Protokoll der Sitzung vom 07.05.2020

Bericht der Landesregierung Drucksache 19/2121

Wird das Wort zur Begründung gewünscht? - Das ist nicht der Fall. Für den Bericht zu b) erteile ich dem Minister für Soziales, Gesundheit, Jugend, Familie und Senioren, Dr. Heiner Garg, das Wort.

(Minister Jan Philipp Albrecht)

Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Herren Abgeordnete! Die gegenwärtige Krise, über die bislang sehr ausführlich diskutiert wird, ist bereits jetzt eine Zäsur, die weitreichende Folgen hat. Dass wir bisher gut durch diese Krise gekommen sind, ist nicht nur einem ausgesprochen leistungsfähigen Gesundheitssystem zu verdanken. Menschen, die beispielsweise vor der Krise in Festanstellung tätig waren und jetzt ihren Arbeitsplatz verloren haben, können sich auf eine Institution verlassen, nämlich den Sozialstaat.

(Beifall FDP, SPD, BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- NEN und vereinzelt CDU)

Dass Menschen, die ihre Arbeit verloren haben, nicht sofort ihre gesamte Existenz verlieren, die sie sich zum Teil mühsamst über viele Jahre aufgebaut haben, ist auch und gerade ein Ergebnis einer funktionierenden sozialen Sicherung in Deutschland.

(Vereinzelter Beifall SPD)

Der Sozialstaat muss aber nicht nur während der Coronakrise leistungs- und handlungsfähig sein. Den Sozialstaat zu erhalten und ihn weiterzuentwickeln, das ist und bleibt in den kommenden Jahren eine ganz zentrale Aufgabe, und zwar nicht nur für Sozialpolitikerinnen und Sozialpolitiker.

(Beifall Dr. Andreas Tietze [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN])

Er soll auch über diese Krise hinaus Perspektiven auf Teilhabe, auf Bildung und auf Aufstieg für die Menschen bieten. Er soll die Menschen in Schleswig-Holstein auch in den kommenden Jahren vor Armut schützen, und er soll ihnen beispielsweise auch eine menschenwürdige Pflege ermöglichen. Insbesondere der demografische Wandel verändert unsere Gesellschaft sehr umfassend. Eine gestiegene Lebenserwartung, neue Formen des Zusammenlebens, Wanderungsbewegungen zwischen Stadt und Land sowie die Migration betreffen auch die Menschen in Schleswig-Holstein, und der Megatrend Digitalisierung beeinflusst in unserem Bundesland die Art des Wirtschaftens, die Arbeitsprozesse, das Lernen und die Wertschöpfung. Diese Entwicklungen stehen derzeit möglicherweise nicht unmittelbar im Fokus. Ich jedenfalls weiß, womit wir uns in den letzten zehn Wochen beschäftigt haben. Diese Fragen müssen aber trotzdem beantwortet werden, und diese Politikfelder müssen wieder bearbeitet werden, meine sehr geehrten Damen und Herren.

(Beifall Dennys Bornhöft [FDP] und Lars Harms [SSW])

Diese Entwicklungen werden uns nach dem Ende der sogenannten Coronakrise wieder sehr stark beschäftigen, denn sie haben erhebliche Auswirkungen auf die Erwartungen und die Anforderungen an einen modernen Sozialstaat sowie auf die Finanzierungsmöglichkeiten.

Um die Zukunftsfähigkeit des Sozialstaates und seine zeitgemäße Weiterentwicklung zu diskutieren, haben deswegen die regierungstragenden Fraktionen ein Zukunftslabor für die Weiterentwicklung der sozialen Sicherung ins Leben gerufen. Im Fokus der Arbeit des Zukunftslabors steht die Frage der Umsetzbarkeit verschiedener sozialer Absicherungsmodelle und deren wissenschaftliche Beurteilung.

Der Zukunftslabor hat bereits erkennbare Ergebnisse zustande gebracht. Das zeigt der Bericht über die Arbeit des Zukunftslabors, den Ihnen die Landesregierung vorgelegt hat. Im ersten Projektabschnitt haben beteiligte Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler eine systematische Auswertung der wissenschaftlichen Studien und der sonstigen Literatur vorgenommen, um die Auswirkungen des demografischen Wandels und der Digitalisierung auf die sozialen Sicherungssysteme zu untersuchen. Im folgenden Projektabschnitt ging es darum, Szenarien für die künftige Entwicklung zu erarbeiten. Dabei sind eine breite Öffentlichkeit und maßgebliche gesellschaftliche Akteurinnen und Akteure beteiligt worden, um die Entwicklung von Zukunftserwartung und Wünschen auf eine breite Legitimationsbasis zu stellen.

Parallel dazu sind Modellprojekte und Reformansätze zur sozialen Absicherung analysiert worden, die in der jüngsten Vergangenheit im europäischen Ausland umgesetzt worden sind. Schwerpunktmäßig ging es darum, die dabei erzielten Erfolge und Misserfolge zu bewerten. Danach sind vier Reformszenarien entwickelt worden: Bürgergeld, Grundeinkommen, Weiterentwicklung der bestehenden sozialen Sicherungssysteme und Bürgerversicherung. Um die fiskalischen Auswirkungen der einzelnen Reformansätze betrachten zu können, hat das Deutsche Institut für Wirtschaftsforschung Mikrosimulationen durchgeführt.

Die Idee des Zukunftslabors und der damit verbundene Prozess sind angesichts der beschriebenen Herausforderungen nach wie vor notwendig, und sie sind richtig.

(Beifall SSW, vereinzelt FDP und BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

Ich sage sehr deutlich: Während des Prozesses sind in zunehmendem Maße Differenzen über das methodische Vorgehen und die Art und Weise der Zusammenarbeit mit dem Auftragnehmer, dem Institut für Sozialökologie, aufgetreten. Zudem haben weitere Vorfälle während der Vertragslaufzeit dazu geführt, dass die Landesregierung das Auftragsverhältnis Anfang Februar 2020 außerordentlich gekündigt hat.

Meine sehr geehrten Damen und Herren, ich sage Ihnen aber auch: Das Zukunftslabor ist nicht mit dem Auftragnehmer gleichzusetzen. Genau vor diesem Hintergrund prüft die Landesregierung gegenwärtig die Fortführung des Zukunftslabors mit neuer Unterstützung. Das feste Ziel unserer Koalition ist es, das Zukunftslabor auf der Basis der bisher erreichten Ergebnisse zu einem erfolgreichen Ende zu führen. - Ich bedanke mich für die Aufmerksamkeit.

(Beifall FDP, CDU, BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und SSW)

Der Minister hatte die vereinbarte Redezeit nur um 30 Sekunden überzogen. Diese Zeit steht nun auch allen anderen Rednern zur Verfügung.

(Beifall CDU und FDP)

- Herr Minister, das war durchaus positiv gemeint. Das Wort für die SPD-Fraktion hat die Abgeordnete Birte Pauls.

Schade, ich war auf eine längere Rede eingestellt, das ist ja sonst der Fall, aber alles gut. - Herzlichen Dank für diesen - wie soll ich sagen - sehr aufschlussreichen Bericht. Viel zu lachen haben wir in diesen Zeiten eigentlich nicht, aber diesen Bericht zu lesen, war sehr unterhaltsam, jedenfalls für uns. Sehr nüchtern und nordisch sachlich beschreibt der Bericht die Überflüssigkeit des Zukunftslabors. Ich zitiere den Ministerpräsidenten aus seiner ersten Regierungserklärung:

„Mit einem Zukunftslabor werden wir die Chancen … diskutieren und die Ergebnisse auf die Bundesebene tragen.“

Entgegen aller Ankündigung kostet das Zukunftslabor den Steuerzahler wohl circa 700.000 €, vielleicht auch noch mehr, wenn es jetzt zu einem Per

sonalwechsel kommt. Das ist sehr viel Geld für das Motto: Wenn ich nicht mehr weiterweiß - oder, so wie in diesem Fall, von Uneinigkeit ablenken will -, dann gründe ich einen Arbeitskreis.

Das Zukunftslabor wurde von Koalitionspartnern angekündigt, deren Haltungen zu den sozialen Sicherungssystemen sehr unterschiedlich sind. Die CDU möchte die Weiterentwicklung der bestehenden sozialen Sicherungssysteme. Wie wichtig diese sind, hat Herr Minister Garg eben deutlich gesagt. Teile der Grünen möchten ein bedingungsloses Grundeinkommen und Teile der FDP ein liberales Bürgergeld. Unterschiedlicher kann es kaum sein.

Das aus der politischen Debatte outgesourcte Zukunftslabor fand bislang in Beiratssitzungen und in halböffentlichen Veranstaltungen und Onlineabfragen statt, die für viele nur sehr schwer nachzuvollziehen sind und die auch tatsächlich nur einen ganz kleinen Teil der Menschen erreichten. 150 und 123 waren es mal.

Das ausgewählte Institut publiziert seit Jahren über das Grundeinkommen. Sein Leiter ist Mitbegründer des Netzwerkes Grundeinkommen und ehemaliger Mitarbeiter der grünen Bundestagsfraktion. Zufälle gibt es!

In der Projektbeschreibung heißt es dann auch, das Zukunftslabor solle eine Vision der sozialen Sicherung entwickeln und dabei vor allem die Rolle eines Grundeinkommens prüfen. - Gleichzeitig schreibt Herr Kalinka in seiner Pressemitteilung während der Rentendebatte - ich zitiere sinngemäß -: Auf eine Prüfung der Bedürftigkeit zu verzichten, ist komplett ungerecht.

In den „Kieler Nachrichten“ konnten wir lesen, dass das durchführende Institut das Desinteresse der CDU an einer Infragestellung der berufsständig gegliederten sozialen Sicherung problematisch findet. - Harmonie sieht anders aus.

Laut Projektbeschreibung soll der Beirat, der neben Vertreten der Sozialversicherungssysteme, Gewerkschaften und Wohlfahrtsverbänden auch aus Vertretern der Parteien besteht, beraten, unterstützen und einvernehmliche Empfehlungen abgeben. Diese Erwartungshaltung wurde besonders von den Grünen betont. Ich bezweifle - meine Phantasie reicht nicht aus, es mir vorzustellen -, dass es hier zu einem Einvernehmen kommen wird. Jedenfalls würde ich gern auf dem CDU-Parteitag dabei sein, wenn Herr Kalinka aus vollster Überzeugung seiner Partei das bedingungslose Grundeinkommen beibringen will.

(Minister Dr. Heiner Garg)

Der Ministerpräsident spricht in seiner Regierungserklärung von einer Denkwerft für die sozialen Sicherungssysteme, in der wir Ängste der Menschen ebenso diskutieren wie deren Wünsche und Hoffnungen. Die Abfragen sind aber bisher nur einem ganz kleinen elitären Teil der schleswig-holsteinischen Bevölkerung vorbehalten. Die Auftaktveranstaltung war nicht öffentlich angekündigt und bestand aus reinem Fachpublikum.

In einer weiteren Runde wurden 100 Studierende gefragt. Mein Verstand sagt mir, dass Studierende eine andere Haltung zur sozialen Sicherung haben als Werftarbeiter oder Pflegepersonal, die 30 Jahre im Schichtdienst gearbeitet haben. Allerdings kann ich nicht erkennen, dass diese auch noch gefragt werden sollen. Die Rückläufer der Umfragen waren so gering, dass Sie sich gründlich blamieren werden, wenn Sie das Projekt tatsächlich auf die Bundesebene holen.

Schon nach kürzester Zeit wurde unten den Beiratsmitgliedern von Zeitdiebstahl geredet. Kopfschütteln machte sich schnell breit. Der anfänglichen Euphorie über die angeblich ach so große Modernität folgte schnell nüchterne Kenntnisnahme. Und dann hatte ich mich die ganze Zeit gefragt, warum unser Antrag aus dem Oktober zur Abschaffung des Zukunftslabors von einer Sitzung in die nächste geschoben worden ist. Die Antwort kam per Brief am 15. April 2020, auf dem Höhepunkt der Pandemie. Wahrscheinlich wollte man, dass das nicht bemerkt wird. Vom Leiter des Zukunftslabors habe man sich wegen zunehmend unterschiedlicher Vorstellungen über die inhaltliche Arbeit trennen müssen. Gleichzeitig wird im Bericht aber betont, dass eine Fortführung des Zukunftslabors überprüft wird. - Echt jetzt? Nach dieser Reihenfolge von Pleiten, Pech und Pannen wollen Sie in diesen Zeiten Ihre gruppendynamische Tummelwiese der Unterschiedlichkeiten wirklich noch weiterführen? Wen wollen Sie denn dafür noch motivieren? - Die Mitarbeiter des Sozialministeriums und der IMAG haben wirklich wichtigere Dinge zu tun als das.

(Beifall SPD)

Zum Schluss möchte ich noch den ehemaligen Leiter des Zukunftslabors, Herrn Professor Dr. Opielka, zitieren. Er sagt: Zum Ansatz eines Zukunftslabors gehört das Experiment, der Versuch, aber auch der Irrtum. - Sie sollten ein letztes Mal auf ihn hören. - Vielen Dank.

(Beifall SPD)

Das Wort für die CDU-Fraktion hat der Abgeordnete Werner Kalinka.

Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Ich danke für den Bericht. Er ist fundiert, er ist korrekt, er ist anspruchsvoll geschrieben, und ich füge hinzu: Er ist analytisch stärker als manche Sitzung, die wir gehabt haben.

(Beifall CDU, FDP und SSW)

Meine Damen und Herren, das Zukunftslabor ist nicht gescheitert. Vielleicht ist auch der Titel etwas anspruchsvoll. Es ist bisher nur einiges etwas unglücklich gelaufen.

(Zuruf SPD)

- Freuen Sie sich nicht zu früh. Wer etwas machen will, muss gelegentlich auch einmal einen zweiten Anlauf wagen. Ich sage aus meiner Sicht: Obwohl die Wege sich getrennt haben, danke ich dennoch dem Institut für Sozialökologie und den Unterauftragnehmern. Wir haben einfach in den Ergebnissen und in den Zielsetzungen jetzt keine volle Einigkeit mehr gehabt.

Aber das ändert nichts daran, dass ich auch hier vom Plenum aus Danke sage.

(Vereinzelter Beifall CDU und FDP)

Frau Abgeordnete Pauls, Sie haben eines vergessen. Sie haben in den Beiratssitzungen dabeigesessen, haben nur fast nie etwas gesagt.

(Heiterkeit)

Das ist der Schönheitsfehler Ihrer ganzen Argumentation.