Protokoll der Sitzung vom 19.05.2010

Weil es gut ist, die Betroffenen selbst zu Wort kommen zu lassen, will ich an dieser Stelle aus einem Vortrag von Frau Dr. med. Margret Pohl auf einer Fachtagung in Frankfurt zitieren. „Ich stehe heute hier als Mutter einer elfjährigen, schwer mehrfachbehinderten Tochter und Mutter eines knapp vierzehnjährigen gesunden Sohnes. Ich bringe aber auch die Erfahrung einer sechsjährigen Vorstandsarbeit im Verein für Körper- und Mehrfachbehinderte Mainz mit und die zweiundzwanzigjährige Erfahrung als Kinder- und Jugendärztin. Franziska - so heißt die Tochter - hat eine Hirnfehlbildung durch eine Infektion, die ich in der Schwangerschaft hatte. Sie kam als vermeintlich gesund zur Welt. Sie kann nicht sprechen und versteht unsere Sprache nicht. Sie wird immer inkontinent sein, das heißt, es muss regelmäßig eine neue Windel angelegt werden. Franziska wird viermal am Tag sondiert, muss über eine Sonde, die über die Bauchdecke direkt in den Magen führt, ernährt und mit Flüssigkeit versorgt werden, zusätzlich zu dem, was ihr oral angeboten wird. Sie hat ein schweres Anfallsleiden mit zum Teil lebensbedrohlichen Krampfanfällen, die unterschiedlich beginnen und deshalb manchmal gar nicht richtig als Anfall gedeutet werden. Sie muss in jedem Augenblick des Tages von einem erfahrenen Auge beobachtet werden und wird nachts monitorüberwacht. Ihre Position muss über den Tag, aber auch in der Nacht häufig gewechselt werden. Franzi steht in einem Stehständer mindestens eine Stunde am Tag, was alleine in der Vorbereitung des Orthesenanlegens, der Gurtung des Hinlegens auf das Rückenliegebrett und das langsame Aufrichten zirka 15 Minuten benötigt.“

Kann sich jemand von Ihnen ernsthaft vorstellen, dass Franziska eine Regelschule besuchen kann?

Diese Mutter sagt, wir, auch viele andere Eltern mit vergleichbaren Problemen, empfinden den Unterricht in einer guten Förderschule nicht als Diskriminierung oder Segregation, sondern als eine hoch qualifizierte spezielle Antwort auf einen hoch komplexen individuellen Bedarf. Sie beendet ihren Vortrag mit der Bitte, dass in jedem Fall - egal, wie man zur Inklusion steht, und egal, welche Schritte man zur Umsetzung geht - der Elternwille entscheidend für die Schulform sein muss und nicht eine politische Vorgabe.

(Beifall bei den Regierungsfraktionen.)

Der Mensch im Mittelpunkt ist genau der Ansatz, den wir haben. Deswegen werden wir die Schritte zur Umsetzung der UN-Konvention, aufbauend auf dem, was in diesem Land schon in diesem Bereich geleistet worden ist, mit allen Akteuren gemeinsam gehen. Wir werden ihn im Interesse der Betroffenen unter starker Einbindung der Menschen mit Behinderung gehen. Wir werden nichts über die Köpfe der Betroffenen hinweg zum Prinzip erheben. - Vielen Dank.

(Beifall bei den Regierungsfraktionen.)

So weit die Ministerin für Arbeit, Familie, Prävention, Soziales und Sport. - Nächste Wortmeldung: Frau Abgeordnete Isolde Ries von der SPD-Fraktion.

Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Frau Ministerin Kramp-Karrenbauer, natürlich sagt niemand hier im Haus, dass wir auf einem Nullpunkt sind. Natürlich sagt niemand hier, dass wir alle Förderschulen sofort auflösen wollen. Das ist bei dem Zustand der Regelschulen im Saarland überhaupt niemandem, ob behindert oder nicht, zuzumuten! Das kann man gar nicht.

(Beifall bei den Oppositionsfraktionen.)

Wir haben überfüllte Regelschulen mit großen Klassen. Wir brauchen erst den Aufbau. Die Regelschulen müssen sich auf das neue System vorbereiten. Erst dann kann man langfristig darüber nachdenken. So schnell wird das überhaupt nicht gehen. Das wird keiner von uns hier wollen, weil wir wissen, dass es aufgebaut werden muss. Da muss man alle mitnehmen. Es darf aber nicht sein, dass seit 14 Monaten eine UN-Konvention in Kraft ist und diese Landesregierung, wenn Herr Schnitzler nachfragt, was sie vorhat und was sie schon gemacht hat, nicht sagen kann, was sie gemacht hat, sondern nur, was sie vorhat. Es wird wieder ein Gutachten geben.

Andere Bundesländer wie Rheinland-Pfalz haben schon seit zwei Monaten einen Landesaktionsplan in Kraft gesetzt. Wenn gesagt wird, das ist der Wahl

(Ministerin Kramp-Karrenbauer)

geschuldet, dann erwidere ich, Malu Dreyer ist selbst behindert und hat diesen Plan in Kraft gesetzt. Dieser Landesbehindertenplan liegt uns vor; er enthält 200 Maßnahmen zur Umsetzung der Ziele der UN-Behindertenrechtskonvention. Sie sagen, dieser Plan bedeutet nichts. Ich wäre froh, Sie wären nur annähernd so weit.

(Beifall bei den Oppositionsfraktionen.)

Ich musste grinsen, als ich in dieser Woche diesen Antrag von CDU, FDP und GRÜNEN vorgefunden habe. Nachdem die UN-Konvention 14 Monate in Kraft ist, wird die eigene Landesregierung aufgefordert, in die Gänge zu kommen, weil alle Verbände Lehrerverbände, Behindertenverbände - und die SPD-Fraktion Anfragen gestellt haben. Wir haben hier eine Fragestunde veranstaltet. Wir haben Sie in Debatten aufgefordert, endlich tätig zu werden. Es ist nichts geschehen. Jetzt muss die eigene Regierungskoalition die Landesregierung auffordern, damit Sie überhaupt darüber nachdenken, dass endlich etwas passieren muss. Ich glaube, ein Anlass war auch, dass die SPD-Fraktion am 06. Mai eine Anhörung von über 30 Verbänden hier im Hause hatte. Sie war sehr gut besucht.

Nun haben Sie gedacht zeigen zu müssen, dass Sie zur UN-Konvention stehen. Herr Scharf hat es eben facettenreich getan. Sie haben gesagt, wir stehen zur UN-Konvention. Alleine dass Sie das so ausführlich getan haben, zeigt, Sie gehen davon aus, dass viele daran zweifeln und dies zu Recht. Alleine dazu stehen reicht nicht, weil Stehen Stillstand bedeutet. Wir wollen vielmehr, dass Sie damit voranschreiten.

In Ihrem Antrag steht: Die Landesregierung soll prüfen. Andere Bundesländer haben schon längst Anhörungen gemacht. Wir sind seit über 14 Monaten in der Umsetzungsphase. Sie sagen: Die Landesregierung soll prüfen, welche Auswirkungen die UN-Konvention auf die Rechte der Menschen mit Behinderungen hat. Sie wollen einfach nicht akzeptieren, dass die UN-Konvention einen Systemwechsel beinhaltet, weg vom Wohlfahrtsgedanken und hin zum Menschenrechtsansatz. Herr Scharf, ich schätze Ihren Einsatz für behinderte Menschen, aber ich glaube, es geht nicht alleine mit Bauch.

(Unruhe.)

Auch heute haben Sie das wieder vorgetragen: Kinder mit Beeinträchtigungen - - Mit Bauchgefühl, meine ich. Mit Bauchgefühl! Entschuldigung!

(Verbreitet Heiterkeit und Sprechen. - Abg. Scharf (CDU) : Ich stehe zu meinem Bauch!)

Die armen behinderten Kinder und Jugendliche brauchen keinen Schonraum. Wenn das richtig wäre, würde das bedeuten, dass wir Regelschulen haben, vor denen man bestimmte Kinder schützen muss. Das ist ein Armutszeugnis für unser Bildungs

system und zeigt, dass unsere Schul- und Lernkultur dringend reformiert werden muss. Die Gesellschaft muss Abstand davon nehmen, Sonderstrukturen oder Sonderlösungen zu schaffen. Vielmehr muss sie von Anfang an in allen Prozessen Menschen mit Behinderungen mitnehmen - das heißt nämlich inklusive - und nicht ausgrenzen und daneben in irgendeiner Form Sonderstrukturen aufrecht erhalten.

(Beifall bei den Oppositionsfraktionen.)

Es muss Schluss sein mit der Auslese der Schüler. Stattdessen geht es mehr um individuelle Förderung in einem inklusiven Schulsystem. Das ist nicht von mir. Das ist ein Zitat von Prof. Dr. Rita Süssmuth, CDU; sie hat es beim GEW-Bildungsforum „Didacta“ so gesagt. Und nicht nur Rita Süssmuth. Auch der CDU-Bundesbeauftragte für Menschen mit Behinderungen, Hubert Hüppe, war kürzlich im Saarland und hat gesagt, dass mit der Ratifizierung der UN-Konvention die Entscheidung für ein gemeinsames Leben und Lernen bereits gefallen sei. Es gehe längst nicht mehr um das Ob der Umsetzung, sondern nur noch um das Wie. Genau das ist es. Auch Herr Hüppe ist schon viel weiter als Schwarz, Gelb und Grün hier im Saarland. Sie sind weiterhin in Ihrer Ideologie gefangen, und das ist sehr schade, weil Sie es nicht einmal so bös meinen.

(Zuruf.)

Nein, Sie erkennen einfach nicht an, dass hier Menschen selbst bestimmen wollen, selbst denken wollen. Sie wollen vorschreiben und gängeln. Das geht einfach nicht. Und Ihr Dreisäulenmodell, das Sie in Ihrem Antrag wieder wie eine Monstranz vor sich her tragen, ist zur Umsetzung der UN-Konvention ungeeignet, weil es ihr widerspricht. Das sage nicht ich, sondern die GEW im Saarland, deren Vorsitzender jahrelang Klaus Kessler war.

(Zurufe.)

Die GEW sagt weiter, dass die Landesregierung an der stigmatisierenden Etikettierung von Kindern und Jugendlichen mit Behinderungen festhalte.

(Weitere Zurufe.)

Mir ist im Laufe der heutigen Debatte ganz klar geworden, dass Sie einfach nicht verstanden haben, worin der Unterschied zwischen Integration und Inklusion überhaupt liegt. Inklusion heißt nämlich: Behinderte Menschen sind von vornherein mit eingeschlossen; sie gehören dazu. Integration heißt: Sie stehen irgendwo außerhalb.

(Zuruf des Abgeordneten Kühn (FDP).)

Aber sicher. Wenn ich zuerst aussondere, wie sollen sie dann gemeinsam mit uns leben? Die UN-Konvention schafft doch keine speziellen Rechte für die Menschen mit Behinderungen, sondern sie spricht

(Abg. Ries (SPD) )

ihnen die gleichen Rechte zu wie uns und allen anderen auch.

(Beifall bei den Oppositionsfraktionen.)

Wir betrachten Behinderungen weder als Schicksal noch als individuelles Defizit. Behinderung entsteht durch gesellschaftliche Barrieren, und die müssen wir abbauen. Dann war die Rede von einer uneingeschränkten Aufrechterhaltung eines ausgebauten Förderschulsystems. Natürlich brauchen wir Förderschullehrer, mehr denn je. Das hat niemand hier bestritten, im Gegenteil. Und wir freuen uns, dass hier im Saarland endlich die zweite Lehrerphase angegangen worden ist. Sie sagen, das sei notwendig geworden, weil hier jahrelang zu wenig Lehrer eingestellt worden seien, weil die Bedingungen für Sonderschullehrer -

(Zuruf des Abgeordneten Schmitt (CDU).)

Fragen Sie doch einmal die Lehrerinnen und Lehrer! Ihre Arbeitsbedingungen hier im Saarland sind viel zu schlecht: befristete Verträge, weniger Gehalt. Und dann kommen Sie erst in die Gänge, während die anderen Bundesländer schon alle Lehrerstellen besetzt haben.

(Beifall bei den Oppositionsfraktionen.)

Wir haben eine ganze Menge Familien, die ihre Kinder gern in das saarländische Schulsystem integriert hätten, aber sie haben außerhalb des Saarlandes zugesagt, weil hier die Zusage viel zu spät kam und die Bedingungen zu schlecht waren. - Herr Abgeordneter.

Abg. Schmitt (CDU) mit einer Zwischenfrage:

Frau Kollegin Ries, würden Sie bitte zur Kenntnis nehmen, dass wir in den letzten Jahren deutschlandweit einen Mangel an Förderschullehrern hatten, dass sich in den letzten Jahren im Saarland die Arbeitsbedingungen und die Gehaltsstufen für diese Lehrer überhaupt nicht von denen vergleichbarer Bundesländer unterschieden haben und dass wir praktisch jeden auf eine normale Planstelle übernommen haben, der auf dem Markt zur Verfügung stand? Wären Sie bereit, dies zur Kenntnis zu nehmen? Und würden Sie auch zur Kenntnis nehmen, dass wir im Saarland die zweite Ausbildungsphase deshalb wieder eingeführt haben, weil es deutschlandweit einen Mangel an Förderschullehrern gab?

Ich nehme das überhaupt nicht zur Kenntnis, weil es einfach nicht stimmt.

(Zurufe.)

Wir haben Kontakt mit vielen Lehrerinnen und Lehrern, die ihr Referendariat gern im Saarland begonnen hätten. Wir haben sogar Einser-Kandidatinnen, die hier nicht genommen worden sind.

(Abg. Schmitt (CDU) : Sie sollen sich sofort bewerben.)

Ach, sofort bewerben! Es ist in der Tat so, dass die Bedingungen bei uns schlechter sind, dass die Frauen und Männer, die gern hier angefangen hätten, nicht die Chance dazu hatten. Deshalb ist es bitter notwendig, dass Sie ein System aufbauen und sagen: Okay, bevor uns die anderen die guten Lehrer wegschnappen, bilden wir die Lehrer hier im Saarland aus. Wir haben deshalb in unserem Antrag auch gefordert, auf ein Gutachten zu verzichten, denn das ist völliger Quatsch. Wir wissen, was fehlt. Es gibt genügend Erkenntnisse. Wir brauchen dringend eine Expertenanhörung zu den Konsequenzen und Erfordernissen der UN-Behindertenrechtskonvention, wie sie andere Bundesländer längst durchgeführt haben. Wir wollen, dass spätestens bis Ende des Jahres ein Zeitplan vorgelegt wird. Auch das hat Herr Kessler als ehemaliger Vorsitzender der GEW immer gefordert. Mittlerweile wurden drei Anfragen gestellt, und die Antwort lautete jedes Mal: Einen Zeitplan gibt es nicht. Das macht die Landesregierung nicht. Wir fordern ferner einen Landesaktionsplan. Er muss bis Ende des Jahres vorliegen. Warum? Nicht, weil am 03. Dezember der Welttag der Behinderten ist oder weil die UN-Konvention dann schon 21 Monate in Kraft ist, nein, weil 2011 die UN-Konvention zwei Jahre alt ist und Deutschland vor den Vereinten Nationen berichten muss. Dann stünde das Saarland als das Bundesland da, das die Konvention noch nicht umgesetzt hat. Und wenn Sie so weitermachen wie bisher, wird es auch so kommen.

Wir wollen ferner, dass alle im Saarland geltenden und geplanten Maßnahmen in Zukunft auf Vereinbarkeit mit Bestimmungen über die Rechte behinderter Menschen, die sich aus der Konvention ergeben, überprüft werden. Wir wollen auch die Kompetenzen des Landesbehindertenbeirates -

Frau Kollegin, ich darf Sie an Ihre Redezeit erinnern. Sie ist zu Ende.

Ja, ich komme zum Schluss. - Der Landesbehindertenbeirat muss ein Beanstandungsrecht haben, damit es hier endlich vorangeht. Wir sagen: Die behinderten Menschen im Saarland sind keine Bittsteller und dürfen es auch künftig nicht sein. Sie haben in Zukunft die freie Wahl ihrer Schule zu garantieren, auch das Saarland ist verpflichtet, das Recht der UN-Konvention anzuerkennen. Inklusion und Partizipation sind Leitbegriffe einer demokratischen und humanen Gesellschaft, und jetzt kommen Sie endlich in die Gänge!