Protokoll der Sitzung vom 07.05.2020

Der Umgang mit der Coronakrise beginnt, zum neuen Alltag zu werden. Nicht nur hier im Plenum sehen wir, wie Anpassungen stattfinden, um trotz aller Vorsicht ein Stück weit Normalität zu ermöglichen. Überall im Land werden die Menschen kreativ und finden Lösungen zur Überbrückung dieser schwierigen Zeit: Musikschulen, die Videounterricht anbieten, das Restaurant um die Ecke mit dem neuen Lieferdienst, Sportvereine, die innerhalb kürzester Zeit auf neue Vorgaben reagieren und unter Einhaltung strenger Sicherheitsvorgaben die Plätze öffnen können. All dies macht Mut, all dies zeigt übrigens auch, dass die Bürgerinnen und Bürger deutlich klüger sind, als ihnen gelegentlich zugetraut wird.

(Vereinzelter Beifall)

Die Infektionszahlen im Land zeigen, dass wir auf einem guten Weg sind - dank der Disziplin des Großteils der Menschen, von denen viele bedeutend härtere Einschränkungen hinnehmen müssen als eine Acrylglasscheibe zum Nachbarplatz, vor allem aber auch, weil die Maßnahmen zum Pandemieschutz nach wie vor auf große Akzeptanz stoßen. Das zeigen alle Umfragen - und das allen Verschwörungstheorien und aller Wirrheiten im Netz zum Trotz. Dafür können wir alle gemeinsam dankbar sein.

Es ist übrigens auch ein Verdienst unserer Presse, über die wir morgen noch sprechen werden, die mit dazu beizutragen hat, dass Akzeptanz für diese Fragen da ist. Auch dafür will ich ausdrücklich Dank sagen.

(Beifall SPD, CDU, BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN, FDP und SSW)

Beispiele wie die des Schlachthofs in Bad Bramstedt zeigen auch, wie viel Vorsicht nach wie vor geboten ist.

Wir beobachten auch die Entwicklung in Heimen mit Sorge, wenn das Virus erst einmal angekommen ist. In kurzer Zeit können wenige Infizierte die Zahlen extrem schnell nach oben treiben. Darum muss immer wieder betont werden: Die Situation bleibt ernst, alles, was wir beschließen, muss regelmäßig auf den Prüfstand, wir müssen die Infektionszahlen genau im Blick behalten, damit es in keinem Bereich zu unkontrollierten Verbreitungen kommt und uns keine Maßnahme auf die Füße fällt.

Der gestern beschlossene Bremsmechanismus, mit dem regional schnell auf neue Ansteckungshotspots schnell reagiert werden kann, ist darum eine kluge Regelung. Es ist nicht die Zeit für vorschnelle Ent

warnungen. Darum kann gar nicht oft genug daran erinnert werden, dass nach wie vor Abstand, persönliche Hygiene und das Tragen einer Maske für alle, denen es möglich ist, unerlässlich sind. Abstand ist die wahre Nähe in diesen Zeiten.

(Vereinzelter Beifall)

Es geht darum, zwei Dinge nicht zu gefährden: die bisherigen Erfolge im Kampf gegen die Pandemie einerseits und die Akzeptanz der Menschen andererseits. Denn klar ist: Es wird noch lange Zeit kein Zurück geben können zu dem, was für uns bis März Normalität ist. Einige Bereiche unseres Lebens werden sich vielleicht sogar für immer ändern. Das ist übrigens nicht überall eine Verschlechterung, meine lieben Kolleginnen und Kollegen.

Corona zeigt, wie wichtig ein handlungsfähiger, starker Staat ist, der keineswegs alles besser kann Herr Kollege Vogt, da bin ich bei Ihnen -, der aber nicht nur bei Schönwetter, sondern auch in der Krise funktionieren muss und der zum Beispiel eine öffentliche Krankenversorgung vorhält, die nicht auf Gewinnerzielung getrimmt wird,

(Beifall SPD und BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- NEN)

der so aufgestellt ist, dass auch in Krisenzeiten ausreichend Puffer vorhanden sind. Das gilt auch für schädliche Abhängigkeiten von Importen aus Diktaturen und Billiglohnländern. Auch dafür gilt: Dem freien Markt ist Pandemieschutz egal. Uns darf das nicht egal sein.

(Beifall SPD und SSW)

Auch in dieser Woche wurde wieder deutlich, dass es sehr viel einfacher ist, Beschränkungen einzuführen, als sie zu lockern. Herr Ministerpräsident, wir sind bei jeder Lockerung besonders gefordert, die eigene Kommunikation auf den Prüfstand zu stellen. Wir müssen nämlich verhindern, dass Ankündigungen als Aufruf zur falschen Sorglosigkeit missverstanden werden können. Jede Lockerung bringt neue Fragen, ob sich daraus nicht ebenso Lockerungen für andere Bereiche ergeben könnten. Es wird so sein, dass die einen erleichtert werden und die anderen nicht. Das mag anstrengend sein, aber all diese Fragen sind berechtigt, denn wir reden über die größten Beschränkungen unserer Bürgerrechte seit 70 Jahren. Wer solche Diskussionen verbieten will oder für falsch hält, verkennt die Grundzüge unserer freiheitlichen Gesellschaft. Über alles muss diskutiert werden.

(Beifall SPD, CDU, BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN, FDP und SSW)

(Dr. Ralf Stegner)

Wir können alle miteinander froh sein, in einem Land zu leben, in dem zuerst immer die Fortführung einer Einschränkung und eben nicht ihre Lockerung begründet werden muss. Dass das gestern noch einmal betont worden ist, finde ich ausdrücklich richtig.

Das gilt auch in solchen Ausnahmesituationen, und es gilt trotz der Tatsache, dass Gesundheitsschutz derzeit an erster Stelle steht und für uns weiterhin an erster Stelle stehen muss, über allem anderen.

(Beifall SPD und Lasse Petersdotter [BÜND- NIS 90/DIE GRÜNEN])

Als Politikerinnen und Politiker müssen wir die Anliegen gewichten. Denn alles gleichzeitig zu öffnen, ist in der derzeitigen Situation nicht möglich. Ja, einige Anliegen sind dringlicher als andere. Auch als Abgeordnete können wir uns nicht jedes Anliegen zu eigen machen, so berechtigt es aus subjektiver Sicht sein mag. Jedem Recht zu geben, ist die falsche Medizin. Es ist ein schwieriger Prozess.

Für meine Fraktion gilt weiterhin, dass wir uns zuerst und besonders für die einsetzen, die es derzeit am schwersten haben. Darum war uns wichtig, dass Familien endlich wieder aus der Enge so mancher Wohnung auf die Spielplätze dürfen. Es ist gut, dass diese Erleichterung gekommen ist. Die meisten Kommunen werden das vernünftig umsetzen, und die meisten Eltern sind auch vernünftig.

(Vereinzelter Beifall)

Familien dürfen nicht immer nur als Keimzelle unserer Gesellschaft beschworen werden - das machen wir oft in unseren sonntäglichen Reden -, sondern sie müssen gerade in der kommenden Phase, in der die Wirtschaft Schritt für Schritt in Gang kommt, immer im Blick behalten werden. Die Ausweitung der Wirtschaft und die Ausweitung der Betreuung müssen Hand in Hand gehen. Herr Ministerpräsident, ich begrüße ausdrücklich, dass ab dem 1. Juni für die Kinder in den Kitas überall wieder Betreuung angeboten werden soll, wie ich es Ihrer Ankündigung vorhin entnommen habe.

Unser besonderes Augenmerk muss aber auch der Frage gelten, ob Familien eine weitere unbürokratische Unterstützung in dieser schwierigen Zeit der Mehrfachbelastung benötigen. Da muss eine dauerhafte Lösung her.

Ich gebe dem Kollegen Sönke Rix völlig recht, der gestern vor dem Deutschen Bundestag festgestellt hat, dass wir nicht einerseits das Recht auf Betreuung festschreiben können und andererseits, wenn die Betreuung nicht gewährleistet werden kann, den

Familien entsprechende Hilfen versagen. Das passt nicht zusammen.

(Beifall SPD)

Deswegen haben wir daran zu arbeiten. Wir alle müssen ja ohnehin daran arbeiten, dass die Vereinbarkeit von Familie und Beruf besser wird. Das hat etwas mit Geschlechterrollen zu tun, aber auch mit ökonomischen Zwängen. Diese Krise weist uns besonders darauf hin, dass das eine Daueraufgabe ist, wo wir bei der Umsetzung dessen, von dem wir wissen, dass es richtig ist, vielleicht auch ein bisschen mehr Tempo gebrauchen könnten.

Zu den besonders Betroffenen gehören zum Beispiel auch Menschen in Heimen, die in den letzten Wochen aufgrund des Besuchsverbots enorm belastet waren. Einsamkeit ist konkret, Einsamkeit und Isolation tun weh, erst recht, wenn man ohnehin viel allein ist. Hier zu Lösungen für Besuche von Angehörigen zu kommen, mit der die Gefahren trotzdem so weit wie möglich minimiert werden, also gleichzeitig Kontakt zu ermöglichen, ist extrem wichtig. Herr Minister Garg, mir ist bewusst, dass das die Achillesverse dessen ist, was wir miteinander verantworten. Aber in einer humanen Gesellschaft, in der wir nicht nur über Menschlichkeit reden, sondern sie praktizieren - das gilt übrigens auch für die Einrichtungen der Behindertenhilfe -, müssen wir diese Aufgabe schultern.

Lassen Sie mich noch etwas anderes hinzufügen. Wir reden über erwachsene Menschen mit eigenem Kopf und dem Recht auf Selbstbestimmung, übrigens die, die unser Land mit aufgebaut haben und denen wir jetzt vieles zu verdanken haben, unsere Eltern und Großeltern. So sollten wir sie auch immer behandeln, wenn wir darüber nachdenken, was zu tun ist.

(Beifall)

Ich will mich namens meiner Fraktion ausdrücklich dafür bedanken - Kollegin Pauls hat das vorgetragen -, dass nach Wegen gesucht worden ist, dies umzusetzen

(Werner Kalinka [CDU]: Das kommt auch von uns!)

- aber nicht nur.

Ich weiß, wie sehr das alle Beteiligten fordert - das ist mir vollständig bewusst -, gerade diejenigen, die dort arbeiten.

Die zweite Gruppe, um die wir uns besonders kümmern, sind alle diejenigen, die derzeit noch härter schuften müssen als bisher, und das oftmals unter

(Dr. Ralf Stegner)

Bedingungen und für eine Entlohnung, bei der andere morgens keinen Fuß vor die Tür setzen würden. Ich sage das hier bewusst zum wiederholten Male, damit es nicht vergessen wird, insbesondere wenn die Krise vorbei ist. Dazu gehört das Personal in der Pflege, dazu gehören Erzieherinnen und Erzieher, die unter extrem schweren Bedingungen die Notbetreuung aufrechterhalten, dazu gehören aber auch Reinigungskräfte, deren Tätigkeit nach wie vor gern übersehen wird, obwohl wir die Früchte davon gern haben. Auch das will ich noch einmal deutlich hervorheben.

(Beifall SPD, BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN, SSW und Werner Kalinka [CDU])

Das ist übrigens sogar in diesem Saal so. Auch dafür herzlichen Dank.

(Beifall)

In der aktuellen Debatte darf nicht passieren, dass vor allem diejenigen Gehör finden, die eine große PR- oder Rechtsabteilung haben. Zuweilen wundere ich mich in diesen Tagen, mit welcher Verve einige Forderungen in die Debatte getragen werden. So sehr ich Fußballfan bin, will ich ausdrücklich sagen: Ich finde es gut, dass man Fußball in Form von Geisterspielen wieder sehen kann, aber man muss immer auch erklären können, warum die kleinen Jungs und Mädels nicht kicken oder anderen Sport treiben dürfen, oder muss dafür sorgen, dass sie es wieder dürfen. Denn sonst passt das nicht zusammen. Da wäre mir ein bisschen weniger Testosteron im Auftreten des einen oder anderen durchaus sympathisch.

(Vereinzelter Beifall BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN - Unruhe)

Es ist nicht die Zeit, dass sich diejenigen mit den am stärksten ausgeprägten Ellenbogen durchsetzen. Wer jetzt zuerst an sich selbst denkt, liegt falsch. Gilt das nicht eigentlich immer, liebe Kolleginnen und Kollegen?

Die letzten Wochen zeigen, dass wir immer dann Akzeptanz verspielen, wenn die Menschen Maßnahmen nicht nachvollziehen können, wenn zum Beispiel hinter der Landesgrenze plötzlich ganz andere Bedingungen gelten als noch davor. Manche Äußerungen von Ministerpräsidenten - damit meine ich ausdrücklich nicht unseren - galten eher dem innerparteilichen Wettbewerb als der Sache.

Der Maßstab nach der gestrigen Vereinbarung über mehr Eigenverantwortung der Länder sollte sein und bleiben: so viel Einheitlichkeit wie möglich allemal in Norddeutschland -, so wenig Regionalität

wie nötig. Das gilt in Norddeutschland wirklich, und ich finde die norddeutsche Zusammenarbeit für uns extrem wichtig. Es hilft der Akzeptanz, wenn das in Hamburg, in Mecklenburg-Vorpommern und Niedersachsen nicht gänzlich anders gehandhabt wird als bei uns. Damit sollte klar sein, dass Überbietungswettbewerbe unter Bundesländern um die plakativste Nachricht - wer ist der härteste Hund oder der schnellste Öffner? - unangebracht sind. Damit ist wirklich niemandem geholfen.

Wir wünschen uns übrigens auch die Rückkehr zu vernünftigen Zuständen an der deutsch-dänischen Grenze, und zwar auf beiden Seiten, wenn ich das hier einmal ausdrücklich sagen darf.

(Beifall)