Protokoll der Sitzung vom 06.03.2008

Meine sehr verehrten Damen und Herren! Ich eröffne die 102. Sitzung des 4. Sächsischen Landtages.

Folgende Abgeordnete haben sich für die heutige Sitzung entschuldigt: Herr Prof. Dr. Milbradt, Herr Eggert, Frau Schöne-Firmenich, Herr Dr. Müller, Herr Baier, Frau de Haas, Frau Henke, Herr Schön, Herr Mirko Schmidt und Frau Klinger.

Meine Damen und Herren! Die Tagesordnung unserer heutigen Sitzung liegt Ihnen vor. Das Präsidium hat

folgende Redezeiten für die Tagesordnungspunkte 3 bis 9 festgelegt: CDU 117 Minuten, Linksfraktion 89 Minuten, SPD 54 Minuten, NPD 40 Minuten, FDP 40 Minuten, GRÜNE 40 Minuten, fraktionslose MDL je 7 Minuten und die Staatsregierung 59 Minuten.

Meine Damen und Herren! Der Tagesordnungspunkt 15, Kleine Anfragen, ist zu streichen. Ich frage, ob es zu der Ihnen vorliegenden Tagesordnung noch Änderungs- oder Ergänzungsanträge gibt. – Das ist nicht der Fall. Dann gilt die vorliegende Tagesordnung für die heutige Sitzung als von Ihnen bestätigt.

Wir kommen damit zum

Tagesordnungspunkt 1

Aktuelle Stunde

1. Aktuelle Debatte: Kinder schützen – Kinder bilden

Antrag der Fraktionen der CDU und der SPD

2. Aktuelle Debatte: Höhere Löhne für Sachsen – Tarifverhandlungen im öffentlichen Dienst zügig führen

Antrag der Linksfraktion

Die Verteilung der Gesamtredezeit der Fraktionen hat das Präsidium wie folgt festgelegt: CDU 39 Minuten, Linksfraktion 31 Minuten, SPD 14 Minuten, NPD, FDP, GRÜNE je 12 Minuten und die Staatsregierung 20 Minuten.

Meine Damen und Herren! Wir kommen nun zu

1. Aktuelle Debatte

Kinder schützen – Kinder bilden

Antrag der Fraktionen der CDU und der SPD

Als Antragsteller haben zunächst die Fraktionen der CDU und der SPD das Wort; die weitere Reihenfolge in der ersten Runde: Linksfraktion, NPD, FDP, GRÜNE und die Staatsregierung.

Meine Damen und Herren! Die Debatte ist eröffnet. Ich bitte die CDU-Fraktion, das Wort zu nehmen. Frau Nicolaus, bitte.

Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Der Sächsische Landtag hat sich in den vergangenen Wochen und Monaten intensiv mit dem Thema Kinderschutz und Kinderbildung auseinandergesetzt. Es waren nicht die tragischen Fälle des kleinen Mehmet in Zwickau bzw. Kevin in Bremen oder ein Fall in Kirchberg, gleich in meiner Nachbarschaft. Dort starb Robin in einem Mehrfamilienhaus und keiner hat etwas bemerkt. Diese Vorkommnisse aus der Vergangenheit haben auf drastische Art und Weise deutlich gemacht, dass Kinderschutz eine gesamtgesellschaft

liche Aufgabe ist, an deren Verwirklichung wir alle teilhaben und an der wir uns messen lassen müssen.

Ich denke, ich spreche hier im Namen aller, wenn ich sage, dass Fälle von Kindesmisshandlung oder gar -tötung in unserem Land nicht vorkommen dürfen. Ich will nicht verschweigen, dass es solche Dinge schon immer gab, aber in einer zivilisierten Welt, die aufgeklärt ist und viele Dinge im Überfluss hat, dürfte es so etwas nicht geben.

Die zu Kinderschutz und -bildung geführten Debatten sind aber auch aus einem anderen Grund von immenser Wichtigkeit. Wir alle sind uns der demografischen Entwicklung im Freistaat Sachsen und in der gesamten Bundesrepublik bewusst. Es kommen Probleme auf uns zu, welche nicht leicht zu handhaben sind. Wir schaffen es aber nur dann, sie zu lösen, wenn wir unseren Kindern das entsprechende Rüstzeug in die Hand und auch in den Kopf geben. Ich möchte an dieser Stelle eine Aussage auf der Fachtagung zum Aktionsplan „Kindgerechtes und familienfreundliches Sachsen“ wiedergeben. Henry Ford

sagte einst: „Die Wettbewerbsfähigkeit eines Landes beginnt nicht in der Fabrikhalle oder im Forschungslabor, sie beginnt im Klassenzimmer.“ Lebte Henry Ford jetzt, so würde er es bestimmt so formulieren, dass die Leistungsfähigkeit eines Landes in der Kita beginnt.

Meine Damen und Herren! Damit komme ich zur heutigen Aktuellen Debatte. Gestatten Sie mir, dass ich verstärkt auf die Problematik des Kinderschutzes eingehe, während sich meine geschätzte Kollegin Frau Dr. Schwarz intensiv mit dem Thema Kinderbildung auseinandersetzen wird.

Im Freistaat Sachsen wurde in den vergangenen Monaten eine Vielzahl von Maßnahmen ergriffen und durchgeführt, um einen besseren Kinderschutz umzusetzen. Die heutige Debatte soll Anlass sein, diese näher vorzustellen, über sie zu berichten und sie gegebenenfalls auszuwerten. Gleichzeitig sollte man diese Debatte aber auch dazu nutzen, um neue Ideen und Anregungen vorzubringen.

Eine solche Anregung wäre beispielsweise die Novellierung der Vorsorgeuntersuchungen. Dies ist ein schwerwiegendes Thema beim Kinderschutz, aber sicherlich nicht das einzige Mittel, um Vernachlässigung entgegenzutreten. Wir alle, meine Damen und Herren, sind uns der Wichtigkeit der Untersuchung wohl bewusst, stellt sie doch eine Möglichkeit dar, Gefährdungen von körperlichen, psychischen und geistigen Entwicklungen von Kindern frühzeitig zu erkennen und Defiziten entgegenzuwirken. Wir regen zum Beispiel an, die Intervalle zu überprüfen. Diese sollten kürzer und zielgenauer ausgerichtet werden. Ferner sollten auch die bisher nicht klar beschriebenen Anforderungen an die Ärzte definiert und abschließend klar formuliert werden, um so die Qualität der Vorsorgeuntersuchungen weiter auszubauen.

Eine weitere Anregung in diesem Zusammenhang wäre, das Einladungswesen neu zu gestalten. In Betracht käme ein Bonus-Malus-System oder nur ein Bonussystem, bei dem die Eltern belohnt werden, wenn sie die Untersuchungen für ihre Kinder wahrnehmen. Aber auch ein verbindliches Einladungswesen wäre eine Möglichkeit, diese Vorsorgeuntersuchungen zu präferieren. In Bayern wird zum Beispiel das Landeserziehungsgeld nur dann ausgezahlt, wenn die Vorsorgeuntersuchungen nachgewiesen werden können. Sicherlich, meine sehr verehrten Damen und Herren, ist es ein Spagat zwischen Fürsorge und Bevormundung der Eltern zum Wohle der Kinder, aber in einigen Fällen müssen die Kinder vor ihren Eltern geschützt werden, weil die Eltern entweder mit der Erziehung oder mit dem täglichen Klein-Klein überfordert sind oder es trifft beides zu.

Die Jugendhilfe im Freistaat Sachsen, die von den Kommunen umgesetzt wird, leistet hier schon Enormes. Es bedarf aber in der Zukunft neuer Mechanismen, vernetzter Strukturen und einer besseren Durchlässigkeit der einzelnen Maßnahmen,

Bitte zum Schluss kommen.

um den Erfordernissen gerecht zu werden. Wir wollen uns dieser Aufgabe stellen.

(Beifall bei der CDU und der SPD)

Ich erteile das Wort der Fraktion der SPD. Frau Dr. Schwarz, bitte.

Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Die Einzelfälle hat meine Kollegin Nicolaus aufgezählt. Furchtbare Fälle von Kindesvernachlässigung, Missbrauch, schweren Misshandlungen und Tötung von Kindern standen stark im Fokus der Öffentlichkeit und haben viele erschüttert. Meine Fraktion und ich sind uns einig, dass es wirksame Hilfe geben muss, um die Risiken früh zu erkennen. Dabei geht es nicht nur um Risikofamilien, sondern wir wissen, dass Gefahr auch im öffentlichen Raum droht.

Um diese Kindeswohlgefährdungen rechtzeitig zu erkennen, braucht es eine klare Strategie für die Unterstützung der Jugendämter in ihrer Aufgabenwahrnehmung. Hier auch wieder unser Appell an die Kommunen, die Jugendämter entsprechend auszustatten. Es wird in vielen Jugendämtern schon hervorragende Arbeit geleistet. Denn es ist auch immer wieder die Frage von Kooperation und Vernetzung von Jugendhilfe, Gesundheitswesen, Beratungsstellen, Schule, Polizei und Justiz sowie einer hohen Sensibilität des Umfelds, also des Hinschauens und nicht des Wegschauens.

Es gibt jetzt in den meisten Jugendämtern schon geförderte Koordinationsstellen, die diese Vernetzung herbeiführen bzw. optimieren.

Meine Kollegin Nicolaus ist auch auf das Problem der Früherkennungsuntersuchungen eingegangen. Ich möchte für meine Fraktion noch einmal sagen: Wir wollen verbindliche Regelungen für den Kinderschutz; denn die Nichtteilnahme an den Früherkennungsuntersuchungen ist ein Indiz dafür, dass vielleicht manche Eltern ihre Fürsorgepflicht nicht so ernst nehmen, wie wir das wünschen. Wenn jemand an diesen Untersuchungen nicht teilnimmt, dann können auf dieser Grundlage vielleicht doch Interventionen der Kinder- und Jugendhilfe und des öffentlichen Gesundheitsdienstes erfolgen.

Wir wissen aus der Statistik, dass sich diese Frühuntersuchungen hoher Akzeptanz erfreuen. In den ersten Lebensjahren nehmen sie fast 90 % der Eltern wahr. Aber im Laufe der nächsten Jahre nimmt das ab. Im fünften Lebensjahr sind es im sächsischen Durchschnitt nur noch 78 %.

Ich möchte auch noch einmal auf die Problematik eingehen, die aus einer Kleinen Anfrage unseres Kollegen Alexander Krauß deutlich wird: dass die Untersuchung im vierten Lebensjahr, die wir im Kita-Gesetz verbindlich festgeschrieben haben, nicht so wahrgenommen wird, insbesondere vom öffentlichen Gesundheitsdienst in den Landkreisen, wie es gesetzlich gefordert

wird. Es ist auch eine Aufgabe für uns zu sehen, wie das verbessert werden kann.

Wir wollen bei den Früherkennungsuntersuchungen ein verbindliches Einladungsverfahren, kontrollierende Rückmeldemechanismen und aufsuchende Sozialarbeit. Es ist gesagt worden, dass einige Länder hier schon gesetzliche Regelungen haben und diesbezüglich vorangehen. Ein Datenaustausch muss eben möglich sein, was nicht heißt, dass wir den Datenschutz aushebeln wollen.

Aber akute Gefährdungen von Kindern werden auch beim besten Bemühen um Frühwarnsysteme, diagnostische Instrumentarien, enge Kooperationsnetze und präventive Maßnahmen nicht vollständig zu vermeiden sein. Die Beschränkung im Hinblick auf die Verbesserung der Früherkennung greift zu kurz.

Hier greift ein zusätzlicher Ansatz der frühkindlichen Bildung. Ich denke, wir haben mit unserem novellierten Kita-Gesetz dem auch Rechnung getragen; denn Kinder verdienen die besten Bildungschancen unabhängig von ihrem Elternhaus. Zugangs- und Bedarfskriterien sind der falsche Weg. Wir haben hier von dieser Stelle aus immer an die Kommunen appelliert, diese sogenannten Zugangskriterien abzuschaffen. Die Erwerbssituation der Eltern darf nicht schon eine Einbahnstraße für unsere Kinder bedeuten.

Kinderkrippen sind eben die ersten Bildungsinstitutionen der Kinder. Ich verweise hier auf den Titelbeitrag vom „Spiegel“ der vergangenen Woche, der sich sehr differenziert mit der Frage der Betreuung der unter Dreijährigen auseinandersetzt.

Die Kita bietet eben die beste Möglichkeit, Kinder früh und individuell zu fördern, elternhausbedingte Nachteile auszugleichen oder auch überforderte Eltern zu entlasten und zu unterstützen. Erste Erfolge des Sächsischen Bildungsplanes stellen sich ein. Wir müssen die Rahmenbedingungen weiterhin verbessern, um diesen Bildungsplan umsetzen zu können. Bildungschancen sind Lebenschancen. Was wir in der frühkindlichen Bildung versäumen, ist kaum noch auszugleichen. Die Unterstützung von Familien und flankierende staatliche Maßnahmen müssen ineinandergreifen.

(Beifall bei der SPD und der CDU)

Ich erteile das Wort der Linksfraktion. Herr Neubert, bitte.

Sehr geehrter Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Wir haben uns schon gefragt, warum die Koalition gerade heute das Thema „Kinder schützen – Kinder bilden“ auf die Tagesordnung gesetzt hat; denn das Thema ist eigentlich immer wichtig und immer brisant, aber eben nicht der Stoff für eine Aktuelle Debatte hier im Haus. Aber vielleicht hat die CDU die Äußerungen ihres Ministerpräsidenten in Sachsen-Anhalt geahnt. Denn da – das muss man zugeben – wurde das Thema dann doch ganz aktuell.

Sehr geehrte Damen und Herren! Das Thema „Kinder schützen“ – und mit dem Teilbereich der Benennung der Aktuellen Debatte will ich beginnen – hat immer dann Konjunktur, wenn es irgendwo in dieser Republik getötete, misshandelte oder verwahrloste Kinder zu beklagen gibt. Konjunktur haben dann auch immer die schnellen Vorschläge, die nicht geeignet sind, die konkreten Verbrechen zu verhindern. Sie sind leider auch überhaupt nicht geeignet, den umfassenden Schutz von Kindern vor Gefahren, vor körperlichen und seelischen Schäden zu gewährleisten.

Diesmal war Herr Böhmer sehr schnell mit Erklärungsmustern und damit Auslöser der jüngsten öffentlichen Debatte. Der Ministerpräsident des Landes SachsenAnhalt hat die aktuellen Fälle von Kindstötungen mit dem liberalen Abtreibungsrecht der DDR in Verbindung gebracht; eine absurde Argumentation.