und der Ausbildung der Landwirte in Schleswig-Holstein, sondern die Getreidepreise werden an der Börse gebildet und sind beeinflusst durch die Wetterlage in Mittelamerika. Das ist das Problem. Das einfach laufen zu lassen, erscheint mir fahrlässig zu sein. Daher ist die Politik der Landesregierung darauf ausgerichtet, Sicherheitsnetze zu bilden, alternative Verkaufsformen zu finden und die Einpreisung dieser Werte, die als externe Kosten der Lebensmittelproduktion nicht bepreist sind, hinzubekommen.

(Beifall BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN, SPD und SSW)

Für die Ernährungswirtschaft heißt das, dass wir darauf abzielen, die hohe Qualität der landwirtschaftlichen Produkte - ich betone: die Qualität der landwirtschaftlichen Produkte - hervorzuheben,

(Minister Dr. Robert Habeck)

und zwar durch Marken und Begriffe. Es geht dabei um die Prägung der Identität des Landes. Die Identität des Landes prägen auch große landwirtschaftliche Betriebe. Wir alle kennen große Bierfirmen, die das Bild von Schleswig-Holstein maßgeblich geprägt haben. Die Detlev-Buck-Werbung dürfte den echten Norden wirklich geprägt haben. Wer an Lübeck denkt, denkt auch an Marzipan aus Lübeck, und auch die Konfitüre aus Bad Schwartau kennt jeder, der morgens lecker frühstücken möchte.

(Zuruf Lars Winter [SPD])

- Lars Winter, das ist auch schön. - Dahinter steht ein Wert, den der Absatz alleine nicht darstellen kann. Das haben wir erkannt, und darauf setzen wir. Im Bereich der Ernährungswirtschaft haben wir die Fachkräfteinitiative „Zukunft im Norden“ aufgelegt, um für den Bereich der Ernährungswirtschaft Fachkräfte bereitstellen zu können. Und wir wollen das vorhandene Kompetenznetzwerk foodRegio und das Kompetenzwerk Ernährungswirtschaft unter Federführung der Wirtschaftsförderung in Lübeck möglichst unter einem Dach zusammenfassen.

Vor allem wollen wir aber - das ist indirekt Thema der Großen Anfrage - die Verarbeitungstiefe im Land stärken. In den Gesprächen, die ich mit Vertretern der Landwirtschaft und Vertretern der Ernährungswirtschaft geführt habe, ist deutlich geworden, dass sie zwar voneinander wissen, aber sich nicht strategisch abstimmen. Wenn eine Ernährungswirtschaftsfirma die Idee hat, in zwei Jahren eine Marmelade herauszubringen, die mit Erdbeeren und nicht mit Orangen, die hier schlecht wachsen, bestückt ist, dann wäre es ja durchaus sinnvoll, dies dem Bauernverband mitzuteilen. Möglicherweise wollen die Bauern lieber Mais, Getreide oder Gerste und nicht Erdbeeren anbauen; möglicherweise ist dem aber auch nicht so. Wenn eine Bierfirma damit wirbt, dass sie mit Küstengerste braut, dann ist es möglicherweise keine schlechte Idee, die nächste Produktlinie rechtzeitig vorzustellen. So können wir die Verarbeitungstiefe im Land halten.

Das betrifft allemal auch die Schlachtstrukturen in Schleswig-Holstein, die uns in großem Umfang wegbrechen. Es geht darum, die verschiedenen Branchen und Betriebe stärker zu verzahnen. Das habe ich mir fest vorgenommen. Letztlich ist das ein freier Markt. Das können die Verantwortlichen nur selbst entscheiden. Aber sie alle an einen großen Tisch zu bringen, das soll eine Konsequenz der Großen Anfrage sein. - Vielen Dank.

(Beifall BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN, SPD und SSW - Detlef Matthiessen [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Sehr gut!)

Die Landesregierung hat die vereinbarte Redezeit um 2 Minuten überzogen. Diese stehen nun auch allen Fraktionen zu. Zunächst hat für die Fragestellerin der Großen Anfrage, die SPD-Fraktion, Frau Abgeordnete Kirsten Eickhoff-Weber das Wort.

Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen! Liebe Kollegen! Ernährungswirtschaft und Schleswig-Holstein, das gehört zusammen, seit Generationen. Lebensmittel aus dem echten Norden haben einen guten Ruf und sind weit über die Landesgrenzen hinaus bekannt. Das bestätigt auch die Antwort auf unsere Große Anfrage zur Ernährungswirtschaft, für die ich mich bei der Landesregierung, bei Minister Habeck und den beteiligten Häusern ausdrücklich bedanke.

(Beifall SPD, BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN, SSW, vereinzelt CDU und FDP)

Mit vielen Ortsnamen assoziieren wir herausragende Produkte des Landes: Lübeck, Silberstedt, Elmshorn, Flensburg, Böklund, Hamfelde, Ahrensburg.

(Zuruf SPD)

- Ja, man kann die Reihe beliebig fortsetzen. Auch Neumünster ist mit der Ernährungswirtschaft verbunden: das Landeslabor, das Milchtrocknungswerk, die Mühle Rosenkranz, Edeka Nord, die Regionalen Berufsbildungszentren und das Lebensmittelinstitut KIN.

Zur Ernährungswirtschaft gehören alle Wirtschaftsbereiche, die sich mit der Produktion, der Verarbeitung von und dem Handel mit Lebensmitteln befassen. Das sind in Schleswig-Holstein zahlreiche Betriebe und Unternehmen in unterschiedlichster Größe und Ausrichtung. Wir haben Netzwerke, Initiativen und Erzeugergemeinschaften, in denen die Akteure ihr Fachwissen und ihre Ideen zusammenbringen. Da ist Potenzial vorhanden. Wir haben zahlreiche Ausbildungsgänge im dualen System mit engagierten Ausbildungsbetrieben und guter beruflicher Bildung. Der Minister hat die Fachkräfteinitiative erwähnt. Wir haben Forschung und Entwicklung mit Studiengängen an mehreren Hochschulen, Kooperationen zwischen Hochschulen und Wirtschaft sowie Kompetenzzentren.

(Minister Dr. Robert Habeck)

Vor dem Hintergrund der vielschichtigen Debatte über gesunde Ernährung und nachhaltige Produktion müssen wir uns die Frage stellen, ob unsere Ernährungswirtschaft zukunftsfähig aufgestellt ist. Der Konzentrationsprozess und der Strukturwandel setzen sich fort. Lebensmittel werden in Deutschland immer billiger. Gleichzeitig wollen Verbraucher Lebensmittel aus der Region, aus einer Produktion, die umwelt- und tiergerecht ist. Zunehmend sind Verbraucherinnen und Verbraucher bereit, für nachhaltig produzierte Lebensmittel mehr Geld auszugeben. Regionale Vermarktung spielt dabei ebenso eine Rolle wie der insgesamt wachsende Markt für Bioprodukte.

Das Leibniz-Institut betrachtet in einem Sammelprofil die Wertschöpfungskette Umwelt - Mensch Ernährung - Gesundheit. Das beschreibt für mich sehr umfassend die Vielschichtigkeit der Ernährungswirtschaft.