Protokoll der Sitzung vom 19.05.2005

Vielen Dank; ich habe davon gehört. Ich konnte es aber einfach nicht glauben und hatte bisher keine Zeit, das zu verifizieren. Aber ich muss schon sagen: Hochverrat, Verbot der SPD und Abschaffung der Bundesrepublik – –

(Alexander Delle, NPD: Sie wollen doch Parteien verbieten!)

Ja, wer sich in dieser Gedankenwelt bewegt, meine Damen und Herren von der NPD, der gehört wirklich in ärztliche Behandlung

(Heiterkeit bei der SPD, der CDU, der PDS, der FDP und den GRÜNEN – Uwe Leichsenring, NPD: Das wird Ihnen der Wähler schon sagen!)

ich würde allerdings Herrn Dr. Müller nicht empfehlen, nicht als Arzt – und nicht in ein deutsches Parlament.

(Uwe Leichsenring, NPD: Das ist eine Frechheit, ihm die ärztliche Qualifikation abzusprechen!)

Nur, lieber Kollege Martens – jetzt einmal ganz ernst: Natürlich, angesichts der Erfahrungen aus der deutschen Geschichte gibt es leider überhaupt keinen Grund, daran

zu zweifeln, dass die Neonazis ihren Worten Taten folgen lassen würden, wenn wir es denn zuließen – und das werden wir zu verhindern wissen.

(Beifall bei der SPD, der CDU, der PDS, der FDP und den GRÜNEN)

Das ist auch der Grund, warum ich jetzt auf die Große Anfrage der NPD eingehe, denn es stehen darin einige schwerwiegende Irreführungen, die nicht unwidersprochen bleiben dürfen. Eigentlich hatte ich mir ja mal vor langer Zeit vorgenommen, auf offenkundigen Blödsinn nicht mehr argumentativ zu reagieren – dafür ist mir einfach meine Zeit zu schade –, aber hier muss argumentiert werden. Ich bin in diesem Zusammenhang auch Ihnen, Herr Staatsminister Winkler, für Ihre klaren und sachlichen Antworten auf das, was Ihnen da an Fragen zugemutet wurde, dankbar. Sie haben damit einen Dienst an der Demokratie geleistet, das ist meine feste Überzeugung.

Meine Dame, meine Herren von der NPD – ich wende mich jetzt direkt an Sie –: Es ist infam, wenn Sie in der Begründung Ihrer Vorlage davon fabulieren, die Koalitionsregierung würde den innerdeutschen Integrationsprozess mit völliger Nichtachtung strafen. Zunächst einmal möchte ich Sie darauf aufmerksam machen, dass es die nationalsozialistische Ideologie war, die in die deutsche Katastrophe des vergangenen Jahrhunderts geführt hat.

(Prof. Dr. Peter Porsch, PDS: So ist es!)

Ohne Faschismus, ohne jene nationalistische und rassistische Ideologie, mündend in verbrecherischen Größenwahn, hätte es keinen Krieg gegeben, hätte es keine Vertreibung, keine Besetzung und keine Teilung unseres Landes gegeben.

(Beifall bei der SPD, der PDS, der FDP, den GRÜNEN und des Abg. Thomas Colditz, CDU)

Und auch jene furchtbare Schande ob der im Namen unseres Volkes verübten Untaten wäre uns erspart geblieben. Ohne die furchtbare geschichtliche Zäsur des Zweiten Weltkrieges bräuchten wir heute nicht die Folgen der 40 Jahre währenden Teilung zu überwinden, und Sachsen – da bin ich mir ganz sicher – wäre immer noch eine der wirtschaftlich führenden Regionen in Deutschland und in Europa.

Vor diesem Hintergrund ist es schon ein starkes Stück, wenn ausgerechnet Sie – die geistigen Kinder derjenigen, die unser deutsches Volk ins Verderben geführt haben – die Stirn besitzen, der deutschen Demokratie vorzuwerfen, sie strafe den innerdeutschen Integrationsprozess mit völliger Nichtachtung. Richtig ist vielmehr, dass das demokratische Deutschland in einer historisch einmaligen Anstrengung schon eine weite Wegstrecke hin zur inneren Einheit zurückgelegt hat, dank der Tatkraft der Ostdeutschen und dank der Solidarität – das sollten wir nie vergessen – der Westdeutschen.

(Beifall bei der SPD, der CDU, der FDP, den GRÜNEN und der Staatsregierung)

Richtig ist natürlich auch, dass wir noch nicht am Ziel sind. Die deutsche Geschichte hat zwar bewiesen, dass es möglich ist, ein Land in nur zwölf Jahren völlig zu zerstören – und ganz Europa darüber hinaus –; nennen Sie mir aber bitte weltweit ein Beispiel dafür, dass es in 15 Jahren möglich sein sollte, die inneren und äußeren Schäden von mehr als 50 Jahren Diktatur völlig zu beheben.

Meine Damen und Herren! Wenn wir als CDU/SPDKoalition fest davon überzeugt sind, dass uns auch die restliche Wegstrecke des Wiederaufbaus gelingen wird, dann resultiert dieser Optimismus nicht zuletzt daraus, dass sich dieser Prozess nicht nur auf die Solidarität aller Deutschen, sondern gleichzeitig auch auf das Zusammenwachsen Europas stützt.

Meine Damen und Herren! Das ist kein Widerspruch zwischen der weiteren Vollendung des deutschen Einigungsprozesses und der fortschreitenden europäischen Integration. Dies ist schon äußerlich daran ersichtlich, dass der Aufholprozess Sachsens mit Milliarden Euro sowohl aus Berlin als auch aus Brüssel gefördert wird. Unser Land ist durch die EU-Osterweiterung aus einer Randlage wieder in die Mitte Europas gerückt – dorthin, wo es historisch, geografisch, politisch und mental hingehört. Jeder, der nur ein klein wenig von Wirtschaft versteht, weiß, dass das ein unschätzbarer Standortvorteil ist.

Meine Dame, meine Herren von der NPD! Schauen Sie ab und zu mal auf eine aktuelle Landkarte: Sachsen hat 454 Kilometer Grenze zu Tschechien und 123 Kilometer Grenze zu Polen, aber nur wenige Kilometer zu den alten Bundesländern. Wer vor diesem Hintergrund die besondere Hinwendung zu unseren tschechischen und polnischen Nachbarn zum Anlass für eine dümmliche Generalkritik nimmt, der versteht nichts von Wirtschaft, der denkt derart kleinkariert, national und isolationistisch, dass mir als Vergleichsmöglichkeit eigentlich nur noch die Steinzeitkommunisten Nordkoreas einfallen.

(Beifall bei der SPD, der CDU, der FDP, den GRÜNEN und des Abg. Prof. Dr. Peter Porsch, PDS)

Meine Damen und Herren! Im Zeitalter der Postkutschen war August der Starke zugleich Kurfürst von Sachsen und König von Polen; selbst die NPD kann das nicht leugnen, wie es sich in der vorigen Debatte gezeigt hat. Sein Reich hatte zwei Hauptstädte: Warschau und Dresden. Beide Städte wurden in jener sächsisch-polnischen Ära zu Perlen des Barocks ausgebaut und beide Städte verbrannten im selben großen Weltenbrand – verursacht durch Nationalismus, Rassismus und Größenwahn.

(Zuruf des Abg. Jürgen Gansel, NPD)

Wenn wir nach diesen furchtbaren Erfahrungen heute auf 60 Jahre in Frieden und Wohlstand zurückblicken können, so hat dies maßgeblich mit der Integrationskraft des europäischen Gedankens zu tun. Ja, aus Feinden wurden Freunde – zuerst im Westen und dann endlich auch im Osten. Der Glaube an ein vereintes Europa hat geholfen, waffenstarrende Blöcke aufzulösen. Der europäische Gedanke überwindet Vorurteile und Grenzen,

und wenn es überhaupt etwas dagegen einzuwenden gäbe, so bestünde es darin, dass der europäische Integrationsprozess durchaus hätte 20 Jahre früher kommen können. Dann wäre unserem Kontinent viel erspart geblieben.

Meine Dame und meine Herren von der NPD! Ja, ich kann ihn rational ganz gut nachvollziehen, Ihren wütenden Hass auf Europa. Denn wo das Denken über Ländergrenzen hinweg siegt, wo wir uns unserer Gemeinsamkeiten in Geschichte und Kultur und unserer gemeinsamen Interessen in Gegenwart und Zukunft bewusst werden, da gewinnen Sie mit Ihrer rückwärts gewandten Ideologie keinen Fußbreit Boden mehr. Sie reden von Deutschland und meinen sich selbst. Tolle Patrioten sind Sie! Aber bellen Sie nur weiter – die europäische Karawane zieht weiter, unbeirrt und zukunftssicher.

(Starker Beifall bei der SPD, der CDU, der PDS, der FDP, den GRÜNEN und der Staatsregierung – Jürgen Gansel, NPD: Das lassen Sie mal die Franzosen entscheiden! – Uwe Leichsenring, NPD: Sie sind behandlungs- bedürftig! Sie sind aber gar nicht mehr behandlungsfähig! – Zuruf von der SPD: Dafür hat er lange nachgedacht! – Prof. Dr. Peter Porsch, PDS: Die Karawane zieht weiter …)

Ich habe auf der Rednerliste Herrn Dr. Martens stehen, FDP-Fraktion.

Sehr geehrte Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Zu dieser Großen Anfrage und der Aussprache kommt einem zunächst der Eindruck, dass die Anfrage selber recht unverfänglich daherkommt. Da wird zu einem Brief des nordrhein-westfälischen Ministerpräsidenten gefragt, in dem dieser wiederum Fragen zur Durchsetzbarkeit von Artikel 72 Grundgesetz stellt. In der Großen Anfrage selber wird dann die Frage aufgeworfen, ob nicht Fragen der inneren Einheit größere Beachtung im Koalitionsvertrag hätten finden sollen, und es wird nach verfassungsrechtlichen Implikationen der europäischen Einigung gefragt. Das klingt alles normal, das klingt harmlos. Das ist es aber nicht. Jedenfalls dann nicht, wenn man die Begründung für diese Große Anfrage liest und die Ausführungen der Urheberpartei, der NPD, zur Kenntnis nimmt. Da wird es reichlich wirr, da wird es zunächst befremdlich. Da wird eine angeblich angestrebte Integration Sachsens mit fremden, nichtdeutschen Gebieten gerügt. Was soll denn das jetzt schon wieder sein – diese fremden, nichtdeutschen Gebiete? Sind das diejenigen Gebiete, die Sie als Ostdeutschland bezeichnen und in denen Sie Ihre Publikationen herstellen lassen? Das sind aber dann gleichzeitig wieder die Gebiete, wo die fiesen Lohndrücker herkommen.

Ihnen scheint nicht ganz klar zu sein, was Sie wo verorten wollen, was fremd ist und was nicht deutsch. Aber es klingt erst einmal gut, es macht Stimmung. Die Verlagerung von Aufgaben und Zuständigkeiten im Rahmen der europäischen Verträge mutiert dann bei Ihnen nach

einigen recht wirren Drehungen zum Angriff auf das Prinzip des demokratischen Staates, der demokratischen Legitimation staatlicher Gewalt. Schließlich wird daraus der Angriff auf die Demokratie selbst.

Wie schrecklich diese Bedrohung sein muss, erschließt sich dem Betrachter spätestens, wenn Sie, wohlgemerkt die NPD-Fraktion, das Widerstandsrecht in Artikel 20 Abs. 4 Grundgesetz bemühen. Gegen jeden, der es unternimmt, die freiheitlich-demokratische Grundordnung zu beseitigen, haben alle Deutschen das Recht zum Widerstand, wenn andere Abhilfe nicht möglich ist. Kleiner haben Sie es wohl nicht? Fällt Ihnen gar nicht auf, dass ausgerechnet zum Schutz der von Ihnen ansonsten so verachteten freiheitlich-demokratischen Grundordnung hier jene Prinzipien angerufen werden, die in die Verfassung vor dem Hintergrund der Taten eines Claus Schenk Graf von Stauffenberg hineingekommen sind? Seltsam! Sie schrecken vor nichts zurück.

Die europäische Einigung wird zur Beseitigung der freiheitlich-demokratischen Grundordnung qualifiziert und Sie wähnen hier schwere Verletzungen des Rechts der Deutschen auf eine Wahrnehmung der ureigensten Belange und der elementarsten Daseinsfürsorge für Land und Volk. Ja, ja. Wer den Widerstand gegen diese politischen Machthaber, die das vorhaben, organisiert, wird auch gleich klar. Das soll die NPD-Fraktion sein. Diese Machthaber, die Sie woanders dann als Volksverräter bezeichnen – wie Sie mit denen umzugehen gedenken, können wir uns alle vorstellen. Die Geschichte hat uns das grausam gelehrt.

Ihr Beitrag ist politisch uninteressant und er ist nichts sagend, aber Ihre Anfrage ist in einer anderen Beziehung höchst aufschlussreich. Sie zeigt den Bürgern nämlich anschaulich, wie Extremismus funktioniert, wie er denkt, wie er sich äußert. Bildungspolitik, Föderalismus, europäische Einigung, all dies wird in Einzelaspekten auseinander gerissen, unvollständig und ohne Zusammenhang vermengt. Im Ergebnis kommt dann die Aufdeckung einer finsteren Weltverschwörung, diesmal gegen die freiheitlich-demokratische Grundordnung, als ob Ihnen die am Herzen läge, heraus. Schließlich wird sich gegen die Existenz Deutschlands verschworen, kurzum, die Deutschen schlechthin. Finis Germaniae! Und wer hat es aufgedeckt? Die NPD-Fraktion.

(Prof. Dr. Cornelius Weiss, SPD: Die Lichtgestalten!)

Meine Damen und Herren, in welcher Welt leben Sie?!

(Zuruf von der NPD: Jedenfalls nicht in Ihrer!)

Sie sind doch umfangen von Verschwörungen, von finsteren Mächten, die den Deutschen sowieso seit mindestens 3 000 bis 4 000 Jahren nach dem Leben trachten. Extremisten arbeiten so. Ja, da äußert sich Ihre Wahrnehmungsschwäche. Sie wähnen sich stets von versteckten Gefahren bedroht. Sie müssen deswegen auch in einer Welt voll so grausamer Feinde immer enger zusammenrücken. Sie müssen nichts mehr erklären. Sie müssen nichts mehr beurteilen. Sie werden getrieben von Ihren paranoiden Verschwörungsängsten, wobei Sie die Einzi

gen sind, die dank ihrer genialen Geistesgaben diese finsteren Verschwörungen aufzudecken in der Lage sind.

(Gelächter bei der NPD)

Diese Anfrage zeigt, wie so etwas funktioniert. Sie beschränken sich auf Ihre autistische Vereinsamung des Extremismus.

(Beifall bei der FDP, der PDS, der SPD und den GRÜNEN – Uwe Leichsenring, NPD: Geben Sie doch Ihren Quatsch zu Protokoll!)

Sie leben in einer Welt, in der Sie sich wohl fühlen – vielleicht –, aber die nichts mit dem zu tun hat, was politisch in diesem Land und in Europa insgesamt passiert.

(Beifall bei der FDP, der PDS, der SPD und den GRÜNEN)

Sie wollen darüber gar nicht diskutieren und Sie können es nicht. Extremismus lebt von der Wahrnehmungsverzerrung, die Sie hier präsentieren. Dabei erkennen Sie selbst die bizarrsten Brüche in Ihrer eigenen Argumentation nicht mehr. Sie sind gar nicht mehr in der Lage, die Brüche zu überwinden, die Sie hier aufbauen.

Herr Dr. Martens, gestatten Sie eine Zwischenfrage?

Ich gestatte eine Zwischenfrage.

Herr Dr. Martens, gehe ich recht in der Annahme, dass das die grundlegenden Charakteristika sind, die auch das Handeln von Mitgliedern bestimmter Sekten

(Gelächter bei der NPD)

oder von religiösen Fanatikern im Sinne der Islamisten bestimmen?