Protokoll der Sitzung vom 11.11.2015

(Ministerpräsidentin Kramp-Karrenbauer)

gen können wir uns darüber nur eine sehr persönliche Meinung bilden.

Ich persönlich tue mich sehr schwer damit zu sagen, das eine oder das andere war das Richtige. Zuerst einmal muss ich anerkennen, was die ganz überwiegende Mehrheit der Saarländerinnen und Saarländer 1955 entschieden hat, und muss als historische Leistung der Verantwortlichen in der Bundesrepublik Deutschland und insbesondere in Frankreich anerkennen, dass es zehn Jahre nach Ende des Zweiten Weltkrieges möglich war, in einer friedlichen Art und Weise auch das Selbstbestimmungsrecht eines Volkes anzuerkennen und dieser Anerkennung den Weg zu bereiten. Das ist eine politische Haltung, von der wir heute in den 2000er Jahren in diesem Europa etwa mit Blick auf die Ukraine oder andere Länder leider sagen müssen, dass dies keine Selbstverständlichkeit ist. Umso höher ist diese historische Leistung des Jahres 1955, insbesondere von Frankreich, zu bewerten.

Es ist in der Debatte ein wenig der Eindruck entstanden - ich glaube, es ist ein falscher Eindruck -, dass es jetzt an der Zeit wäre, die Ära des eigenen Saarstaates erst einmal richtig aufzuarbeiten. Wenn man das in diese Richtung diskutiert, erweckt man den Eindruck, als sei diesbezüglich in den vergangenen Jahren und Jahrzehnten nichts geschehen. Auch das ist etwas, was nicht den Fakten entspricht. Es gibt keinen oder kaum einen Bereich in der sehr spezifischen saarländischen Geschichte - das ist meine Einschätzung -, der gerade in den letzten Jahren so intensiv und auch so differenziert aufgearbeitet wurde wie die Zeit der Saar-Abstimmung.

Wenn Sie sich alleine das von Rainer Hudemann und Armin Heinen herausgegebene Quellen- und Arbeitsbuch anschauen, so ist dort von fast 700 Titeln die Rede, die sich als Bücher, als Aufsätze oder Quellen mit der Frage des Saar-Staates und der Saar-Abstimmung beschäftigen. Ich glaube, sehr geehrter Herr Kollege Lafontaine, dass man aus der Aufarbeitung durch die Historiker erkennen kann, dass es vielleicht zuerst ein relativ einseitiges Urteil gab, dass sich dieses Urteil aber im historischen Verlauf sehr ausdifferenziert hat. Einer derjenigen, die die deutsch-französische Aussöhnung am Beispiel des Saarlandes am besten erforscht haben und die das in ihrer Person kaum besser darstellen könnten, ist Professor Hudemann. Ein Großteil seines Forschungs- und Lebenswerkes macht genau dieses Thema aus. Wenn wir im vergangenen Jahr nach der Emeritierung von Professor Hudemann dessen Lehrstuhl mit seinem Schüler, Herrn Professor Hüser, besetzt haben, der ganz in der Tradition seines Doktorvaters steht und ein ausgewiesener Kenner der deutsch-französischen Geschichte und insbesondere der Nachkriegsära ist, dann zeigt das, dass die saarländische Landesregierung bei Beru

fungen an der Universität genau diesem Thema eine große Bedeutung beimisst und dass sie in ihrem Rahmen Unterstützung leistet, damit das Land und die Generationen, die nach uns kommen, auch wirklich eine aufgearbeitete Geschichte vorfinden und sich ihr eigenes Bild machen können.

(Beifall bei den Regierungsfraktionen.)

Ich will etwas zu dem sagen, was meine Vorredner angesprochen haben. Sehr geehrter Herr Kollege Ulrich, das Jubiläum und der Festakt 2007 waren kein Fest für 50 Jahre Saarland, es war ein Fest aus Anlass von 50 Jahren politischer Rückgliederung des Saarlandes als eigenständiges Bundesland in die Bundesrepublik Deutschland. Auch das gehört zur historischen Wahrheit und Korrektheit. Deswegen soll das an dieser Stelle auch erwähnt werden.

(Abg. Ulrich (B 90/GRÜNE) : Alles eine Definitionssache.)

Ich glaube, es ist wichtig, dass wir bei der Frage nach den Beweggründen, sich 1955 auf die eine oder andere Seite zu stellen, Sorgfalt walten lassen sollten, um mögliche Motive richtig einzuordnen. Ein Motiv derer, die in die Bundesrepublik Deutschland zurückkehren wollten, war sicherlich auch die Erfahrung aus der Saar-Geschichte, sich zu unterschiedlichen Zeitpunkten nach den kriegerischen Auseinandersetzungen immer in einem Sonderstatus zu befinden, der nach einigen Jahren auch wieder durch Volksabstimmungen revidiert wurde. Sie gestatten mir jetzt meine Interpretation, ich habe das auch beim Festakt gesagt. Ich habe manchmal den Eindruck, dass viele Saarländerinnen und Saarländer 1955 auch eine Entscheidung gesucht haben, die ihnen für die Zukunft eine unverrückbare, eine sichere Einbindung in ein Staatswesen gewährt hat. Vielleicht gehört es auch zur historischen Wahrheit, dass das, was wir heute in unserer Ausprägung unter Europa verstehen, was wir als Institutionen kennen, was wir als europäische Wirklichkeit erleben, für viele Menschen, insbesondere für die Kriegsgenerationen, 1955 sicherlich eher den Charakter einer Utopie oder einer Vision hatte und dass sich viele Menschen schwergetan haben, sich dieser Vision und Utopie anzuvertrauen. Ich glaube, auch das hat eine Rolle gespielt.

(Beifall bei den Regierungsfraktionen.)

Ich kann aber, sehr geehrter Herr Kollege Lafontaine, sehr gut nachvollziehen und nachfühlen, was Sie etwa mit Blick auf Richard Kirn ausgeführt haben, dass jemand, der von den Nationalsozialisten verfolgt wurde, nach der Abstimmung 1955 seinen Wohnsitz und Lebensmittelpunkt aus dem Saarland weg, von Deutschland nach Frankreich verlagert hat, weil er einfach Angst hatte, dass diejenigen, die ihn einmal unterdrückt und verfolgt haben, noch einmal verfolgen werden. Ich kann das deshalb nach

(Ministerpräsidentin Kramp-Karrenbauer)

fühlen, weil ich ein ähnliches Erlebnis in diesem Sommer in einem ganz anderen Zusammenhang hatte. Ich glaube, auch das wollten Sie vorhin ausdrücken, als Sie gesagt haben, es sei auch wichtig, dass dieser Landtag in der Debatte heute und auch in seinen Beschlüssen zum Ausdruck bringt, dass zu unserer Geschichte und angesichts der Tatsache, dass wir uns als demokratisches Gemeinwesen entwickelt haben, natürlich und vor allen Dingen die Lebensleistung der Menschen gehört, die in einer Diktatur Widerstand geleistet haben. Niemand von uns ich sage das auch ganz bewusst für mich persönlich - könnte in der heutigen friedvollen Zeit, in der wir leben, wirklich die Hand für sich ins Feuer legen, dass er das Rückgrat und den Mut hätte, in einer Diktatur, wenn sein Leben und seine Gesundheit in Gefahr sind, Widerstand zu leisten. Ich bewundere jeden Menschen, der das kann.

Ich habe vor wenigen Monaten, im Sommer, bei einem Besuch in der Gedenkstätte des ehemaligen Stasi-Gefängnisses Hohenschönhausen mit Menschen gesprochen, die dort Führungen machen und auch mit den Schulklassen die Dinge aufarbeiten, die sie selbst in diesem Gefängnis erlebt haben. Ich habe mit zwei ehemaligen Inhaftierten gesprochen. Der eine kam als damals 18-Jähriger in dieses Gefängnis, weil sein Vater im Westen für die Stasi spioniert hatte und dann, als er enttarnt werden sollte, in die DDR zurückgegangen ist. Die ganze Familie ist dann zuerst einmal inhaftiert worden. Dieser Mann hat mir berichtet, wie es ist, wenn er heute in dieses Gefängnis zurückkommt und dann beim Verlassen der Gedenkstätte auf der Straße diejenigen trifft, die ihn damals als Wärter oder als Verantwortliche drangsaliert haben, denn die leben immer noch in der Straße neben diesem Gefängnis.

Ich habe eine Frau getroffen, die heute als Journalistin im Westen arbeitet, die damals inhaftiert wurde, weil sie einen Ausreiseantrag gestellt hat, die dann freigekauft wurde. Sie hat mir gesagt, dass sie noch Jahre später Angst hatte und Panikattacken beim Überqueren einer Straße bekam, weil der für sie zuständige Mann der Stasi ihr damals bei ihrer Ausreise in die Bundesrepublik gesagt hat, sie solle sich nie zu sicher sein, denn nichts sei einfacher zu arrangieren als ein Verkehrsunfall. Meine sehr geehrten Damen und Herren, das zeigt, egal von welcher Diktatur man verfolgt wird, welch tiefe Wunden Verfolgung bei den Menschen hinterlässt, welch tiefe Wunden Verfolgung schlägt. Deswegen haben Sie vollkommen recht, Herr Kollege Lafontaine, es ist unsere Pflicht als Demokraten, auf die Lebensleistung dieser Menschen hinzuweisen. Ich glaube, dass der Landtag das immer getan hat und das auch in Zukunft tun muss.

(Beifall bei den Regierungsfraktionen.)

Deswegen begrüße ich die heutige Diskussion. Ich begrüße auch, dass der Landtag heute beschließen wird, dass er sich sozusagen in einer Selbstverpflichtung dieser Aufgabe stellt. Ich glaube, es wäre ein gutes Signal im Licht dessen, was wir diskutiert und besprochen haben, wenn es vielleicht im Präsidium eine gemeinsame Verständigung darauf gäbe, wie diese Aufarbeitung - auch unter Begleitung des Landtages und sicherlich mit Unterstützung der Landesregierung - der Fragen, die vielleicht noch nicht aufgearbeitet sind, in der Zukunft geschehen kann. Ich glaube, auch das wäre ein wichtiges gemeinsames Signal aller Demokraten in diesem Haus. Auch das wäre etwas, was uns in diesem Jubiläumsjahr gut zu Gesicht steht. - Herzlichen Dank.

(Beifall bei den Regierungsfraktionen.)

Kollege Lafontaine, erlauben Sie mir eine Zwischenbemerkung, bevor ich Ihnen das Wort erteile. Es steht mir nicht zu, in meiner Funktion die Debatte von hier oben inhaltlich zu führen, aber ich glaube, es war eine sehr angemessene Debatte. Die Zielrichtung ist in großen Teilen gleich. Ich glaube, wir sollten uns Folgendes in Erinnerung rufen. Das Präsidium des Landtages hat 2013 schon einmal darüber diskutiert, wie wir damit umgehen; damals wurde noch kein Beschluss gefasst. Ich könnte mir sehr gut vorstellen - das wollte ich einflechten -, dass das Landtagspräsidium einen Vorschlag erarbeitet, wie wir gemeinsam mit dem Thema umgehen. Das könnte man auch mit der Landesregierung besprechen.

Ich glaube, es ist kein Problem zu sagen, wir wollen die Geschichte weiter aufarbeiten. Dann besteht auch nicht der Streit, ob oder wie viel aufgearbeitet ist. Das wollen alle und in geeigneter Form, das heißt natürlich unter Einschaltung von Wissenschaft und Publizistik. Ich glaube, das wäre ein sinnvoller Vorschlag. Es wäre nämlich sehr schade, wenn eine so angemessene Debatte, die im Geiste gemeinsam geführt wird, in konträren Abstimmungen landen würde. Ich gebe das zu bedenken.

Ich darf jetzt dem Kollegen Lafontaine das Wort erteilen.

Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Ich mache noch drei Bemerkungen. Ich komme zunächst zur Bemerkung des Kollegen Ulrich, dass das Porträt von Johannes Hoffmann in der Staatskanzlei von mir aufgehängt worden sei. Ich nehme ja gerne Lob entgegen, aber ich muss das Lob weitergeben an den Vater unseres Landtagsdirektors. Es war Werner Zeyer, der damals dieses Porträt aufgehängt hat. Ich habe das damals sehr begrüßt, weil es gezeigt hat, dass auch in der CDU

(Ministerpräsidentin Kramp-Karrenbauer)

Saar langsam die Bereitschaft bestand, die Männer und Frauen zu würdigen, die damals als christliche Politiker im Widerstand waren. Wenn ich christliche Politiker hier an der Saar zu würdigen habe - ich will das noch einmal sagen -, dann gilt selbstverständlich mein Respekt Werner Scherer, der hier vorhin erwähnt worden ist. Aber mein großer Respekt gilt Johannes Hoffmann, trotz all der Kritik, die er aufgrund der schwierigen Situation nach dem zweiten Weltkrieg erfahren hat. Aber er steht für mich als jemand, der auch aus seiner Glaubensüberzeugung heraus Widerstand gegen Nationalsozialismus geleistet hat. Das wollte ich festhalten. Deshalb wäre es vielleicht gut, wenn die Zahl 60 in Ihrem Antrag gestrichen werden würde. Aber bitte, das ist Ihre Sache. Ich kann das ja nur anregen.

Dass Landesregierungen immer Geschichtspolitik machen, ohne damit vielleicht irgendwelche Absichten zu verbinden, will ich an dem offiziellen Dokument bei saarland.de über das Saarstatut und die Volksabstimmung 1955 verdeutlichen. Da stehen nur ein paar Sätze. „Der Abstimmungskampf verlief sehr leidenschaftlich. Es kam zu nationalistischen Überspitzungen - vor allem von Seiten der DPS.“ Dann wird gesagt: Niederlage - Hoffmann trat zurück. Es steht da: „Am 29.10.1955 übernahm (…) Heinrich Welsch (parteilos) die Regierungsgeschäfte.“ Sonst steht da nichts.

Man muss wissen, Heinrich Welsch - deswegen müssen wir so hartnäckig sein - war Leiter der Gestapo in Trier und hat etwa die Abonnenten der Hoffmann-Zeitung nach Berlin gemeldet. Er hat auch die Namen von kommunistischen und sozialistischen Funktionären nach Berlin gemeldet. Ich meine, zumindest das würde in Form einer Anmerkung dorthin gehören, sonst wird man dem nicht gerecht.

Vielleicht sollten wir bei der Aufarbeitung - ich bin dankbar für das Angebot, das Sie, Herr Präsident, gemacht haben - nicht nur an Verfehlungen denken, sondern, das sage ich an die Sozialdemokraten gerichtet, auch an das, was eigentlich die damalige Zeit ausmachte. Das konnte man eben nicht nur an den bereits erwähnten Namen lernen, sondern auch daran, wenn beispielsweise ein Landtagsabgeordneter wie Karl Petri, der auch fliehen musste und in der Résistance war, abends, wenn wir zusammensaßen, nach dem fünften Bier anfing, Lieder der Résistance zu singen. Das zeigt in etwa die Atmosphäre der damaligen Zeit.

Deshalb wäre es gut, wenn wir auch in diesem Sinne die Aufarbeitung betreiben würden, also nicht nur, indem wir feststellen, wer auf der einen Seite stand, sondern auch, wer als Stolperstein des Widerstands hier in diesem Parlament saß.

(Beifall bei der LINKEN und vereinzelt von ande- ren Abgeordneten.)

Das Wort hat Herr Fraktionsvorsitzender Stefan Pauluhn.

Sehr geehrter Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Ich finde, die Debatte ist ausgesprochen verantwortungs- und geschichtsbewusst geführt worden. Deshalb wäre es sehr schade und der Debatte abträglich, wenn wir jetzt bei der Abstimmung über die Anträge in einer kontroversen Auseinandersetzung auseinandergehen würden, um sozusagen den einen zu beerdigen und den anderen zu beschließen.

Deshalb will ich sehr gerne den Vorschlag des Landtagspräsidenten aufgreifen und ihn erweitern in ähnlicher Form, wie wir das mit Sachanträgen bei anderen Themenkomplexen hin und wieder tun. Ich schlage Ihnen vor, beide Anträge in das erweiterte Präsidium zu überweisen, um dort die Beratung fortzusetzen und zu einem gemeinsamen Ergebnis zu kommen. Dann würden wir jetzt in der Sache und in der Abstimmung nicht streiten, sondern sie zur weiteren Beratung ins erweiterte Präsidium überweisen. Das ist der Vorschlag. Ich hoffe, er trifft auf die Zustimmung des ganzen Hauses.

(Beifall von den Regierungsfraktionen und bei den PIRATEN.)

Ich darf zunächst fragen, ob es zum Beitrag des Kollegen Pauluhn noch Wortmeldungen gibt. - Ich erlaube mir dann, über diesen Vorschlag, beide Anträge an das Erweiterte Präsidium zu überweisen, unkonventionell abstimmen zu lassen, und sage zu, dass wir das zeitnah und zügig beraten wollen, um das Thema zu einem Ergebnis zu führen. Wer für diese Vorgehensweise ist, den bitte ich um das Handzeichen. - Danke, das ist einstimmig.

Dann treten wir in die Pause ein. Wir setzen die Sitzung in einer Stunde, also um 14.00 Uhr, fort.

(Die Sitzung wird von 12.57 Uhr bis 14.02 Uhr unterbrochen.)

Liebe Kolleginnen und Kollegen, wir setzen die unterbrochene Sitzung fort und kommen zu den Punkten 9 und 15 der Tagesordnung:

Beschlussfassung über den von der PIRATEN-Landtagsfraktion eingebrachten Antrag betreffend: Nein zur Transitzone: Schnelles, pragmatisches und unbürokratisches Verteilsystem für Asylbewerber einführen (Drucksa- che 15/1576)

(Abg. Lafontaine (DIE LINKE) )

Beschlussfassung über den von BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN-Landtagsfraktion eingebrachten Antrag betreffend: Für ein weltoffenes, friedliches und sicheres Saarland - Rechter Hetze den Boden entziehen (Drucksache 15/1577)

Zur Begründung des Antrags der PIRATEN-Landtagsfraktion erteile ich Herrn Fraktionsvorsitzenden Michael Hilberer das Wort.

Sehr geehrte Frau Präsidentin! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Anfang dieses Jahres hat sich die Flüchtlingskrise dramatisch zugespitzt, also die echte Flüchtlingskrise, das sinnlose Sterben von Menschen an den europäischen Außengrenzen. Wenn es einen Moment gibt, der dieses völlige moralische Versagen Europas im Angesicht des Leidens dieser Menschen zum Ausdruck bringt, einen Augenblick, der es auch der gesamten europäischen Öffentlichkeit, der Weltöffentlichkeit vor Augen geführt hat, dann waren das mit Sicherheit die Bilder vom sinnlosen Tod des dreijährigen Aylan Kurdi, die um die Welt gingen. Schonungslos wurde uns damit vor Augen geführt, was für ein Abschottungssystem wir da inzwischen aufgebaut haben. Ein Abschottungssystem um Europa herum, das - man muss es in der Drastigkeit sagen - Menschen an unseren Grenzen elendig verrecken lässt.

Dieser Sommer brachte dann aber in Europa eine Wende im Umgang mit den Flüchtlingen. Es war für viele überraschend die deutsche Bundeskanzlerin, die in diesen Wochen der Schande Rückgrat bewiesen hat.

(Abg. Ulrich (B 90/GRÜNE) : Das zerfließt aber gerade, das Rückgrat.)

Mit ihrem inzwischen berühmten Satz „Wir schaffen das!“ hat sie die humanitäre Katastrophe anerkannt, nicht mehr geleugnet und uns vor allem an unsere Verpflichtung erinnert, die Situation in den Griff zu bekommen. Ihre genauen Worte waren: Das Motiv, mit dem wir an diese Dinge herangehen, muss sein: Wir haben so vieles geschafft - wir schaffen das! Wir schaffen das, und wo uns etwas im Wege steht, muss es überwunden werden. - Ich glaube, vor allem dieser zweite Teil des Zitats ist wichtig. Es müssen Widerstände niedergerungen und Probleme aus dem Weg geschafft werden.

In jenen Tagen - das wird mir auch immer in Erinnerung bleiben - war ich auf einer internationalen Konferenz zum Thema Ungleichheit. Ich kann Ihnen sagen, es war sehr ungewohnt, als Deutscher plötzlich mit so viel positivem Feedback zur deutschen Politik konfrontiert zu werden. Die Tage vorher waren noch geprägt vom Versagen Deutschlands bei der Euro

Rettung, von unserer oft opportunistischen, kurzfristigen und kurzsichtigen Politik, die wir im Rahmen der Eurokrise betrieben haben. Dann ist die Stimmung regelrecht umgeschlagen, denn gerade für viele Europäerinnen und Europäer war es das lange vermisste Zeichen, die Wende in der Flüchtlingskrise einzuleiten.

Viele Deutsche, viele Europäer waren aber auch überrascht und schnell auch ein wenig verunsichert von dieser großen Geste. Es hat auch nicht lange gedauert, bis in Deutschland ein Kippen der Stimmung herbeigeredet wurde. Viel zu schnell wollte man auf die hören, die behaupteten, einer der reichsten Staaten der Welt mit 80 Millionen Einwohnern wäre überfordert, wenn nach einem Jahr eine Million Flüchtlinge zu uns kommen.

Die Flüchtlingskrise ist in der deutschen Öffentlichkeit nun nicht mehr der sinnlose Tod von Kindern im Mittelmeer, in der öffentlichen Wahrnehmung sind es die Bilder von überforderten Verwaltungen in Deutschland, die es nicht mehr schaffen, in einer vernünftigen Zeit eine Registrierung der Flüchtlinge durchzuführen. Es sind Bilder von Polizeibehörden, die gegen jeden Ankommenden wegen illegaler Einreise ermitteln müssen, obwohl wir alle wissen, dass diese Arbeit für die Tonne ist. Es sind die Bilder von Behörden, die davon überrascht sind, dass eine große Menge an Flüchtlingen an einem bestimmten Tag ankommt, obwohl sie vorher wie an einer Perlenkette aufgezogen schon durch Slowenien und durch Österreich gekommen sind. Wenn man die dortigen Nachrichten hören würde, könnte man auf die ankommende Menge vorbereitet sein.

Es sind aber auch Eskapaden der deutschen Politik, dilettantische Antworten der Politik. Ich nenne nur die Eskapaden des Bundesinnenministers, die ein völlig widersinniges Bild liefern, die den Eindruck vermitteln, dass wir diese Krise eben nicht im Griff haben, dass Deutschland tatsächlich überfordert wäre. Das sind wir aber nicht. Wir sind nicht überfordert und wir dürfen auch nicht überfordert sein, nicht angesichts der Herausforderungen, vor denen wir noch stehen. Deshalb stellen wir heute unseren Antrag. Wir fordern ein Ende dieses Krisenmodus, wir müssen nun zu einer klaren Struktur kommen und zu pragmatischen Lösungen finden. Es müssen pragmatische Lösungen gefunden werden, um die sogenannte Krise zu lösen. Unser gesamtes Asylsystem ist noch immer darauf ausgelegt, Menschen möglichst schnell abzuweisen, sie schnellstmöglich wieder loszuwerden. Das fällt völlig aus der Zeit und das muss auch ein Ende haben.